
Claudia Gehrke –
Monika Geier –
André Georgi –
Frank Göhre –
James Grady –
Stephen Greenall –

Claudia Gehrke
Lesehighlights zu finden fällt mir schwer. Lese viel und so schnell, dass ich fast genauso schnell vergesse. Ich lese in kurzen Pausen vom Arbeiten, ein paar Seiten treiben hinaus aus dem Stress, ich lese Sonntagnachmittage lang auf dem Sofa und täglich vorm Einschlafen, oft gegen die Vernunft: einmal hineingesogen, höre ich nicht auf, auch wenn ich schlafen müsste und Arbeit wartet. Ich kaufe Bücher aufgrund von Rezensionen, folge den Empfehlungen meiner „Lieblingsbuchhändlerin“ und den tollen Krimi-Tipps von Verlagsautorin Regina Nössler. Die Lesehöhepunkte verschwimmen. Als mitreißend in Erinnerung habe ich aus diesem Jahr Harz von Ane Riel, Tief ins Herz von Sarah Pinborough, Crimson Lake von Candice Fox, Mörderhaus von Vanessa Savage, Tagebuch eines Verschwindens von Camilla Grebe, Something in the Water von Catherine Steadman und Der dunkle Garten von Tana French (Ende Dezember 2018 erschienen, habe es 2019 gelesen). Auch nicht aus diesem Jahr, darf das überhaupt in einem Jahres-Highlight-Rückblick vorkommen?, ist Jenny Erpenbeck, Aller Tage Abend. In einem Bücherregal, das ich auflösen sollte, bin ich darüber gestolpert. Heimsuchung von Erpenbeck hatte ich früher einmal gelesen, ein unvergessenes Buch.
Alle erwähnten Bücher (und die anderen, die mir nicht einfallen) ausführlicher vorzustellen, würde den Rahmen des Beitrags sprengen, im Folgenden kurze Beschreibungen von drei Titeln:

Tana French, Der dunkle Garten, Fischer Scherz, Dezember 2018: Im Garten ein schreckliches Geheimnis aus der Vergangenheit. Der Roman handelt von Außenseitergefühlen zu Zeiten der Pubertät, von Quälereien und den Versuchen, sich zu wehren, von Homophobie – auch das Altern, das Sterben spielen eine Rolle, in teils anrührende Passagen erzählt. Die klassische Krimi-Frage „Wer war es?“ treibt durchs Buch, dem Ich-Erzähler folgte ich atemlos in immer neue Zweifel, auch Zweifel an sich selbst. Erzählt mit bilderreichen Details. Das Wetter, die Natur, Geräusche, Gerüche kommen beim Lesen nah.

Catherine Steadman, Something in the Water, Piper 2019: Ein „normales“ junges Liebespaar. Es drohen Geld-Probleme, das Hochzeitsfest wird weniger luxuriös gestaltet als geplant, die Hochzeitsreise verkürzt. Auf der Reise finden sie etwas im Wasser (was in etwa, ist auf der Rückklappe abgebildet) und geraten beide in den „Sog des Verbrechens“. Gleich auf den ersten Seiten des Buchs ist zu lesen: es wird schrecklich enden. Erzählt aus Ich-Perspektive, wie mündlich, aus Sicht der Frau, mit persönlicher Ansprache: „Haben Sie sich jemals gefragt …“ (dieser Stil störte mich anfangs sehr, aber ich konnte es trotzdem nicht weglegen). Wie sie nach und nach der Verführung des Gefundenen erliegt, wie sie nicht anders kann, als Dinge vor ihrem Mann zu verheimlichen (dabei oft denkt, wenn der richtige Zeitpunkt kommt – aber es ist nie „richtig“ –, werde ich es ihm sagen), wie sie einen Schritt nach dem anderen in Richtung Illegalität macht, das ist fein erzählt und hochspannend, bis zum schrecklichen Schluss. Der echte „Großverbrecher“ aus dem Gefängnis, den sie als Dokumentarfilmerin interviewt, der wird einem im Verlauf der Geschichte recht sympathisch.

Jenny Erpenbeck, Aller Tage Abend, Penguin, 2017: Die Hauptfigur stirbt in jedem Kapitel aufs Neue. Als Baby, als junge Frau, als ältere, jedes Kapitel erzählt das je vorige weiter, nur das, was zum Tod geführt hat, ist nicht passiert. Die Geschichte des letzten Jahrhunderts wird auf ungewöhnliche und intensive Weise nahegebracht. Zum Beispiel ließ sich beim Lesen in einem Kapitel nachempfinden, wie wahnsinnig es wäre, in einem Spitzelstaat, in Stalins System zu leben. Ich verstand nichts, dachte, ich gebe auf, lese ich das Buch nicht weiter, es ist zu wirr: wer was warum sagt, unbegreiflich, was passiert – doch ich war zugleich gefangen: denn vielleicht ist es genau so, in einem solchen Staat leben zu müssen. Man begreift nicht, was passiert, warum es ausreicht, in einer Gruppe mit dem oder jenem gesehen worden zu sein, um selbst in tödliche Schwierigkeiten zu geraten (obwohl sie das System nicht abgelehnt hat), man versteht nicht, wer was warum sagt, bzw. entwickelt eine Geheimsprache gegen diese Willkür, weiß trotzdem nie, ob sie von den Richtigen gehört wird. Es ist grausam und surreal.
Neben der „großen“ Geschichte eines oder vieler Leben gibt es kleine Spuren durchs ganze Buch, zum Beispiel ein Tagebuch, das in einem Wald liegengeblieben ist, ein anderes Buch, das immer wieder einmal auftaucht.
Apropos Tagebuch: Ob ich die für 2021 angekündigten Tagebücher von Patricia Highsmith je lesen werde, weiß ich nicht, ich vermute nein. Interessant der Text zu Ripley und Patricia Highsmith, den Thomas Wörtche für Culturmag aus seinem Archiv gezaubert hat!
Tagebücher erzählen Zeitgeschichte aus subjektiven Perspektiven und deswegen macht es Sinn, sie zu lesen, auch wenn sie nicht den Sog von Romanen entwickeln. Spannend für Wissenschaftler*innen und Autor*innen, die daraus Romane machen. (Es gibt ein Tagebucharchiv, in dem Tagebücher „normaler“ Menschen landen, die Tagebücher von Literatinnen und Literaten kommen vor allem nach Marbach.)
Im Moment aber lese auch ich tatsächlich Tagebücher. Sie betreffen mich persönlich und darum entwickeln sie einen großen Sog. Es sind „Bewältigungstagebücher“ meiner Schwester, zwischen 1970 und 2018 in unregelmäßigen Zeitabständen verfasst. Träume, Probleme, etwas Alltag. Es beginnt in der politisch aufgeheizten Zeit in Frankfurt/M, in die wir als Schülerinnen stolperten, gegen „Kapitalismus“ kämpfend; sie machte politisches Straßentheater. „Schießerei in der Jügelstraße“ kommt als Anlass eines Traums vor. Hat also auch Krimiaspekte.

Ein besonderes Highlight, bzw. eine große Freude ist für die Verlegerin 2019, dass der aktuelle Roman Die Putzhilfe von Regina Nössler, die seit Jahren in regelmäßigen Abständen „unbeirrbar“ Romane schreibt, auf der Krimibestenliste im Dezember ist! – Und den Deutschen Krimipreis mitgewonnen hat, d. Red.
Claudia Gehrke führt den kleinen, feinen Konkursbuchverlag. Themenschwerpunkte sind Frauen, Erotik und Kunst.

Monika Geier: Zugspitze
Mein letztes Jahr lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Ich war auf der Zugspitze.
Das ist deshalb so bemerkenswert, weil das einer der vielen Orte ist, an die ich niemals gekommen wäre, wenn mein Leben so verlaufen wäre, wie ich es – naja, geplant ist der falsche Ausdruck, gewollt vielleicht auch, sagen wir: wie ich es mir bewusst eingerichtet hatte. Jetzt ist vieles anders abgelaufen, ob das besser war weiß ich nicht, aber ich war echt auf der Zugspitze. Es ist nicht unmöglich, dort hochzukommen, nicht mal schwierig, es gibt ja die Seilbahnen, nicht wahr, aber trotzdem ist es eben ein Unterschied, ob man es macht oder nicht. Früher hätte ich es nicht gemacht. Da hätte ich mir nie die Freiheit nehmen können, meine Kinder in das alte Auto zu packen und sie mit ihrer gnädigen Duldung ins Gebirge zu karren, um auf den höchsten Berg – gefühlt – der Welt zu, naja, ehrlich gesagt, zu fahren. Egal. Wir waren da. Wurden strahlend empfangen, hatten das beste Wetter, kein Wunder allerdings, denn dort oben soll der Geist eines Geiers wachen.
Warum ich das an dieser Stelle schreibe: Weil ich mich oft frage, ob ich mit meinen familiären Verwerfungen Glück oder Pech hatte. Es hat sich wie schreckliches Pech angefühlt, aber auf den Fotos sieht es wie Glück aus. Ich bin viel, viel weiter gekommen als ich geplant hatte. Auf den höchsten Berg. Und ich mag zwar diese blöden Typen nicht, die so Lebenslisten haben und abhaken, was sie noch alles sehen und „mitnehmen“ müssen, aber es ist schon toll, mal über die Welt gucken zu können. Vielleicht hatten wir doch einfach Glück. Denn wir wissen jetzt, wie weit es dort draußen ist.
Von Monika Geier erschien zuletzt Alles so hell da vorn. Eine Anmerkung zu KrimisMachen 4 von ihr hier.
Weitere Texte bei uns.

André Georgi: Auf den Brettern, die die Welt bedeuten
2019 ist mir die beste aller Welten, die unsrige, irgendwie abhanden gekommen. Friedrich Rückert reverse also und noch nicht ausgemahlert – eigentlich optimaler Kunstdünger für den großen Gegenwartsroman; existenzmäßig leider doch schwierig.
Ein Jahr, das 2015 (F-Krise) und vor allem 2017 (T-Krise) immer noch nicht verdaut hat. In den wesentlichen Stationen (zeitlich überlappend und mit den traumaüblichen Flashbacks) war 2019 ein Overdub von 2017 und 2018: Schockstarre, dann Wut, dann Paralyse, dann Abwarten, bis die Weltgeschichte die Fäden endlich da wieder aufnimmt, bevor die ganze Scheiße los ging.
Nun gut, ich hab ein paar Jahre der allerschönsten Lesezeit in den Ruinen der Kathedralen des 19. Jahrhunderts (vor allem am Altar des Georg Wilhelm Friedrich H.) nach Goldstaub gegraben und den Gedanken, dass eine Position ihr Gegenteil aus sich hervortreibt, und dann schön Synthese bis wieder und so weiter, hab ich dann endlich bei Harald Schmidt und seinen Playmobils auch verstanden (danke!). Dass der Lieberalismus irgendwann schlapp machen und restaurativ irgendwie vernascht würde, war für uns Sat-1er also vorausseh- und erwartbar.
Dass der Weltgeist aber so fett und rachsüchtig ins […] [Wort von der Mainstreammeinungsdiktatur gestrichen] greift und die Gestalt der Negation und des Skeptizismus ausgerechnet in Donald T. inkarnieren würde, war die vierte und wesentlichste narzisstische Kränkung der kommunikativ vernünftigen Menschheit (Kopernikus – Darwin – Freud – Trump), die mich in Runde 9 in Minute 2017 auf die Bretter gezwungen hat, wo ich zwei Jahre später immer noch rumliege. Vor allem auch deshalb, weil ich aus Gründen der Toleranz bis zum lucky punch restaurativer Kräfte immer gegen politische […] [Halbsatz von der Mainstreammeinungsdiktatur gestrichen] und Tätern wie dem Reagan-Attentäter John Hinckley, Jr., absolut dagegen war bin.
Aber was ist denn das jetzt! Ich überrasche mich, dass ich Michelle-Obama-Videos google (à KaraokePool! ) und denke, das ist sie doch, die noch bessere Barack, bitte Michelle, übernimm mal. Es war grad so schön, als wir das lieberale Ende der Geschichte erreicht hatten, ab jetzt bitte Finetuning, evolutionär und bitte wieder Herbie Hancock im Weißen Haus und Basketball. Völlig schockierende monarchistische Bedürfnisse im Geisteshaushalt Georgis, die mir wiederum klar machen, das auch der Lieberalismus (als historisch nicht erste Position) eine mit fossilen Spurenelementen durchsetzte Synthese ist.
Und jetzt also das. Spätherbst und Nebel. Der Weltgeist ist in diesem Jahr einmal mehr entspannt an mir vorbeigezogen, die Antithese hockt mit Jagdkrawatte im Gebüsch und ballert spenglermäßig in der untergehenden Sonne des Abendlandes auf *Rehe*, oder sitzt im Business Kostümchen mit soften Domina-Approach in Reihe eins der Dagegner und prügelt sehr dezisioniert mit der Carl-Schmitt-Keule auf die Schlaffstengel ein, die uns Versailles (vulgo: F-Krise) eingebrockt haben. Ich bin Schnee von vorvorgestern und das höchste, was mich – laut Georg Friedrich Wilhelm H. – erwartet, ist: dass ich mit denen in einer Synthese landen werde, in bed with Gauland Weidel Höcke Kalbitz, holy shit.
Hegel muss Unrecht haben, so bitte nicht. Harald komm zurück und mach, dass die Geschichte nicht all das, was wir sind, dialektisch vermurkst: Ich will zurück zu Fukuyama. Fand den damals zwar […] jetzt aber gut. (Erstens.)
Zweitens. Harter Schwenk ins Ästhetische. Zunächst aber Werbeblock: Prolegomena erkenntnistheoretischer Natur: Das Gefühl ist die bestverbreitete Sache der Welt und nicht der Verstand (Für die Hertha-Fans: Descartes-Anspielung). Was ich fühle, ist richtig, es gibt ja auch keine größere Evidenz, keine schönere und tiefere Wahrheit als das Fürwahrhalten. Mein Schmerz ist mein Schmerz ist mein Schmerz. Und in der sich allmählich öffnenden emotionalen Tautologie: Es geht mir Scheiße, also ist die Welt Scheiße. Gerne auch in Kombination mit statistischen Erwägungen: Mein türkischer Taxifahrer kann immer noch kein Deutsch, also wollen sich die Türken nicht assimilieren (!). Ich denke, also bin ich – ich fühle, also ist es so.
Meine persönliche ästhetische Krise des Jahres 2019 ist die Krise des emotionalen Erzählens, das Credo meiner Generation: Wir haben dramaturgisch alles Mögliche gelernt, um die Zuschauer*innen und Leser*innen zur Identifikation zu zwingen. (note: die Sternchen signalisieren, dass ich mich der neuesten Variante des amerikanischen Kulturimperialismus, der political correctness, beuge. [= so die neueste Variante der stars-and-stripes-Kritik der Gauweidels.]) Man nennt das »aristotelische Dramaturgie«. Wir wissen, wie wir welche Emotionen auslösen können. Und wir lösen sie mit allen Tricks, die wir haben, aus, damit wir das von uns selbst zum Wüten Heulen Mitleiden und Hassen erzogene Publikum nicht verlieren. Wir können die Geschichte von Rotkäppchen und dem Wolf so erzählen, dass das Publikum am Ende froh ist, dass Mama-Wolf den kleinen Wölflein ein bisschen Rotkäppchenfleisch mitbringt, damit sie nicht verhungern müssen – und wir schaffen es, dass das Publikum Mama-Wolf noch in ihrem furchtbaren Dilemma (töte einen Menschen vs. töte deine Kinder) bemitleidet.
Ganz ehrlich: Ich kann es nicht mehr ab. Und zugleich kann ich (wie wir alle) dem nicht entkommen. Wer nicht emotional erzählt, verliert Publikum. In gewisser Weise waren wir zu erfolgreich: Der ganze geniale bullshit des »emotional storytelling« ist aus dem Erzählen von Geschichten in das Erzählen von Nachrichten eingewandert. Seit wir erleben, wie ALLE Fakten den Donalds dieser Welt NICHTS anhaben können, weil ein viel zu großer und zu lauter Teil die gefühlte Wirklichkeit des @theRealDonaldTrump glaubt, stehen wir vor einer wirklich tiefen Krise, in die das Politische das Ästhetische hineintreibt. Zu einer Brecht’schen Dramaturgie, die auf das Verstehen zielt, können wir nicht zurück. Und diese höchst erfolgreiche Aristotelische Dramaturgie, die auf emotionale Überwältigung und Identifikation (zum Zwecke der Katharsis) zielt, zeigt jetzt erst, was sie politisch wirklich bedeutet: die emotionale Verführbarkeit auf jeder Seite. Der »fake«-Anteil in »fake news« ist irgendwie auch unsere Schuld, wir erzählen die Welt und irgendwann erzählt die Welt wie wir, die Antithese ist eine Geburt der These.
Was jetzt? Was tun?
2019 ist mir die Welt abhanden gekommen. Ich hoffe auf 2020.
André Georgi, geboren 1965 in Kopenhagen, ist in Berlin aufgewachsen. Er studierte Philosophie und Germanistik und lebt als Drehbuchautor und Dramaturg in Bielefeld. Von ihm stammen zwanzig Drehbücher zu Fernsehkrimis – darunter für den Tatort, für Bella Block und die Verfilmungen von Kurzgeschichten von Ferdinand von Schirach und Siegfried Lenz. Im August 2019 erschien von ihm Die letzte Terroristin.

Frank Göhre: Mein Jahr
Januar: Hamburger Schauspielhaus. „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ von Edward Albee mit Maria Schrader und Devid Striesow, inszeniert von Karin Beier. Im Programmheft ironische Anmerkungen in Zeiten der Political Correctness
„Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass in dieser Vorstellung exzessiv geraucht wird.“ – „Zwei möglicherweise alkoholkranke Figuren werden von nicht alkoholkranken Darsteller*innen gespielt.“ – „Wir danken für Ihr Verständnis und versichern Ihnen, dass dafür unter keinen Umständen Nackte zu sehen werden.“ – Super!

Februar: Fatih Akin, Der Goldene Handschuh
Mehrheitliche Ablehnung des Kinofilms, Kritik anhand des Trailers und einer Interviewaussagedes Regisseurs, und nur eine klug gedachte und entsprechend formulierte Rezension. Sonja Hartl in CrimeMag März 2019: „Serienmorde sind unerträglich. Sie sind brutal. Ihnen haftet nichts Glamouröses an, sondern sie erfordern auch körperliche Kraft – und endlich zeigt das einmal ein Film, ohne zum Gewaltporno zu verkommen oder von sich zu behaupten, die Realität abzubilden.“
März: Das Klaus Lemke Projekt
Vorschlag an den Münchner Filmemacher Klaus Lemke. Ein Dokumentarfilm:„Stranger in Town. Klaus Lemke – Die Hamburger Jahre eines Rebellen“. Zum 80. Geburtstag des Regisseurs am 13. Oktober 2020. Konzipiert von Frank Göhre, Elmar Podlasly, Borwin Richter und Torsten Stegmann. Lemke gibt telefonisch sein ok: „Ihr könnt über alles frei verfügen, Interviews, Filmszenen, Bildmaterial.“ Er klingt euphorisch. Wir beginnen mit der Arbeit.

1. BILD s/w: Klaus Lemke „Mein schönes kurzes Leben“ (1970), 00:10 – 1:30 Hochhauskomplex. Tunnelfahrt. Kneipe. Vor der Tür. Jugendlicher Darsteller raucht. Klaus Lemke kommt aus der Kneipe.Er beißt in einen Burger.
2. Das BILD friert ein: face Klaus Lemke. SPRECHER: Klaus Lemke, 30 Jahre alt.
3. BILD s/w: Klaus Lemke in Begleitung und allein. Tanzt. Fotos: Mike Jagger. Richard Burton. Mit Brigit Bardot aus „Inside Lemke“, S. 155. John Ford. SPRECHER: Er hat in den vergangenen sieben Jahren 11 mal Regie geführt, 13 mal das Buch geschrieben, 4 mal einen Film geschnitten, 6 mal einen Film produziert und war Darsteller in 12 Filmen. Er hat mit den Rolling Stones geplaudert und mit Richard Burton aus einer Flasche Whisky getrunken, er saß mit Birgitte Bardot am Pokertisch und stand am Hotelbett des todkranken John Ford. Er hat einen „Bambi“ entgegengenommenund in Venedig den „Silbernen Löwen“.
April: „Auch Leben ist eine Kunst – Der Fall Max Emden“
Ein Dokumentarfilm von Eva Gerberding und André Schäfer. Max Emden, geb. 1874, stammte aus einer assimilierten bürgerlichen jüdischen deutschen Familie, war Mäzen der Hamburger Kunsthalle und der Uni, begründete den Polo-Club und besaß das Gelände des heutigen Botanischen Gartens. 1927 verließ er seineHeimatstadt Hamburg und lebte als alternativer Freigeist am Lago Maggiore, blieb aber als Kaufhausgründer (KDW Berlin, Oberpolliger, München und diverse Filialen) geschäftlich aktiv. Die Nazis enteigneten seinen gesamten Besitz. Er wurde zerschlagen und übertragen. Der Hansestadt Hamburg „gehört“ seitdem der Polo-Club und ein Landschaftspark. Entschädigt wurde Max Emdens Familie bis heute nicht. – Eine Doku plus Diskussion, an der von behördlicher Seite niemand teilnahm.

Mai: Haiti
Meine Lektüre Nummer 1 des ersten Halbjahrs: Gary Victor: Im Namen des Katers. Der nun schon seit drei Büchern bekannte Inspektor als Verkörperung Haitis. Verrottend und innerlich zerrissen, vom Schnaps gezeichnet und von Voodoo Kulten umwabert, unerbittlich gegen sich und seine Gegner.
Danach Hubert Fichte, knapp fünf Jahrzehnte zuvor: Haiti. Tagebuch einer Reise. NDR Feature, 5. September 1973, und „Gesprochene Architektur der Angst“. WDR Hörspiel, 6. Dezember 1973. (Hubert Fichte, Hörwerke, 1966-1986, Zweitausendeins, 2006). Fichtes Reise nach Haiti fand 1972/73 statt. In den Sechziger Jahren hatte er Interviews mit Prostituierten, Strichern, Luden und dem „Ledermann“ geführt. Deren Praktiken und Ritualen auf der Spur, weckte seine Neugier/Interesse an den Zeremonien der Voodoo-Priester*innen, den karibisch und lateinamerikanischen Kulturen – simpel formuliert. Zwangsläufig dann Peter Braun neu gelesen: Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte (Fischer TB).
Juni: Ein langes Wochenende in Stockholm
Einige Stationen auf den Spuren von Sjöwall/Wahlöö aufgesucht. Atmosphären. Erstaunlich, wie vieles noch wie damals ist. Auch die nochmalige Lektüre ist (fast) wie neu.
Juli: „Sympathisanten – Unser Deutscher Herbst„
Eine Arte-Dokumentation von Felix Moeller, Sohn der Margarethe von Trotta und Stiefkind von Volker Schlöndorf. Reißt viele Aspekte der RAF-Zeit an und kriegt keine überzeugende Struktur in seinen Film. Es ist offenbar auch nicht immer von Vorteil,wenn Töchter/Söhne ihre Eltern befragen.
August: Quentin Tarantino, “Once Upon A Time… In Hollywood“
Ein liebevoller Abgesang auf das „alte Hollywood“ und das wundersame (Film–) Überleben der Sharon Tate, während die Manson-Monster von Brad Pitt und Leonardo DiCaprio vernichtet werden. Hat mir sehr gut gefallen.

September: Peter Rühmkorf
Eine Ausstellung im Altonaer Museum mit Fotos, Filmen, Manuskripten und Objekten zu seinem 90. Geburtstag: „Lass Leuchten!“ Meine Lieblingszeile von Rühmkorf, mein persönliches Lebensmotto: “Bleib erschütterbar und widersteh.“
Oktober: Das Klaus Lemke Projekt.
Lieber Klaus,
Ich schreibe Dir hier persönlich, aber im Namen aller an dem Projekt „Klaus Lemke, die Hamburg Filme“ Beteiligten.
Du hast mir zur Realisation unserer Idee das OK gegeben, mit einer gewissen Begeisterung, wie ich herauszuhören glaubte, in Bezug auf die Rechte: „Du kannst alles haben, einzige Bedingung, die Musiktitel müssen bleiben“. Das konnte ich Dir unter dem Vorbehalt einer vorherigen Prüfung zusichern. Aber soweit war es noch nicht.
Stickel, Borwin, Elmar und ich haben erst einmal sämtliche verfügbaren Interviews und Portraits gesichtet und den Inhalt in Stichworten notiert. Alle Hamburg-Filme neu gesehen und einzelne Szenen markiert. Hamburg Atmosphären recherchiert und entsprechende DVD ́s gekauft. Danach habe ich eine Ablauf-Skizze geschrieben, letzte Fassung habe ich Dir geschickt. Elmar hat einen ersten 10 Minuten-Rohschnitt gemacht, Kopie hat er Dir jetzt gesendet.
Kurz: Wir haben eine Menge Zeit und vor allem Energie investiert. Weil wir sozusagen Dir zu Ehren einen kleinen Beitrag zu Deinem Achtzigsten leisten wollten. Vorerst auf eigene Kosten und mit dem Risiko, dass auch später nichts an Geldern fließt.
Über den Stand habe ich Dich im August informiert. Und dazu sagst Du jetzt: „No – ich mache es selbst.“
Ich habe nicht nachgefragt, was Du nun selbst machen möchtest und für wen. Mir hat ́s da erst einmal nur die Sprache verschlagen, und danach war ich verärgert und stinksauer. Du machst eine Zusage und ziehst sie dann ohne irgendeine Begründung zurück, weil Du einen (offenbar zahlenden) Interessenten/Sender für ein was auch immer eigenes Projekt gefunden hast.
Die Entscheidung ist natürlich allein Deine Sache. Aber die Art und Weise, wie Du dabei mit uns und unserer Arbeit umgehst, uns hängenlässt, hätte ich bei Dir nie für möglich gehalten und finde es schlichtweg nur scheiße. Das muss ich Dir als Kollege und Freund sagen
November: Garbarek & Gurtu in der Elbphilharmonie
Jan Garbarek, 72, Alt- und Tenorsaxophon, Flöte; Rainer Brüninghaus, 70, Keyboard; Yuri Daniel, 53, brasilianischer E-Bassist und Trilok Gurtu, 68, indischer Percussionist auf einem musikalischen Tripp durch Einöden, Täler- und Bergwelten, Flüsse und Meere.
Dezember: Drei Engel für Deutschland
Anne am Sonntag: „Frau Kipping, tatsächlich ist es nicht Ihre Sendung. Deshalb habe ich hier überall meinen Namen hingeschrieben. Meinen. Und deshalb …“ Sandra am Mittwoch: „Arbeitet die neue Parteispitze jetzt auf den Ausstieg hin, weil Saskia Esken das ja auch gesagt hat? – Der Juso Vorsitzende: „Was genau hat Saskia Esken gesagt?“ – „Sie hat gesagt, dass der … die … die Koalition ist … äh, eine … eine, eine … funktioniert nicht. Wir werden … äh, ich werde der Partei empfehlen, die Koalition zu verlassen, wenn wir den Koalitionsvertrag nicht nachverhandeln können.“Maybritt am Donnerstag: „Am Nikolaus ist GroKo aus. Darauf hatten sich nicht wenige gefreut, vor allem in der SDP. Das neue SPITZEN-Duo sollte der Kanzlerin die Brocken hinschmeißen, nach dem Motto: Lieber nicht regieren, als FALSCH regieren. Und jetzt?“

Fragen über Fragen. Die 3 Engel werden hochbezahlt auch weiterhin ihr Bestes geben, sie von ihren Gästen beantworten zu lassen.
Die CrimeMag-Beiträge unseres Kolumnisten Frank Göhre finden Sie hier. Im Dezember 2017 war er Herausgeber eines umfangreichen Klassiker CulturMag Special. Zusammen mit Alf Mayer ist er Autor von Cops in the City. Ed McBain und das 87. Polizeirevier sowie 2019 von King of Cool. Die Elmore Leonard Story (beide CulturBooks Verlag). Im März 2020 erscheint bei CulturBooks sein neuer Roman Verdammte Liebe Amsterdam.

James Grady: Our Year of the Beast
2019 is the year crime exploded our imaginations.
A year where „trustable“ newspapers‘ headlines read like mashups of Orwell and YouTube, „Blade Runner“ and „The Godfather“, „Mr. Robot“ and „Condor“, while we all struggle to be more than a data click.
Marvel at this year’s data.
Oil companies helping murder the planet their grandchildren need. Squads of killer cops roaming a country celebrated for sensuous sambas of love. Squads of killer cops roaming a dozen other countries. Bullies (finally) popped like balloons by brave women’s bullets. „Respectable“ banks from Panama to Switzerland to Las Vegas legally sheltering narcos and tax cheats from badges of justice. Mass shootings by machine-gunners of madness. Every day.

Melting, melting like witches hit with water, like the arctic ice of Howard Hawks‚ 1951 „The Thing From Another World“, we’re all melting, yet this year’s hero of our fight for global survival was a teenage refugee from a Disney movie.
Streams of surreal blowing in the winds of government corruption and clashes of cash clans as secret agents steal elections and seduce citizens with Facebook posts and tweets.
New roles for cultural icons emerged this year. Suspicious billionaires became cool. Peace heroes linked to genocide. The Heads Of The (legendary) Free World took over noir movie roles as psycho mobsters.
We don’t have to talk about this year’s ordinary serial murderers, rapists, thieves and scoundrels who steal from the poor to stay rich.
Or that stray bullet with your brains on it.
All while, like in a Bond, James Bond movie, sitting at this year’s power table sits a Russian flexing his fingers with a cold smile.
Into 2019’s restaurant often strolled an atom bomb packing Korean Supreme Leader or China’s suits & ties crew who insist. Came, too, a handful of smart men and women leaders, but they were barely heard above the café’s clatter and roar.
And always, always there are the Americans: Who are they now?
2019 was the year crime won and won again, William Butler Yeats’s rough, spread-wide bear paws beast roaring: „Now is my hour!“
Could you have imagined all that we’ve just seen?
It’s hard to write crime fiction when crime is so real.
We yearn for the rise of redemption. For time to write a hero true.
Maybe to get to then, we have to go through now.
Like a train whistling through the darkness.
James Grady’s first novel Six Days Of The Condor became the iconic Robert Redford movie „Three Days Of the Condor“ and inspired the Soviet Union’s KGB espionage octopus to create a secret 2,000 man spy agency to mimic what Condor did, complete with a phony cover name on a brass plaque at the front door of the spy group’s Moscow headquarters. Grady’s gone on to write more than dozen crime, espionage and thriller novels, three times that many short stories, and work as a muckraking investigative reporter in Washington, D.C. after Watergate.
James Grady in Deutschland: Die letzten Tage des Condor. Bei CrimeMag hier: Interview mit Sonja Hartl: „Eigentlich war Condor niemals weg“
Anne Kuhlmeyer: Ver-rückt? Eine Frage der Perspektive.
Alf Mayer: Notizen vom täglichen Wahnsinn.

Stephen Greenall
The book that floored me in 2019 was Sarah Krasnostein’s The Trauma Cleaner: One Woman’s Extraordinary Life in Death, Decay & Disaster. I had avoided it on the assumption it couldn’t live up the significant hype it generated upon release, but more fool me. An exceptional collision of (gifted) writer and (spectacular) subject.

Further from home, books about Spain kept tumbling my way in a manner that suggested resistance was futile (when life hands you lemons, make limonada). I was shamefully ignorant of Laurie Lee’s lyrical landmarks, As I Walked Out One Midsummer Morning (1969) and A Moment of War (1991), and sped through these romances of the Iberian forest like an inebriated glutton. A rather different experience was Cees Nooteboom’s Roads to Santiago (1992), a dazzling find that is far too rich to devour in anything like a single go. Every page delivers enviable proof that here is a writer’s writer, and a pilgrim’s pilgrim.
In terms of cinema, Pawlikowski’s „Cold War“ was immaculate – one of those very rare films you want desperately to live inside of, if only you had (a) the option and (b) the courage.
A Tasmanian citizen honoris causa, Stephen Greenall is a world traveller. His manuscript of Winter Traffic – nominated in 2014 for the Victorian Premier’s Literary Award – was published in 2017 by Text in Melbourne, in Germany it will appear at Suhrkamp. It literally blew CrimeMag editors Thomas Wörtche and Alf Mayer away. This innovative and literary crime novel from the true Heir to Peter Temple starts like this: „When it was over, Sharky lay dead and Bison was convulsing on the rug like something beached or epileptic. Sutton was upright but he was breathing like sex, letting adrenaline drain as he had long ago been taught. Bison died and Sutton’s breathing went back to normal …“