Geschrieben am 5. Juli 2016 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Kunst: Mit Hieronymus Bosch durchs Jahr 2016. Diesmal: „Garten der Lüste“. Mitteltafel, Vordergrund: Ausschnitte

Bosch_logo2016 ist das 500. Todesjahr von Jheronimus van Aken alias Hieronymus Bosch. Die Niederlande ehren den Maler mit einer großen Ausstellung und anderen, vielfältigen Aktivitäten. Boschs Werk war und ist Gegenstand der unterschiedlichsten Auslegungen und Interpretationen, die versuchen, seine phantastischen, bizarren und oft schlicht rätselhaften Gestalten, Pflanzen, seine Mischwesen und seine offensichtlich mehrfach codierten Bilderwelten sinnhaft zu entschlüsseln. Surreale, absurde, grausame und komische Bildwelten, die sich tief ins kollektive Gedächtnis gegraben haben, egal, ob man seinen Intentionen gerecht wird oder nicht. Denn Selbsterklärungen oder Aussagen zu seinen Werken gibt es nicht. Nur deren Faszinosum und deren Wirkmächtigkeit. Deswegen haben wir Ulrich Fritsche gebeten, jeden Monat in diesem Jahr ein Bild oder einem Bildausschnitt zu beschreiben und zu erläutern. Zu Folge 1, zu Folge 2, zu Folge 3, zu Folge 4, zu Folge 5.

Verborgener Sinn im Werk des Jheronimus Bosch (Folge 6)

Diesmal: „Garten der Lüste“. Mitteltafel, Vordergrund: Ausschnitte

von Ulrich Fritsche

Garten der Lüste_Mitteltafel

Bild 13: „Der Garten der Lüste”, Mitteltafel, Vordergrund: Ausschnitt links hinten

Vorbemerkungen

Zu erinnern ist an den wichtigsten Symbolschlüssel für dieses Gemälde: Vogel, Fisch, Landtier charakterisieren Geist, Seele, Körper von Menschen. Wachstum ist Voraussetzung für Fruchtbarkeit, und so findet man Übergänge zwischen linker und mittlerer Tafel. Die Fischritter am Gebäude der „Geburt“ im Hintergrund veranschaulichen den seelischen Zugang; die von dort zum Mittelgrund überleitenden Pferdereiter den körperlichen Zugang; der Keil riesiger Vögel im Vordergrund den geistigen Zugang.

Hier im Vordergrund wird Fruchtbarkeit unter dem geistigen Aspekt behandelt, und so dominieren Vögel – an Tieren sind außerdem nur zwei große Fische, ein winziger Fisch und eine Ratte vorhanden. Als Vorstufe für Frucht findet man Blüten und als Folge von Frucht Samen. Der Mensch kann selbst „Frucht“ werden, hinsichtlich Kopf oder Körper.

Wie lassen sich die übergroßen Vögel und Früchte erklären? Man kann sie auf Gruppen von Menschen statt auf einzelne beziehen, hat mancher doch zahlreiche Nachkommen. Darüber hinaus lässt sich ein vielen Menschen zugeordneter Vogel im Sinne „geistiger Tradition“ auffassen: Geistige Werte werden ja durch kulturelle Überlieferung weitergegeben.

Arme und Beine charakterisieren Handeln und Wandeln: Veränderungen folgen aus Handlungen und verursachen neue Handlungen. Christus hat gezeigt (siehe Vordergrund der linken Tafel) wie Vereinigung zu Aufschwung führen kann. Freilich gibt es viele Möglichkeiten für Fehlverhalten und Missverständnisse.

Früchte im Wasser: Fruchtwechsel (Bild 13)

Die übergroßen Früchte im Wasser führen wesentliche Veränderungen vor Augen, bis zur Verwandlung ins Gegenteil!

Das Paar vor der Spitze des Vogelkeils bleibt allerdings fruchtlos, denn in seinem Verhalten mischen sich Zuneigung, Gewalt und Widerstreben.

In dunkelblauer Kugelfrucht ist ein Mensch befangen, streckt aus der Öffnung Kopf und Hände, um seine Einsamkeit zu überwinden.

In kirschartiger Frucht sieht man eng beieinander die Kopf-Schulter-Partie eines Liebespaares. Der langschnäblige weiße Reiher betont den geistigen Charakter dieser Beziehung. Die rote Frucht ist gut, aber Unerfreuliches wächst daraus: ein Gewirr von Trieben, die dünn, dürr und stachlig werden. Zwar bilden sich Früchte ‒ zwei schwarze Trauben hier, eine schwarze Beere dort – aber diese bedeuten Isolation. Nach links streckt der Mann einen Arm aus, nach rechts ragt ein Bein aus der roten Frucht: Handeln und Wandeln geraten in scharfen Widerspruch. Ergebnis ist eine große brombeerähnliche Frucht. Die Grundfarbe ist schwarz, doch zeichnen sich helle und rote Samen darin ab. Aus dieser Frucht der Isolation bildet sich Besseres: Indem die ringsum versammelten Menschen danach gieren, kommen sie einander mit staunendem Erkennen näher! So kann aus Gutem Schlechtes und wieder Gutes werden.

Ein Mann steckt kopfunter im Wasser, beide Hände auf dem Geschlechtsorgan: nicht aus Scham, sondern um zu masturbieren. Zwischen den gespreizten Beinen eine rote Frucht, woraus eine kümmerliche Pflanze wächst. Darin verbirgt ein überwiegend heller Vogel sein Hinterteil, nach den spärlichen Samen pickend. Diese rote Frucht wird von einem Dornzweig durchbohrt. Der auf dessen Ende sitzende dunkle Vogel hat einen betont langen Schwanz, er pickt nach einem Ausläufer der kümmerlichen Pflanze. Hier ist geistige Verschlechterung zu beobachten. Der geistige Faktor wurde erniedrigt, verkehrter Weise dominiert der Körper. Die Arme wirken zusammen, um das Geschlechtsorgan zu stimulieren. Auch die getrennten Beine funktionieren nicht bestimmungsgemäß. So wurde gute Frucht zerstört, Selbstbefriedigung führte zu Isolation.

Schmetterlingsdistel: negative Entwicklung bzgl. Wachstum und Liebesbereitschaft (Bild 13)

Oben in der Mitte sieht man eine Distel. Aus kugeliger Rundung spaltet sie sich in drei platte, spitz gezackte Triebe, die auseinander und mehr oder weniger abwärts wachsen. Außerdem sind zwei Stängel vorhanden, die sich überkreuzen und jeweils in stachliger blauer Blüte enden: oben bzw. unten. Diese fleischfarbene, blaugeäderte Pflanze veranschaulicht Trennung bzgl. links/rechts sowie oben/unten: eine negative Entwicklung im Hinblick auf Wachstum und Liebesbereitschaft. Die kopfunter hängende Kohlmeise bedeutet verkehrte Geisteshaltung. Der Schmetterling ‒ ein Kleiner Fuchs ‒ ist eigentlich ein Wurm, der sich zu fliegen erdreistet: Symbol einer bedenklichen Metamorphose vom Körper zum Geist hin. Drei Männer verdeutlichen den tieferen Sinn der Szene. Der erste liegt rücklings am Boden, einen Arm nach oben streckend, mit dem anderen die schon erwähnte blaue Traube greifend. Ein zweiter Mann, von dem man nur die obere Hälfte sieht, packt den ersten am Handgelenk und an einem der angewinkelten Knie, sich dabei selbst behindernd. Der dritte kniet, hat die Fersen unter dem Kopf des ersten und einen Ellbogen auf dem Kopf des zweiten. Er fasst den Trieb mit der Kohlmeise und will zugleich die obere Blüte erreichen. Auch er behindert sich selbst. Unterer, mittlerer und oberer Mensch sind den drei Trieben zugeordnet entsprechend dem körperlichen, seelischen und geistigen Faktor! Hier hat sich völlige Disharmonie entwickelt.

Muschel: bloß körperlicher Akt (Bild 13)

Die Muschel bedeutet das weibliche Geschlechtsorgan. Auf- und Zuklappen lässt an den Geschlechtsakt denken. Zwar sieht man darin nur einen Unterleib, eine die Schalen offen haltende Hand und einen weiteren Fuß, doch zeigt der Fußkontakt, dass hier tatsächlich Kopulation stattfindet. Diese Muschel ist innen weiß und außen schwarz: Nach außen kapselt sich das Paar ab. Ein dritter Mensch trägt all das mit erhobenen Händen in einer Erdfalte abwärts. Sein Oberteil und die Muschel werden dabei in waagerechte Lage gedrückt: Das geistige Prinzip wird sozusagen durch das körperliche erniedrigt. Die Perlen bedeuten „Samen“. Zuerst sind sie wie gewöhnlich weiß entsprechend unentschiedenem Verhalten. Im Wasser hier können sie sich farblich verändern: rot, grün, grau, dunkel werden oder weiß bleiben. Das nahe Ufer bricht eiförmig ab und verschmilzt gleichsam mit der Ratten-Röhre.

Garten der Lüste_Mitteltafel Ausschnitt

Bild 14: „Der Garten der Lüste”, Mitteltafel, Vordergrund: Ausschnitt rechts hinten

Keilbaum: Streben nach „geistigem Samen“ führt aufwärts zusammen (Bild 14)

Der keilförmige rote Baum kontrastiert mit der Schmetterlingsdistel. Er veranschaulicht Aufwärtsstreben, womit Zusammenschluss erreicht wird. Allerdings zeigen die gekappten Äste, dass sich neue Trennung anbahnt. Das lässt sich auf die Vereinigung der Geschlechter beziehen, woraus Kinder resultieren, die gewissermaßen wieder in Mann und Frau aufspalten. Beine verweisen bei Bosch auf „Wandlung“, und solche sieht man hier zwischen den beiden Stämmen: zwei Beinpaare und ein einzelnes Bein. Der Eichelhäher oben lässt zunächst daran denken, dass „Eichel“ auch den markantesten Teil des männlichen Geschlechtsorgans meint. Als Vogel repräsentiert er allerdings die geistigen Folgen des Heranwachsens. Und die können entsprechend den kontrastierenden Farben verschieden sein. Seitlich vom Keilbaum wachsen gleichsam Menschen aus der Erde, von denen man kaum mehr als die Köpfe sieht. Links mit fast geschlossenen Augen, aber gierig geöffneten Mündern. Mit dem Mund nimmt man Luft sowie flüssige und feste Nahrung auf, also alle zum Leben nötigen Elemente. Vor allem wird hier aber nach dem verlangt, was der Eichelhäher im Schnabel bietet: „geistiger Samen“. Rechts vom Keilbaum sind die Münder geschlossen, die Menschen blicken zufrieden aufwärts, haben Erkenntnis erlangt und sind nun mit der Kehrseite des Eichelhähers konfrontiert: dem körperlichen Aspekt menschlicher Reife. Hier wird also gezeigt, wie heranwachsende Menschen aufnehmen, was ihnen noch fehlt: Ergänzung führt zu Vereinigung.

Frucht-Tor: Durchgang zur Ehe (Bild 14)

Rechts neben dem Keilbaum befindet sich eine übergroße orangefarbene Frucht, seltsam in waagerechte Zonen gegliedert. Sie markiert die tiefste Stelle in der abgrenzenden Baumreihe ‒ erst rechts davon tragen die Bäume Frucht. Dieser Einschnitt erlaubt Zugang vom Tierkreis her, genauer: von dem roten Eber, welcher vor Zeugungskraft strotzt.

Frauengesichter in der orangefarbenen Frucht erhellen die Bedeutung der Zonen: Die hintere Frau ist in sich gekehrt mit geschlossenen Augen; die linke neigt den Kopf schwärmerisch zur Seite und beginnt, die Augen zu öffnen; die rechte hat die Augen weit offen und zeigt eine Hand: Gemeint sind weibliche Entwicklungs- bzw. Bewusstseinsstufen bezogen auf Fruchtbarkeit. In der ersten Zone von oben sind kleine Kreise; in der zweiten Zone blaue Blüten; in der dritten ein Schleier mit kleinen weißen Perlen am unteren Rand; in der vierten Merkmale einer Erdbeere. Das lässt sich als Entwicklung folgendermaßen in Worte fassen: vom unreifen Kind über das sehnsüchtige Mädchen zur verschleierten Braut und schließlich zum reifen Weib. Was in der Schleierzone aufreißt, weckt die Assoziation „Jungfernhäutchen“. So erfreulich die orangefarbene Frucht erscheint ‒ dargestellt ist auch, wie Schlechtes daraus entstehen kann. Rechts bilden sich drei kleine schwarze Früchte in verschiedener Höhe, Isolation bezeichnend. Unten bilden sich Stacheln: Man denkt an Penetration als aggressiven Akt; auch an den Tod, muss doch jegliche Frucht zerfallen, um Samen freizugeben, die hier erdbeerartig sichtbar sind. Etwas weiter rechts findet man die untere Hälfte eines Menschen auf den Knien: Fruchtbarkeit hat eben nicht nur geistigen, sondern auch körperlichen Aspekt.

Diese Frucht ruht auf einem gleichfalls orangefarbenen Tor, das viele kleine Samen-Punkte um die Öffnung aufweist. Darin sieht man die Kopf-Schulter-Partien von Mann und Frau, einander denkbar nah. Gemeint ist geistige Liebe. Daraus geht ein Jüngling hervor: Hier zeigt eine Mutter auf ihren Sohn. Er trägt einen schönen jungen Fisch. Dieser will das kleine rote Gebilde am Boden vor dem Keilbaum fressen, welches durch Verschmelzung eines Fruchtpaares entstanden sein mag. Frucht verwandelt: Das Fischmaul ist bereits rot.

Das besagte Tor bedeutet die Ehe. Der Kopf der Frau darin ist über einen Pflanzenstrang mit der Frucht obenauf verbunden. Der Mann stammt indessen aus dem unterirdischen Raum dahinter. Dieser Raum ist oben mit eckigen und seitlich mit runden Formen ausgekleidet – all das ist rot, was auf Vereinigung und Aufschwung schließen lässt. Durch eine Öffnung, die sich keilförmig aufwärts weitet, sieht man die Köpfe einiger Männer: Die vorderen reden miteinander, der mittlere weiß nicht, welchem Nachbarn er glauben soll. Hier geht es um Vorbereitung zur Ehe. Man wird an Initiationsriten erinnert, die es in vielen Kulturen gibt. Zur Aufnahme in eine höhere Gemeinschaft hat der Anwärter eine rituelle Prüfung zu bestehen. Aus der Dunkelheit zum Licht: Dieser Vorgang entspricht Überwindung des Todes.

Vor dem Frucht-Tor: Scheinblüte und Afterblüte Liebe bedarf der Seele (Bild 14)

Das Paar vor dem Tor hat sich augenscheinlich an der Ehe vorbeigedrückt. Der Mann fasst sich ans Gesäß und sein Liebchen an der Schulter. Mit der schwarzen Traube auf seinem Kopf setzt sich die Tendenz zu geistiger Isolation fort. Die Frau hat als Hut eine abwärts gerichtete farblose Scheinblüte, aus schwarzem Kelchgrund gewachsen. Diese befindet sich vor dem gegabelten Fischschwanz, welcher auf den Doppelcharakter der Seele verweist. Ihre Haltung gleicht bis auf den Kopf genau jener des sitzenden Mannes der linken Tafel! Zweifellos ist das hier verkehrte Liebe. Mit ihrem Gesäß berührt sie den Kopf eines anderen Mannes, was eine Verbindung zwischen Körper und Geist symbolisiert, welche in dieser Weise auch nicht richtig sein kann.

Besagter Nachbar stützt den Kopf auf die Ellbogen am Boden und reckt den Hintern hoch. Im After stecken eine rote und eine größere blaue Blüte. Hier haben wir ein besonders krasses Beispiel für Missverständnisse, die sich ergeben, wenn man den übertragenen Sinn nicht erfasst. Behauptet wurde, dieses Motiv sei eine Anspielung auf Homosexualität. Auch wurde beschrieben, wie Bosch an einer nächtlichen Orgie teilnahm, wo jemand Blumen im After hatte… Nein, so nicht! Blüten bedeuten bei diesem Maler Liebesbereitschaft, und die bezieht sich hier auf den Körper, welcher höher rangiert als der Kopf. Der Mann daneben hält rote Blüten neben seinen Kopf entsprechend geistiger Liebesbereitschaft. Wahre Liebe sollte freilich Körper und Geist harmonisch verbinden: nämlich durch die „Seele“. Diese symbolisiert der herbeigetragene Fisch!

Weiße Halbkugelfrucht: geistig verkümmerte Nachkommenschaft (Bild 14)

Aus einer kleinen hellen Frucht, wie sie an zwei Stellen des Tierkreises Vögel anlockt, bläht sich eine durchsichtige weiße Halbkugel auf, drei Menschen bis zur Leibesmitte einhüllend. Gemeint ist eine Familie. Das dickbäuchige Kind ist nur wenig kleiner dargestellt als die Eltern; den Kopf verdeckt weitgehend ein Tuch, welches unter der Halbkugel rot aussieht und nach hinten abschirmt. Von der kleinen Frucht geht rechts ein Stacheltrieb aus, der sich gabelt und in den After des Kindes führt. Der Mann hakt das Kind unter. Die Frau schlägt erschrocken eine Hand vors Gesicht, sieht mit einem Auge zu dem roten Eber hinüber. Das Kind hier ist körperbetont entwickelt – auf Kosten geistiger Fähigkeiten.

Fruchtszene im Wäldchen rechts: Körperliche Liebe kann geistige fördern und umgekehrt! (Bild 14)

Die Bäume hier tragen im Gegensatz zu jenen links vom Keilbaum rote Früchte. Ein Mann bringt eine übergroße Erdbeere herbei, um sie seiner Liebsten in den Schoß zu legen. Dabei nähern sich die Köpfe der beiden: Körperliche Frucht führt hier zu geistiger Annäherung. Daneben verzehrt eine Frau rote Baumfrucht, die ihr Mann pflückt, der in sie eindringt: Geistige Frucht führt hier zur Kopulation. So vermögen Geist und Körper einander in der Liebe zu fördern.

Stamm und Äste treten dunkel hervor. Ein Mann kauert derart, dass man nur Kopf und Beine sieht, durch einen Ast gewissermaßen getrennt. Der Nachbar streckt sich, um Frucht von oben zu erlangen, wobei der andere Arm unten bleibt. Beine und Arme, entsprechend Wandeln und Handeln, sind Stamm und Frucht zugeordnet. Sie sollten eine organische Einheit bilden, doch entwickelt sich hier eine Spannung zwischen unten und oben bzw. Körper und Geist. Harmonie fehlt, im Gegensatz zu den beiden vorher erläuterten Paaren. Das Prinzip „Seele“ ermöglicht eben Besserung wie auch Verschlechterung.

Beispielhaft sei hier auf eine Raffinesse Boschs hingewiesen: Im Baumwipfel über dem „Erdbeermann“ ist ein Gesicht angedeutet, dessen Ausdruck vom Linksprofil zum Halbprofil wechselt.

Blaue Kopf-Frucht: dunkle Absicht bei körperlicher Liebe (Bild 14)

Ein Paar liegt auf halbrundem Rasenstück über dem unterirdischen Raum. Der Mann hat anstelle des Kopfes eine blaue Frucht. Am ehesten kann man von „Pflaume“ sprechen, wozu allerdings die Kelchblätter nicht passen. Jedenfalls hat der Liebhaber Dunkles im Sinn, die Frau am Handgelenk packend. Sie stützt das Haupt träge auf, blickt ihn aber hellwach an. Kommt es hier zu körperlicher Vereinigung, so doch bei geistiger Distanz. Beine und Arm des Mannes verknüpfen mit benachbarten Szenen: Nach der roten Ei-Form in der Muschelhälfte tastend, möchte er sich wohl in geistiger Hinsicht bessern, bleibt aber zu sehr Niedrigem verhaftet.

Frucht-Kauz: Egoismus entzweit gute Frucht (Bild 14)

Zwei Menschen stecken bis zur Leibesmitte in übergroßer roter Frucht mit einem Kauz obenauf. Sie hatten sich in guter Gemeinschaft zusammengefunden, streben nun aber selbstsüchtig auseinander. Beide wollen möglichst viele der kleineren roten Früchte erlangen. Ein Zweig mit blauen Blüten umgibt das Paar in ungefähr waagerechtem Kreis, und von dort krümmen sich stachlige Seitentriebe abwärts, sogar zwischen den Beinen hindurch. Die Person vorn links ist ein Mann, die hinten rechts vermutlich eine Frau. Er hebt die Arme weit nach oben, sie nur waagerecht, und so bekommt sie bloß eine der fünf Früchte handlicher Größe. Hierbei assoziiert man „Kinder“, doch ist dieses Symbol weiter aufzufassen im Sinne von Ergebnis. Dieses Paar hat in geistiger Hinsicht Gutes geleistet, doch wird daraus Zweifelhaftes: Der Kauz hier geht gewissermaßen aus der großen Frucht hervor! Egoismus verwandelt gute Frucht in schlechten Geist, welcher Tod ankündigt. Vermehrung ist allerdings nicht ohne Trennung möglich. Das Paar tanzt im Kreis, was an den Hindugott Shiva denken lässt, zuständig für Zerstörung und Neubeginn.

Versuch, Frucht und Vogel zusammenzubringen (Bild 14)

Auf dem Rücken liegend hält ein Mann beidhändig eine rote Frucht empor, um sie auf hochgestrecktem Fuß einem langschwänzigen dunklen Vogel anzubieten, während der andere Fuß auf der Erde bleibt. Widersprüchlich orientierte Beine erfüllen also ihre Funktion nicht. Wer auf solche Weise Hände und Fuß zusammen bringt, muss scheitern: Diese Glieder sollten in zwischenmenschlicher Beziehung harmonieren, wie die linke Tafel lehrt. Der Mann ist in sich gekehrt und erdverhaftet, wird einsam aufwärts strebend keinen Erfolg haben. Wichtig ist nicht nur, gute Frucht anzubieten, sondern auch, solche gut aufzunehmen: Zur Liebe braucht man einen Partner!

Ulrich Fritsche

Ulrich Fritsche ist Autor von bislang drei schön aufgemachten Büchern über Hieronymus Bosch und kommentiert auf Facebook regelmäßig Bosch-Bilder.
Im Taschen Verlag ist die ultimative Werkausgabe von Bosch erschienen, auf die wir hier hingewiesen haben.
Abbildungen: „Der Garten der Lüste”, Bildnachweis: © Wikimedia Commons (public domain)

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