Geschrieben am 3. Oktober 2016 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Kunst: Mit Hieronymus Bosch durchs Jahr 2016. Diesmal: „Garten der Lüste“. Rechte Tafel, Vordergrund: Ausschnitte

Bosch_logo2016 ist das 500. Todesjahr von Jheronimus van Aken alias Hieronymus Bosch. Die Niederlande ehren den Maler mit einer großen Ausstellung und anderen, vielfältigen Aktivitäten. Boschs Werk war und ist Gegenstand der unterschiedlichsten Auslegungen und Interpretationen, die versuchen, seine phantastischen, bizarren und oft schlicht rätselhaften Gestalten, Pflanzen, seine Mischwesen und seine offensichtlich mehrfach codierten Bilderwelten sinnhaft zu entschlüsseln. Surreale, absurde, grausame und komische Bildwelten, die sich tief ins kollektive Gedächtnis gegraben haben, egal, ob man seinen Intentionen gerecht wird oder nicht. Denn Selbsterklärungen oder Aussagen zu seinen Werken gibt es nicht. Nur deren Faszinosum und deren Wirkmächtigkeit. Deswegen haben wir Ulrich Fritsche gebeten, jeden Monat in diesem Jahr ein Bild oder einem Bildausschnitt zu beschreiben und zu erläutern. Zu Folge 1, zu Folge 2, zuFolge 3, zu Folge 4, zu Folge 5, zu Folge 6, zu Folge 7.

Verborgener Sinn im Werk des Jheronimus Bosch (Folge 8)

Diesmal: „Garten der Lüste“. Rechte Tafel, Vordergrund: Ausschnitte

bosch_8_1

Bild 20: „Der Garten der Lüste”, Mitteltafel, Vordergrund: Höllische Musik Bildnachweis: © Wikimedia Commons (public domain)

von Ulrich Fritsche

Im Mittelalter stellte man sich selig musizierende Engel im Himmel und fürchterlich lärmende Teufel in der Hölle vor. Die Menschen auf Erden sah man in Gefahr, durch schlechte Musik zum Sündigen verführt zu werden, besonders zur Wollust. Ichsüchtiges Streben nach Lust lenkt von Gott ab. Disharmonie ist der entscheidende Grund für das Elend hier. Den Menschen fehlt Gemeinschaftssinn, die Teufel sind hässlich zusammengestückt.

Laute und Harfe: Resignation und Sehnsucht

Die Laute ähnelt einer halben Feige, allerdings ohne die roten Kerne. Ein Sünder verkürzt die Saiten mit rückwärts gestreckten Armen, völlig unkontrolliert. Wer mit anderen Menschen nichts zu tun haben will, bleibt ohne „Frucht“. Resignierend lässt er den Kopf hängen, bedroht von einem zweibeinigen, aber schlangenähnlichen Reptil, das ihn lose an das Instrument fesselt. Ein Teufel, dessen Scheibenhut auf Geistlosigkeit schließen lässt, will ihn am Bein herabziehen. Zahlreiche Menschen sind mit diesem Sünder konfrontiert. Die hinteren haben stumpfe Gesichter, doch versucht einer vorn, Sichtkontakt herzustellen. Ein mitleidiges Wort könnte dem Gefesselten helfen, seine Lage zu erkennen.

Vom Schallloch der Laute steht eine Harfe gotischen Typs schräg ab, was zunehmende Entfremdung veranschaulicht. Auch der Harfenumriss strebt auseinander. Die Saiten durchziehen den Harfenspieler, schwingen in ihm selber. Von außen hinein greifend, will er mit gespreizten Armen Entferntes zusammenbringen, die Füße sind ohne Saitenkontakt. Eine Schlange windet sich am linken Harfenbalken abwärts und beißt den Sünder ins Geschlecht, was Wollust symbolisiert. Der dem weltlichen Adelsstand entsprechende Lautenist wird also geistig bedroht, der dem geistlichen Stand entsprechende Harfenist körperlich. Die Haltung der beiden erinnert an die Männer, welche neben Christus gekreuzigt wurden: Resignation und Sehnsucht verursachen gleichermaßen Höllenqualen. Ersteres bezieht sich auf die „Frucht“ des Lebens, letzteres auf neues Leben: Wiedergeburt. Aus Sehnsucht mag Erkenntnis und daraus Hoffnung keimen.

Der Chor: Verführung zur Disharmonie

Der Laute liegt ein Notenbuch zugrunde: Musik eigentlich himmlischen Ursprungs wurde zu Irdischem degradiert. Genaue Analyse dieser Noten zeigt: Hier kommt es gleichsam zum Konflikt, doch zeichnet sich auch dessen Überwindung ab. Traurig klingt das, denn Grundlage dieser Musik ist Spaltung des Menschen! Links unter der Laute und auch noch unter dem Notenbuch liegt jemand, nur von den Schultern aufwärts sichtbar. Sehen tut er kaum, aber der Mund ist offen – vor Staunen vermutlich, denn ein Teufel mit riesigem Froschmaul hält ihn am empor gereckten Arm fest. Die andere Hand dieses Teufels, eher seinen dürren Beinen gleichend, hält eine aufgespießte qualmende Kröte hoch, Zeichen für Hoffart. Rechts unter der Laute, aber über und quer zu dem Notenbuch, sieht man die untere Hälfte eines ebenfalls mit Noten beschrifteten Menschen. Das klingt gewiss erbärmlich: kakophone Po-Musik!

Der Chor ist aus Menschen und Teufeln gemischt. Der knallrote Chorleiter stellt einen stachlig verlängerten Fuß und eine Hand zur Schau, verbirgt im Übrigen seine Glieder. Das Gesicht ist maskenhaft, eine viellappige weiße Kopfbedeckung kaschiert notdürftig den offenbar fehlenden Hirnschädel. Aus seinem schrecklichen Großmaul hängt eine Schnur mit punktförmigen Verdickungen, die „Samen“ bedeuten. Weil diese Schnur bis fast auf den Noten-Po herabhängt, denkt man an „Arschlecken“ ‒ oder schreibt besagte Schnur-Zunge die tropfenförmigen Noten? Jedenfalls wird hier zweifelhafter Geist durch unreinen Körperteil ersetzt, Sinnbild für Erniedrigung.

Vorsänger ist ein halb liegender Mann mit fast geschlossenen Augen und selbstgefälligem Ausdruck, auf den Beginn der Kom-Po-Sition zeigend. Ein schwarzer Teufel hat ihn im Griff, legt seine Krallenhände auf die Schultern. Dieser Teufel reißt sein Maul auf wie der Chorleiter, doch ist das rote Buch auf seinem Kopf zwar durchscheinend, aber geschlossen: Der Inhalt wird also vor den Menschen verborgen. Man muss daran denken, dass einfachen Christen zeitweilig sogar die Lektüre bestimmter Bibelstellen untersagt war, weil Missverständnisse befürchtet wurden! Die Frau hinter dem Vorsänger singt gequält, aber folgsam mit. Der Mann rechts vom Buch greift sich jedoch vor Schmerz ans Herz. Hinter dem Chorleiter singt einer mit angestrengt-besorgtem Ausdruck. Jener mit vor der Brust gekreuzten Armen und scheinheiligem Gesicht will eigentlich nicht mehr mitmachen. Die übrigen Chorsänger sind stumpfsinnige Mitläufer, begreifen nicht, was hier geschieht.

Drehleier und Triangel: Vergeudung des schöpferischen Potentials

Zunächst sei kurz die Funktion dieses Drehleiertyps erklärt. Mittels der Kurbel wird ein Rad gedreht, das sich waagerecht unter der rechteckigen Verkleidung befindet. Es berührt zwei längs verlaufende Saiten, welche durch die Tasten verkürzt werden können und erzeugt so die Töne. Zu diesen Spielsaiten kommen drei sogenannte Bordunsaiten, die unverkürzt mitschnarren.

Oben krümmt sich ein Mann, um ein Ei auf dem Rücken zu balancieren. Er müht sich, selbst Eiform anzunehmen! Das heißt, er möchte sich in den Zustand vor der Geburt zurück verwandeln, neuen Geist auf sich nehmen, um ein neues Leben zu beginnen. Aber niemand kann sich doch selbst gebären! Mit einer Hand berührt er den vor ihm liegenden Mann an der Ferse, die andere Hand greift einen Krückstock, wie ihn alte Leute brauchen, und führt diesen in den Hintern des Nachbarn. Mit seinem Kopf will er diesen Körperteil berühren, denn der geistige Faktor künftigen Lebens nimmt bei der Geburt neuen Körper an. Aber so funktioniert das natürlich nicht.

Der liegende Mann dreht die Kurbel genau in Richtung seines Geschlechtsteils: Gemeint ist seine Zeugungskraft. Der verhältnismäßig helle Saitenhalter darunter hat annähernd dreieckigen, seitlich leicht geschwungenen Umriss. Er ist mit winzigen Kreisen verziert, die in einer Reihe abwärts laufen und am Ende ein Knäuel bilden. Der Leiermann verliert aus seiner Bettelschale ein punktförmiges Gebilde: Man denkt an eine Münze, aber in übertragenem Sinne ist sein „Samen“ gemeint. Er ist blind, vermag das „Licht“ des Geistes nicht wahrzunehmen. Und so vergeudet er sein schöpferisches Potential: Was hier gezeugt wird, ist bloß körperlich.

Unter dem Radkasten über den Tasten schaut ängstlich eine Frau heraus, mittels Stab einen Triangel schlagend. Sie kann nicht sehen, was sie tut, weil die Verkleidung der Saiten die Sicht versperrt. Vergeblich versucht sie, zu dem Leiermann aufzublicken, kann ihn wohl auch kaum hören, weil ihr Kopf weiß verhüllt ist. Modern formuliert, verhalten sich die am Triangel hängenden klirrenden Ringe zu den winzigen Kreisen des Saitenhalters wie weibliche zu männlichen Keimzellen. Hier kommt keine Vereinigung zustande. Erinnern wir uns an die linke Tafel, wo Christus Mann und Frau sowie Geist und Körper mittels Fuß und Hand verbunden hat: Hier sind sie einander fremd geworden. Das vermittelnde Prinzip „Seele“ fehlt, Ganzheit wird nicht erreicht.

bosch_8_2

Bild 21: „Der Garten der Lüste”, Mitteltafel, Vordergrund: Spielhölle Bildnachweis: © Wikimedia Commons (public domain)

Verantwortungslose Spieler

Schwangere Teufelin mit Tricktrack-Brett: Böses wächst heran

Die rechteckige Platte bedeutet „Körper“. Sie lässt zugleich an Tisch und Sargdeckel denken, bietet freilich keinen Halt mehr. Die einzige Frau hier balanciert auf dem Kopf einen großen Würfel, der als Quader ebenfalls primär körperliche Bedeutung hat. Jeder Würfelpunkt besteht aus einem winzigen Punkt inmitten eines Kreises, was den Zeugungsvorgang veranschaulicht. Die 4 ist zweimal vorhanden!

An einer Stelle kam ein „Auge“ hinzu, an anderer Stelle wurde versucht, ein Auge zu beseitigen. Mogelei also bezogen auf „Samen“, falsches Spiel in Sachen Nachkommenschaft. Diese Frau will aus Geist Körper erzeugen (vgl. dagegen den Menschen auf der Drehleier mit Ei auf dem Rücken), doch der Hasenteufel rafft mit seiner Lanze ihren Kopf weg. In einer Hand hält sie eine brennende Kerze nebst Krug und fährt mit der anderen Hand suchend umher: Sie will Geist und Körper durch „Seele“ verbinden, was freilich auf diese Weise nicht gelingen wird. Besagte Frau bildet mit dem benachbarten Mann ein Paar: Aus der Haltung hinter der Platte ist zu schließen, dass die unteren Hälften im Gegensatz zu den oberen zusammen sind: körperliche Vereinigung bei geistiger Abneigung. Der Mann hält sich die Hände vors Gesicht, will die Lage nicht erkennen und riskiert doch einen Seitenblick. Ein äffischer Teufel reißt das Maul auf und drückt ihn in die falsche Richtung. Die gepunktete weiße Kopfbedeckung bildet riesige Ohren mit Samen-Punkten: Der Sünder muss hören, dass es darauf ankommt, Geistiges zu zeugen. Daneben ein schwarzer Teufel mit über die Ohren gezogenem Helm.

Mit einem Schwert durchbohrt ein froschköpfiger Teufel ein lehmbraunes Herz, Symbol für Liebe und Mitgefühl: Das soll nicht wirklich erhoben, sondern zerstört werden. Immerhin bedauert ein Mensch, dass seinem Nachbarn ein Messer im Rücken steckt. Die nach links drängenden Leute sind überwiegend gleichmütig, doch regt sich Furcht. Jemand blickt erstaunt. Ein anderer wirft die Hände hoch in einer Mischung aus Habgier und Abwehr angesichts der schlimmen Teufelin, die ein Spielbrett möglichst hoch hält. Es handelt sich um Tricktrack, gegenwärtig vor allem als Backgammon bekannt. Im Mittelalter auch „Verkehren“ genannt, was sowohl Geschlechtsakt als auch Umkehr meint.

Das Brett hat drei gleich große Bereiche. Die seitlichen Zonen sind durch breite Striche unterteilt, abwechselnd rot und schwarz. Diese „Zungen“ verhalten sich wie Vereinigung zu Isolation oder Leben zu Tod. Zwei Personen kämpfen gegeneinander, indem sie ihre Steine in Abhängigkeit vom Würfelergebnis gegenläufig ziehen. Man kann Hindernisse für den Gegner aufbauen und Steine schlagen, die dann neu beginnen müssen. Hat man alle eigenen Steine im letzten Viertel des Brettes versammelt, kann man sie „hinausspielen“. Sieger ist, wer alle seine Steine vom Brett entfernt hat.

Bekanntlich sind Spiele besonders für die Entwicklung von Kindern wichtig, aber solche wie dieses trainieren Egoismus, rücksichtslosen „Kampf ums Dasein“. Hier werden drei Würfel benutzt. Wertet man die „Augen“ der oberen Flächen wie beim Poker, findet man das denkbar niedrigste Ergebnis! Die gleichsam als Spielsteine fungierenden Menschen haben demnach geringe Aussicht, diesen Ort zu verlassen, zumal nur eine Hälfte des Brettes vorhanden ist! Eben darum triumphiert besagte Teufelin. Sie hat eine gierige Wolfsschnauze. Wo das Hirn sein sollte, existiert nur eine Rundscheibe: Ihr Geist ist flach. Der Bauch hingegen ist schrecklich aufgetrieben: Er scheint ein Ei zu enthalten, das an Geburt denken lässt. Hier ist auf den indischen Ursprung des Backgammon zu verweisen: Schlagen und Wiedereinsetzen von Spielsteinen veranschaulicht Reinkarnation! Diese Teufelin wird freilich Schlimmes hervorbringen. Einem Mann hat man die Augen verbunden und seinen in eine Hand gestützten Kopf halb abgeschlagen. Das ist die Strafe für geistige Trägheit. Jenseits der rechteckigen Platte gibt es ein Schwert für jeden Lebensfaktor: Das Herz entspricht der Seele, der Rücken dem Körper, der Kopf dem Geist.

Mausteufel und Spielkarten: Ehebruch

Dem Menschen vor der Platte, mit dieser zu Fall gekommen, rückt ein angriffslustiger Teufel zu Leibe. Von dessen Kopf sieht man nur das Mausgesicht, vom Körper nichts. Kräftig ausgebildet sind Arme und Beine, schwarz mit weißen Punkten. Die Rückseite ist weiß verhüllt, mit schwarzen Punkten, schwanzartig auslaufend. Dieser Teufel zertritt mit seinen Zackenschuhen den Weg, sticht den Sünder in die Brust und würgt ihn obendrein. Der Gequälte hält die Beine zusammen, eine Hand von einem Dolch durchbohrt, die andere greift nachdenklich an den Kopf: Er möchte verstehen, was ihn in diese schiefe Lage gebracht hat. Der umgestürzte Krug ist ein Gegenstück zur Kanne der Frau weiter oben. Spielkarten galten seinerzeit als „Gebetbuch des Teufels“. Solche sind hier zu Boden gefallen. Durchweg niedrige Zahlenwerte, französische Farbzeichen. Man erkennt Herz und Kreuz, auf zwei Karten nichts, eine Herz-1 ist halb verblichen. Das durchstochene Herz kommt in den Sinn: Wieder ist dieses Liebessymbol von Vernichtung bedroht.

Auf der Platte teilweise verwischte Kreidezeichen: Das sieht nach Fälschung aus. Auf den blauen Rückenschild des Mausköpfigen ist eine blutende Schwurhand gespießt. Seinerzeit waren „Spiegelstrafen“ üblich: Der dem Täter zugefügte Schaden spiegelte gewissermaßen sein Verbrechen oder machte es künftig unmöglich. Hier handelt es sich um Meineid. Der Würfel auf den Schwurfingern hat eine Frontseite, deren „Augen“ entfernt worden sind. Demnach wird hier ein Falschspieler gequält. Das ist allerdings nur die vordergründige Aussage, der entscheidende Sinn dieser Szene erschließt sich, blickt man zur linken Tafel hinüber: Was abgehackt wurde, gleicht genau Christi Schwurhand! Bestraft wird Ehebruch! Der Meineid bezieht sich auf das Gelöbnis ehelicher Treue, welches Treue zu Gott einschließt. Wir kennen die Ehefrau schon, sie streckt eine Hand nach dem Mann vor der Platte aus. Der Mauskopf resultiert aus der Heimlichkeit der Sünde, die Punkte bedeuten „männliche Samen“. Der Ehebruch hatte ungewollte Schwangerschaft zur Folge, was die Teufelin mit dem aufgetriebenen Bauch vorführt.

Testament

bosch_8_3

Bild 22: „Der Garten der Lüste”, Mitteltafel, Vordergrund: Boschs Testament. Bildnachweis: © Wikimedia Commons (public domain)

Vogelscheusal und Nonnensau: Verfälschung im geistlichen und weltlichen Bereich

Einem gepanzerten Scheusal fehlen Rumpf und Arme. Die Beine sind kaum noch menschlich, zumal die Zahl der spitzen Zehen verringert ist. Ein Pfeil im Schenkel stachelt den Watschelgang an. Der gepunktete lange Schwanz lässt an ein monströses Zeugungsglied denken. Das Motiv Punkscheibe ‒ Symbol für den Zeugungsvorgang ‒ kommt dreimal vor, kann Geist, Seele, Körper zugeordnet werden (vgl. Mitteltafel, ganz vorn rechts: die Punktscheiben auf dem Sargdeckel). Der unverhältnismäßig große Helm hat rückwärts einen Dornfortsatz, woran ein menschlicher Fuß hängt (vgl. linke Tafel: den vorderen Fuß der Frau). Ebenso wie die abgehackte Hand verweist das auf die linke Tafel, wo Mann und Frau mit Christus über diese Glieder verbunden sind. Sünde heißt Absonderung: Im Fegefeuer der rechten Tafel sind Hand und Fuß isoliert. Dazu eine verstörende Aussage Christi:

„Wenn dich deine Hand oder dein Fuß zum Bösen verführt, dann hau sie ab… Es ist besser für dich, verstümmelt oder lahm in das Leben zu gelangen, als mit zwei Händen und zwei Füßen in das ewige Feuer geworfen zu werden.“ (Matthäus 18,8)

Das möchte man nur im übertragenen Sinn gelten lassen! Wird Christus doch als Erlöser und Heiland verstanden, gemäß seiner Aussage:

„Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben…“ (Johannes 14,6)

Die aus dem Mittelalter stammende Redewendung: „weder Hand noch Fuß haben“ bezieht sich auf das Abhacken der rechten Hand und des linken Fußes: Das Opfer war dann völlig machtlos, konnte weder ein Schwert führen noch ein Pferd besteigen. Tatsächlich werden hier eine rechte Hand und ein linker Fuß zur Schau gestellt. Bosch wollte abschrecken, war aber gewiss gegen jede Verstümmelung. Zu berücksichtigen ist, dass er alles symbolisch gemeint hat!

Zwei gepunktete Fäden krümmen sich wie Hörner auf- und rückwärts: Illusion wird erzeugt, ausgehend von dem im Helm verborgenen Vogelkopf. Die dunkle Rüstung bietet äußeren Schutz. Das heimtückische Vogelscheusal hat also im Kern geistlichen Charakter, kapselt sich ab und gebärdet sich körperlich-weltlich. Dieses Monstrum wirkt lächerlich, aber gefährlich. Im langen, starken, spitzen Schnabel hängen ein ebenso schwarzes Tintenfass nebst Stöpsel und ein Schreibfederetui. Die weiße Schreibfeder taucht in den Schnabel wie ein Futter heischender Jungvogel. Sie wird in gespaltener Klaue von einem Schwein geführt, das sich mit schwarzweißem Tuch als Nonne herausgeputzt hat. Und diese Nonnensau flüstert einem Mann ins Ohr, was er schreiben soll! Das Schwein als Symbol körperlicher Fruchtbarkeit hat sich ein geistliches Mäntelchen umgehängt und schmust mit dem betroffenen Menschen. Alles wurde bis zur Unkenntlichkeit ins Gegenteil verkehrt. Vogelscheusal und Nonnensau agieren gemeinsam gegen wahres Christentum. Der Bedrängte soll das Schriftstück auf seinem Schoß unterschreiben. Zwei weitere Urkunden präsentiert der von rechts kommende Mann auf seinem Kopf bzw. vor seinem Herzen. Das bezieht sich auf den dreifachen Schriftsinn gemäß der Lehre des Origenes. Die blutroten Siegel geben näheren Aufschluss. Auf linke und mittlere Tafel rückblickend lassen sich diese Siegel mit guten Früchten assoziieren. Die „Frucht“ eines Menschen ist seine Leistung, auf das vergangene Leben bezogen: sein Vermächtnis oder Testament. Das ist augenscheinlich dreifach gegliedert: Die drei Schriftstücke beziehen sich auf die Lebensfaktoren. Dem körperlichen Faktor kommen zwei Siegel zu, wird er doch in doppelter Weise vererbt, nämlich in den Geschlechtern.

Boschs Selbstanklage wegen „Versiegelung“ und seine Vision übler Nachrede

Ein alter Spruch lautet: „Jeder Maler malt am Ende sich selbst!

Bosch hat sich mit dem zum Schreiben verführten Mann identifiziert, der uns aus klaren Augen anblickt, seiner Lage durchaus bewusst! Seine Malerei ist ja eine Art Bilderschrift mit dreifachem Schriftsinn, den drei Urkunden hier entsprechend. Wieso aber hat er sich in den Kreis exemplarischer Sünder eingeordnet, was hatte er sich vorzuwerfen? Geschrieben steht:

Versiegle dieses Buch mit seinen prophetischen Worten nicht!“ (Offenbarung 22,10)

Eben dieser Sünde fühlte sich der Maler schuldig. Zweifellos handelte er in Gewissensnot ‒ aber sollte nicht die Sorge um Leib und Leben hinter jener für das himmlische Heil zurückstehen?

Der rot gekleidete Mann: ein falscher Prophet

Alle Todsünden sind uns in diesem Fegefeuer begegnet. Auch Verstöße gegen die 10 Gebote. Den Schlussakkord setzt das Gebot:

Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen!“

Wer ist der Mann, der sich hinterrücks nähert? Wieso ist er nicht nackt wie die anderen Menschen hier? Das rote Gewand lässt bloß einen Arm und ein Bein frei, täuscht Aufschwung vor, während das schwarze Krötenzeichen auf goldenem Grund niedere Absicht verrät, gepaart mit Überheblichkeit. Dieser Mann ist ein Nachfolger des Bedrängten, kommt gewissermaßen aus späterer Zeit und gehört daher nur bedingt hierher. Er macht sich übler Nachrede schuldig, sagt sinngemäß: „Bosch, du hast mit deiner Malerei Großes vorgehabt. Du wolltest menschliches Fehlverhalten bewusst machen. Du wolltest gesellschaftliche Missstände verdeutlichen, sowohl im geistlichen wie im weltlichen Bereich. Du wolltest einer besseren Zeit den Weg ebnen. Aber du hast deine Botschaft derart verschlüsselt, dass sie bis in die Gegenwart kaum verstanden wurde! Wie das Dokument auf meinem Kopf blieb der geistige Gehalt deiner Malerei verschlossen. Das Dokument vor meinem Herzen, entsprechend dem seelischen Gehalt deiner Malerei, ist klein und ebenfalls verschlossen. Offen zutage liegt nur das Dokument auf deinem Schoß, das dem oberflächlichen, sozusagen „körperlichen“ Gehalt deiner Malerei entspricht. Das Ungeheure, Monströse deiner Motive fasziniert die Leute, doch den eigentlichen Sinn verstehen sie nicht, weil du alles so sehr verschlüsselt hast. Du bist ein Versager, hast dein Ziel nicht erreicht!“

Dazu noch ein Bibelzitat:

„Dann sah ich aus dem Munde des Drachen und aus dem Munde des Tieres und aus dem Munde des falschen Propheten drei unreine Geister hervorkommen, die wie Frösche aussahen.“ (Offenbarung 16,13)

Der rot bekleidete Mann ist als falscher Prophet charakterisiert. Bosch hat vorausgesehen und darunter gelitten, dass die wahre, verborgene Bedeutung seiner Werke kaum erkannt wurde. Um diese und sich selbst nicht zu gefährden, musste er freilich seine Botschaft verschlüsseln. Seinerzeit warf Botticelli in Florenz eigene Gemälde ins Feuer…

Ulrich Fritsche

Ulrich Fritsche ist Autor von bislang drei schön aufgemachten Büchern über Hieronymus Bosch und kommentiert auf Facebook regelmäßig Bosch-Bilder.
Im Taschen Verlag ist die ultimative Werkausgabe von Bosch erschienen, auf die wir hier hingewiesen haben.
Abbildungen: „Der Garten der Lüste”, Bildnachweis: © Wikimedia Commons (public domain)

Tags : ,