Geschrieben am 11. Januar 2012 von für Litmag, Sachen machen

Sachen machen: Fußballgucken

Forza!

Wenn ich Fußballfan wäre, dann wäre ich Fan des magischen FC St. Pauli. Was denn sonst. Tatsächlich bin ich kein Fußballfan, aber ich wollte schon immer mal gern ins Stadion. Alle Dauerkartenbesitzer in meinem Freundeskreis wissen das, und so fragt Steffen eines nachmittags überraschend, ob ich abends mitwill ins Millerntorstadion. Ich sage natürlich spontan zu, erst dann fällt mir auf, dass es draußen saumäßig kalt ist. Es ist der 19. Dezember 2011, St. Pauli spielt gegen Eintracht Frankfurt. Spitzenspiel der 2. Bundesliga, die Eintracht ist auf dem zweiten Tabellenplatz, St. Pauli auf dem vierten. Um an der Eintracht vorbeizuziehen, müssten wir (ich sag jetzt mal „wir“) fünf zu null spielen.

Übrigens war ich schon mal im Stadion, ein einziges Mal. Das war 1991 in Tokyo – das Goetheinstitut hatte ein paar Tickets für deutsche Fans übrig, die wir Studenten kostenlos bekommen konnten. Es ging um den Coca-Cola-Worldcup, und es spielte das Yomiuri-Team gegen – tatsächlich: Eintracht Frankfurt. Von einem Stadionbesuch hatte ich damals das erwartet, was man von einem Stadionbesuch eben erwartet, und bekam das Gegenteil: keine grölenden Kerle, sondern kichernde und kreischende Mädchen in Schuluniformen, die artig auf ihren nummerierten Sitzplätzen saßen, ihre Bento-Boxen auspackten und beim Anblick der Lieblingsspieler fast in Ohnmacht fielen. Die wenigen Deutschen im Publikum saßen nicht etwa beieinander, sondern überall in dem großen Stadion verteilt, sodass nicht das kleinste Bisschen Fanstimmung aufkam. Noch dazu saßen wir ziemlich weit vorne unten, hinter einem Netz, durch das man kaum in die Tiefe gucken konnte, also schauten wir uns das Spiel vor allem auf der großen Leinwand über dem Spielfeld an. Eintracht Frankfurt hat damals ziemlich hoch gewonnen, als Stadionerlebnis war es eher enttäuschend.

Jetzt also wieder Eintracht Frankfurt (was interessiert mich Eintracht Frankfurt?), bei Eiseskälte im Dezember am Millerntor. Letztes Jahr um diese Zeit habe ich den Sportbootführerschein gemacht und mir für die Prüfung die wärmste lange Unterhose von ganz Hamburg gekauft (jedenfalls bestimmt die teuerste), die ziehe ich an, dazu Jeans, einen dünnen Pullover und darüber einen dicken, die dicke Jacke, meine Seenotretter-Mütze, Schal, Handschuhe, eigentlich ziehe ich ungefähr alles an, was ich habe. Wir sind um halb sieben im Stadion, das Spiel geht erst um Viertel nach acht los. Alkohol gibt es keinen, aus Sicherheitsgründen, aber einen alkoholfreien Glühwein! Hurra! Schmeckt nach Kirschsaft mit ein bisschen Chemie drin. Macht nichts, Hauptsache, warm.

Steffen sagt, wenn ich vorhätte, in den nächsten drei Stunden aufs Klo zu müssen, dann solle ich das am besten jetzt tun. Denn während des Spiels will man das nicht, weil man dann garantiert ein Tor verpasst, und in der Halbzeitpause gehen alle. Damenklos sind rar gesät, es sind auch nicht viele Frauen da. Ich muss jetzt aber gerade nicht. Ich beschließe, dass ein heißer Kirschsaft auch reicht, der muss mich jetzt halt dreieinhalb Stunden warmhalten. Ich bin froh, dass ich so viel anhabe, aber zur Toilette will ich damit nicht.

Als ich mich eben frage, ob es nicht vielleicht eine Schnapsidee war, bei der Kälte stundenlang draußen herumzustehen, grölt es aus dem Eintracht-Fanblock: Scheiß St. Pauli, scheiß St. Pauli! Och, denke ich, das ist jetzt aber voll nicht nett! Das Spiel hat doch noch nicht mal angefangen. Und dann passiert das Unfassbare: Die Paulifans reagieren erst mit schallendem Gelächter, dann rufen sie ein paarmal zurück: Scheiß St. Pauli, scheiß St. Pauli! und lachen weiter.

Alles klar, Jungs, Ihr habt mich. Die Frankfurter verstummen postwendend, und ich bin den Hamburgern erlegen.

Nur dem Herrn vor mir nicht.

Wir waren so früh da, um gute Plätze zu bekommen, Stehplätze, ungefähr in der Mitte der Gegengeraden, aber das heißt natürlich nicht, dass alle anderen, die später kommen, sich nicht um einen herumdrängen. Ist ja auch völlig in Ordnung, es sind halt viele Leute da. Nur stehe ich schon fast schief, so kann man eigentlich gar nicht stehen, aber von hinten drückt einer, ein anderer von rechts, und einer von schräg vorne. Der schräg vorne ist ein älterer Herr, der sich jetzt zu mir umdreht und mich anpampt, ich bräuchte gar nicht so zu drängeln. Ähm, sage ich, ich werde auch von der anderen Seite geschoben, ich habe hier überhaupt keinen Platz. Im Gegensatz zu ihm übrigens, offenbar hat er Angst, eine Stufe runterzufallen, denn nach vorne hin hat er durchaus Luft. Er will aber nach hinten, da stehe ich, und ich kann nicht weiter zurück. „Böser Alter Mann“, denke ich. BAM.

Die Spieler machen sich warm, und mir wird kalt. So langsam kriecht die Kälte durch. Ein paar Fahnen werden geschwenkt, ein endlos langes Transparent wird vor uns durch die Reihen gereicht – ich kann nicht lesen, was draufsteht, niemand hat so richtig Lust, es zur vollen Pracht zu entfalten, scheint’s, aber es wandert fast durch das komplette Stadion.

Das Spiel soll anfangen, mir ist jetzt richtig kalt. Die Mannschaften laufen ein, Musik wird gespielt, alle verfügbaren Fahnen werden geschwenkt, braun-weiß-rot, mit Herzen drauf, mit Totenköpfen und mit dem Hamburgwappen, aus allen Richtungen fliegt auf einmal Konfetti durch die Luft, unglaubliche Mengen von Wunderkerzen funkeln, es wird gejubelt, gehüpft, gejohlt und gesungen, es ist ein großes Fest. Dabei ist noch gar nichts passiert, aber ich bin schon total emotional. Ums Herz wird mir warm, wer hätte das gedacht.

Zum Spielbeginn ist der Konfettiregen vorbei und die Wunderkerzen sind erloschen. Was ich nicht wusste: Es gibt eine Art Cheerleader (der bestimmt nicht so genannt werden möchte, er heißt Capo), der vor der Südtribüne steht, mit dem Rücken zum Spielfeld, und durch ein Megafon vorgibt, was wann gesungen wird. Auf der Südtribüne wird daher dauernd gehüpft und gesungen, der komplette Rest des Stadions fällt mit ein. Wir singen Forza St. Pauli und Aux Armes und alles mögliche, teilweise gibt die Süd etwas vor, was dann reihum durchs ganze Stadion wandert. Nur die Frankfurter, die machen nicht mit. Spielverderber.

Während das Spiel, nun ja, so dahinläuft, bin ich ganz hingerissen von der Atmosphäre, da – WAS WAR DAS DENN?? Das war ja wohl HAAAAAAND! schreie ich, und alle anderen schreien mit, ich mag ja nichts von Fußball verstehen, aber das habe sogar ich gesehen! Das ganze Stadion ist empört, aber der Schiedsrichter hat es offenbar nicht bemerkt. Das Spiel läuft weiter, ich hab glatt einen kleinen Adrenalinstoß bekommen. Schon ist mir nicht mehr so kalt.

Die erste Halbzeit läuft, soweit ich das beurteilen kann, einigermaßen ausgewogen. Einmal wird ein Frankfurter eingewechselt, und das ganze Stadion buht ihn aus. Was ist denn jetzt los, frage ich Steffen, der arme Mann hat doch noch gar nichts gemacht, wieso schimpfen die so? Doch, sagt Steffen, er hat schon was gemacht. Er hat mal zwei Tore gegen uns geschossen. So was vergisst ein Fan nicht. Außer, wir kaufen den Spieler, dann ist er natürlich einer von den Guten.

Nach einer halben Stunde schießt jemand eine Ecke, ich sehe nur ein Kuddelmuddel vor dem Frankfurter … Toooor! Tor, Tor, Toooor für St. Pauli! Alle springen herum, ich springe mit, Konfetti, Gesang, es ist großartig. Und wieder ein bisschen wärmer. Ansonsten versuche ich die ganze Zeit, meine Zehen in den Schuhen zu bewegen, damit sie mir nicht abfrieren.

In der Halbzeitpause ziehe ich meine Handschuhe aus und stelle fest, dass mein einer Finger zur Hälfte fast weiß ist. Leicht gelblich. Gruselige Farbe. Alle anderen Finger sind rotgefroren, der eine weiß. Ich spüre ihn auch kaum noch. In Russland, behauptet Steffen, würde man Leute drauf hinweisen, wenn ihre Nasen so aussehen, denn es deute darauf hin, dass sie bald abfrieren. Yeah, super.

Der BAM raunzt mich an, ich würde ja schon wieder so drängeln. Beim nächsten Mal komme ich ihm zuvor und behaupte als Erste, er würde drängeln. Blödmann.

Was mag in der Pause in den beiden Spieler-Kabinen passiert sein? In der zweiten Halbzeit – und ja, es tut mir jetzt durchaus ein bisschen weh, das so schreiben zu müssen – ist Eintracht Frankfurt eindeutig die bessere Mannschaft. Sie sind dauernd vor unserem Tor, dauernd ist es knapp, dauernd hält Tschauner die Bälle, dauernd hat St. Pauli mehr Glück als Geschick. Beziehungsweise einen guten Torwart. Ansonsten geht kein Pass mehr dahin, wo er hinsoll, kaum etwas spielt sich mal vor dem Frankfurter Tor ab. Mannmannmann. Der BAM beschimpft einen Frankfurter Spieler als „Arschloch“, dabei spielt der doch nur Fußball, und ich denke: Was bist Du für ein armes Würstchen, du Böser Alter Mann. Mir ist kalt, kann man die zweite Halbzeit nicht einfach ein bisschen verkürzen? St. Pauli führt eins zu null, ist doch gut, das könnten wir doch einfach so lassen. Bei der Kälte.

Da plötzlich geht ein Ball doch mal in die richtige Richtung, ein Spieler prescht vor, nein, zwei, Richtung Frankfurter Tor, in einem Affentempo, kein Abseits, sie rennen und rennen und zack: TOOOOOOOR, TOOOOOOOR, TOOOOOOOR! Ist das denn zu fassen, was war das denn, war das wirklich ein Tor? Um mich herum flippt alles komplett aus, Konfetti, Gesang, das volle Programm, wildfremde Menschen fallen sich um den Hals, Steffen drückt mir einen Schmatzer auf die Wange, ich hüpfe mit herum, alles strahlt und tanzt und singt, was! für! ein! Fest! Und was für ein sensationelles Tor! Und so kalt ist es nun auch wieder nicht. Hach. Hach! Wie toll! Zwei zu null! Was für ein geiles Tor!

Die Euphorie hält an bis zum Ende des Spiels. Der Spielstand auch. Ebenso wie die schwache Leistung der St. Paulianer in der zweiten Halbzeit. Fast tun mir die Frankfurter leid, sie waren eindeutig die stärkere Mannschaft in der zweiten Halbzeit, aber nun ja: Gewinnen tut, wer die Tore schießt. Nämlich der FC St. Pauli! Forza und hurra! Beim allgemeinen Rumspringen nach dem zweiten Tor hat sich auch die Verteilung der Stehplätze ein bisschen neu zurechtgeruckelt, der BAM steht nicht mehr direkt vor mir, ich habe ein bisschen mehr Platz und werde für den Rest des Spiels nicht mehr beschimpft.

Als wir nach dem Spiel rausgehen, kommen wir an ein paar Frankfurter Fanbussen vorbei. Einer sagt dort gerade, was für eine unfassbar beschissene Stimmung doch im Stadion gewesen sei. Er muss in einem anderen Stadion gewesen sein als ich. Ich hatte drei Stunden supergute Laune um mich herum. Viel Testosteron und Adrenalin in der Luft, und zwar auf die gute Weise, großer Spaß, viel Gesang und Konfetti. Und mein Finger hat auch wieder seine normale Farbe angenommen.

Am Ende ist St. Pauli einen Tabellenplatz aufgerückt und liegt damit immer noch hinter der Eintracht. Und ich drücke die Daumen für den Aufstieg jetzt noch ein bisschen fester.

Isabel Bogdan

Isabel Bogdan übersetzt seit 10 Jahren Literatur aus dem Englischen (u. a. Jonathan Safran Foer, Miranda July, ZZ Packer, Tamar Yellin, Andrew Taylor). Sie lebt und arbeitet in Hamburg. Zum Blog von Isabel Bogdan. „Sachen machen“ erscheint im August 2012 als Buch im Rowohlt Verlag.

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