Geschrieben am 2. März 2016 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Kunst: Mit Hieronymus Bosch durchs Jahr 2016. Diesmal: „Der Garten der Lüste“ (Linke Tafel)

Bosch_logo2016 ist das 500. Todesjahr von Jheronimus van Aken alias Hieronymus Bosch. Die Niederlande ehren den Maler mit einer großen Ausstellung und anderen, vielfältigen Aktivitäten. Boschs Werk war und ist Gegenstand der unterschiedlichsten Auslegungen und Interpretationen, die versuchen, seine phantastischen, bizarren und oft schlicht rätselhaften Gestalten, Pflanzen, seine Mischwesen und seine offensichtlich mehrfach codierten Bilderwelten sinnhaft zu entschlüsseln. Surreale, absurde, grausame und komische Bildwelten, die sich tief ins kollektive Gedächtnis gegraben haben, egal, ob man seinen Intentionen gerecht wird oder nicht. Denn Selbsterklärungen oder Aussagen zu seinen Werken gibt es nicht. Nur deren Faszinosum und deren Wirkmächtigkeit. Deswegen haben wir Ulrich Fritsche gebeten, jeden Monat in diesem Jahr ein Bild oder einem Bildausschnitt zu beschreiben und zu erläutern. Zu Folge 1.

Verborgener Sinn im Werk des Jheronimus Bosch (Folge 2)

Diesmal: „Garten der Lüste“, linke Tafel, Szenen aus dem Hinter- und Mittelgrund

Von Ulrich Fritsche

Bäume veranschaulichen die Entwicklung von Menschen

Auf der Innenseite harmonieren linke und mittlere Tafel in freundlichen Farben. Die finster-bedrohliche rechte Tafel verhält sich dazu wie der Tod zum Leben.

Bereits erklärt worden war: Alles ist auf Menschen bezogen. Die waagerechte Gliederung des Gemäldes entspricht pflanzlichen Entwicklungsstufen. Leitsymbol der linken Tafel ist der Baum, allgemeiner ausgedrückt der Spross: Hier geht es vorrangig um Wachstum. Allerdings kommen auch Samen und Früchte vor sowie Blüten als Ausdruck von Liebesbereitschaft. Abgestorbene Bäume und Stacheln veranschaulichen Tod. Die vielen Bäume zeigen Entwicklungsmöglichkeiten. Artzugehörigkeit ist zweitrangig.

Gewöhnlich wachsen Bäume auf festem Land, doch findet man hier auch welche in luftiger Höhe und sogar im Wasser: Der Lebensraum hat Bedeutung. Stamm oder Wipfel können betont sein. Wichtig sind auch Beziehungen von Baum zu Baum: Manche Bäume verschmelzen, andere trennen sich und sterben teilweise ab. Dabei ist Richtungssymbolik wesentlich: Von den Gegensatzpaaren oben/unten, rechts/links, innen/außen wird in unserem Kulturkreis der jeweils erstgenannte Begriff höher gewertet als der zweitgenannte.

Leben bedingt Verwandlung: Pflanzen sind symbolisch kombiniert mit Tieren, Menschen und sogar geometrischen Figuren.

Vogel, Fisch, Landtier als Symbole für Geist, Seele, Körper von Menschen

Tiere eignen sich dazu, die Rangordnung von Geist, Seele, Körper zu veranschaulichen. Das betrifft die senkrechte Gliederung des Gemäldes. Auf der Innenseite sind Hintergrund, Mittelgrund und Vordergrund zwar unregelmäßig, aber deutlich voneinander abgegrenzt. Für die linke Tafel findet man: im Hintergrund nur Vögel, im Mittelgrund kommen Landtiere dazu, im Vordergrund außerdem Fische. Die Tiergruppen bedeuten entsprechend den bevorzugten Lebensräumen Luft, Wasser, Erde bei Bosch Geist, Seele, Körper! Diese Begriffe seien „Faktoren“ genannt. Sie sind im Menschen hierarchisch geordnet: Der Geist ist höher einzustufen als der Körper, die Seele vermittelt zwischen beiden. Charakterisierung geschieht im Wesentlichen durch die Körperteile: Der Kopf entspricht dem Geist, das Hinterteil dem Körper, die Glieder der Seele. In diesem Zusammenhang ist auch die Symbolik geometrischer Figuren zu beachten: Die Kreisscheibe bedeutet den Geist, das Rechteck den Körper, eine halbrunde Zwischenform die Seele.

Mit den Fischen erscheinen im Vordergrund der linken Tafel auch Menschen: Sie veranschaulichen Ursache-Wirkungs-Beziehungen, was vor allem die Arme und Beine zeigen.

Bosch_Harten der Lüste_Linke Tafel_Hintergrund und Mittelgrund

„Der Garten der Lüste”, Linke Tafel, Hintergrund und Mittelgrund

Hintergrund

Hier gibt es nur die Tiergruppe der Vögel. Sie veranschaulichen Wachstum bezogen auf den geistigen Faktor von Menschen. Sowohl Bäume als auch Vögel können nicht bestimmten Arten zugeordnet werden, doch gibt es Unterschiede hinsichtlich Gestalt und Farbe. Betrachten wir den gelblichen Bereich des Geländes links. Da ist eine labile Pyramide. Auf erdigem Grund geometrische Figuren. Rechtecke verweisen auf den körperlichen Faktor. Die Rundscheibe symbolisiert den geistigen Faktor, an die Außenseite des Gemäldes erinnernd. Sie ist grün, ebenso wie der Baumwipfel, was auf geistiges Wachstum schließen lässt. Das bezieht sich auf den Vogelschwarm, welcher aus der Höhle darunter kommt. Die meisten Vögel sind schwarz, doch gibt es auch hellere. Der Schwarm fliegt in Windungen aufwärts: durch eine innen mit Samen-Punkten besetzte Hohlkugel, was Fruchtbarkeit bedeutet; dann vorbei an blattartig gerollten und spindelförmigen Strukturen. Er verschwindet in blauweißer Ferne, kommt aber wieder.

In der Luft, dem „Geist“ entsprechenden Element, hat farbliche Veränderung stattgefunden! Viele sind hell geworden, es gibt noch schwarze, aber auch rote. Das ist als Besserung zu werten. Der Schwarm fliegt nun von oben in ein gelbliches Gebäude, dessen Dach an Vogelschwingen denken lässt. Hier werden die Vögel gesammelt und nach Farbe sortiert! Rechts außen hocken ein schwarzer, ein rotgelber und ein weißer Vogel: Repräsentanten der symbolisch wichtigsten Farben, die schlechten, guten bzw. unentschiedenen Charakter signalisieren. Ein schwarzer sondert sich fliegend ab. Weiter unten wandern grauschwarze Vögel nach rechts: in eine große Ei-Form, auf der sie ein großer Artgenosse erwartet. „Ei“ bedeutet „Geburt“. Da diese Vögel offenkundig bereits einen Lebenskreislauf hinter sich haben, kann das nur heißen: Sie streben nach Wiedergeburt! Das Ei hat rechts einen Spalt, von dem aus eine Baumreihe schräg aufwärts führt, in Richtung des Ausgangsortes.

In der mittleren Öffnung des Sortiergebäudes sieht man einen grauen, einen roten und einen hellen Vogel. Ein weißlicher fliegt die Gruppe weiter vorn an. Diese Vögel sind überwiegend weiß, doch kommen auch ein paar rötliche und teilweise dunkle vor. Im Gegensatz zur Disziplin der betrübt in das Ei marschierenden tummeln sich die Vögel vor der halbrunden unteren Öffnung in den verschiedensten Beziehungen zueinander. Sie vermehren sich auf der Erde, dem „körperlichen Element“; ihre noch kleinen Nachkommen sind verhältnismäßig dunkel. In diesem Bereich ist also Verschlechterung zu beobachten.

Bosch_Garten der Lüste_Ausschnitt

„Der Garten der Lüste”, Linke Tafel, Ausschnitt aus dem Hintergrund links

Mittelgrund

Zu den Vögeln kommen hier Landtiere, die den körperlichen Faktor von Menschen bedeuten. Das wird durch Sekundärbedeutungen ergänzt. In einer Erdfalte erscheinen Antilopen und ein Pferd. Der Hase vor dem Wäldchen rechts symbolisiert Furcht. Ein Löwe hat einen Hirsch erbeutet. Ein anderes Raubtier wird von einer Frischlinge führenden Wildsau verfolgt. Das Stachelschwein veranschaulicht Abwehr. Der körperliche Faktor bringt also Kampf und Tod, aber auch Vermehrung. Charakteristische Bäume zeigen in diesem Zusammenhang verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten. Links ein waagerecht aufgefächerter einzelner Baum. Hier hockt ein Affe auf einem Elefanten. Weiter links wohl ein Wolf. Der Gegensatz oben/unten verstärkt sich mit Büschen, über die sich ein Baum erhebt, auf den ein Bär klettert, während ein schwarzer Vogel am Boden bleibt. Ein schlappohriges hundeähnliches Tier, dessen Vorderbeine verkümmert sind, kontrastiert mit einer Giraffe, deren Vorderbeine überlang sind. Weiter vorn wieder ein Hase. Gegenüber bilden zwei eng benachbarte Bäume einen gemeinsamen Wipfel. Insgesamt ist aber festzustellen: Krasse Gegensätze haben sich entwickelt.

An dem nur teilweise sichtbaren Gewässer links begegnen einander Vögel und Landtiere. Symbolisch auf Menschen bezogen heißt das: Geist und Körper verlangen nach dem vermittelnden Prinzip „Seele“, das dem Element Wasser zugeordnet ist. Vertreter beider Tiergruppen neigen sich abwärts zur Tränke und kehren dann um. Die aus dem Wald kommenden Landtiere tendieren dazu, heller zu werden. Weiße und braune Vögel halten sich an verschiedenen Orten auf.

Inmitten der linken Tafel erhebt sich ein zart-eleganter hellroter Springbrunnen auf schwarzblauem Grund. Er hat pflanzliche Merkmale ‒ freilich stilisiert – und veranschaulicht ideales Wachstum. Bosch hat alles genau durchdacht, hier sei nur das Wichtigste mitgeteilt. Die senkrechte Rundscheibe ist als geistige Basis zu verstehen. Das Käuzchen im finsteren Loch verkündet Tod, der dem Leben schon zu Beginn innewohnt. Allerdings ist auf dem Kopf ein Samenkorn erkennbar, woraus neues Leben keimen kann. Rings um die besagte Scheibe ebenfalls Samen-Punkte. Aufstrebend bilden sich seitlich: Blätter, waagerechte Scheibe, Frucht, Spross und transparente Frucht. Die roten Teile sind abwechselnd gepunktet, und zwar gegensätzlich im Vergleich links/rechts. Das mag auf die Geschlechter verweisen, gehen doch Mann und Frau gewissermaßen auseinander hervor. Ideale Schönheit ist jedenfalls leicht asymmetrisch. Die transparenten Früchte bilden jeweils ein weißes Kügelchen mit Stiel: „Lebenskeime“. Das innere Wachstum kolbenartiger Gebilde bringt weiter oben und weiter innen wieder solche Kügelchen hervor, was dann in einem einzigen zentralen Kügelchen kulminiert. Diesem Streben nach Verinnerlichung und Vereinigung wirkt das Wasser entgegen, das aus Stängeln fließt, welche kleine senkrechte Scheiben durchdringen. Wie es Früchte verschieden hoher Qualität gibt, so fallen die Strahlen aus verschiedener Höhe. Über der waagerechten Rundscheibe oben verschmelzen Blätter und Spross, was in eine Spitze mündet, eine Art Stachel: Auch ideales Leben endet mit dem Tod, doch gibt es wieder neues Leben. Jede Tendenz beinhaltet keimhaft die Gegentendenz!

Dieser unvergleichliche Lebensbaumbrunnen ist durch den Philosophen Marsilio Ficino inspiriert, welcher im späten 15. Jh. n. Chr. in Florenz lebte. Er machte platonisches Gedankengut durch Übersetzungen zugänglich und beschrieb in seinem Buch „Über die Liebe oder Platons Gastmahl“ die „Seele“ als vermittelndes Prinzip. Ihm zufolge haben Menschen einen natürlichen Trieb, Gott zu erreichen:

„Leicht und durch natürlichen Trieb springt die Formel, da sie wie ein Strahl der Idee ist, in die Idee zurück und erhebt mit sich die Vernunft, der dieser Strahl eingegossen ist, welcher, indem er in die Idee zurückgeführt wird, in sie wie in eine Quelle zurückfließt, wie ein in die Sonne reflektierter Strahl, und durch eine solche Verknüpfung wird aus der Vernunft und Gott ein einziges Wesen… Die göttliche Schönheit ergießt sich in die Dinge und kehrt vermittels der Liebe wie in einem Kreislauf zu sich selbst zurück… Das Schöne in den Dingen ist gleichsam der Köder, durch den die Seele des Liebenden zu Gott hingeführt wird.“

Stellen wie diese zeigen, dass Bosch in die neuplatonische Tradition einzuordnen ist. Seine Weltanschauung war außer durch die Bibel und Ficino vor allem durch den griechischen Kirchenvater Origenes geprägt. Dokumentarisch belegt ist das freilich nicht.

Der Brunnen im zentralen Gewässer hat ein chaotisches schwarzblaues Fundament. Die Kügelchen dort bedeuten „Samen“; ihre Farben verraten verschiedene, meist unerfreuliche Tendenzen. Die Röhren veranschaulichen „Zeugung“. Die Vögel charakterisieren den geistigen Faktor. Sie sind überwiegend dunkel, die betont langen Schwänze auf den seitlichen Auswüchsen des Brunnens zeigen negative Entwicklung. Weiter links schwimmen Enten hin und her, weiter rechts ein langhalsiger Schwan.

Nach rechts streben Lurche und Kriechtiere ‒ teilweise mit Kerbtiermerkmalen ‒ aus dem Wasser an Land, stellen den körperlichen Faktor in äußerster Niedrigkeit dar. Sie sind hässlich. (Man hüte sich allerdings davor, solche Lebewesen als wirklich böse zu beurteilen.) Empor strebend verleihen sie der hellbraunroten Landmasse teuflisches Profil! Eine Schlange bildet den zynischen Mund, ein vielbeiniges Reptil mit Rückenpanzer das geschlossene Auge. Das dreiköpfige Kriechtier am energischen Kinn verhöhnt die göttliche Dreifaltigkeit. Missgestalten sind das hier: zu viele oder fehlende Beine, vorn oder hinten geschwollen. Samen-Punkte signalisieren Vermehrung. Die meisten dieser Tiere sind schwarz, nur eines hat roten Leib, Weiß ist mit Abkapselung verbunden. Ziel ist die finstere Höhle in diesem Teufelskopf. Er kontrastiert mit dem Lebensbaumbrunnen, veranschaulicht blinde Auflehnung gegen das Streben zu Gott hin. Hier soll suggeriert werden, aus erdigem Material könne Geistiges entstehen! Am Fuß des Teufelsberges steigt eine Baumreihe an: obenauf ein Apfelbäumchen, überragt von einer Dattelpalme. Stufung bildet sich, negativ einzuschätzende Hierarchie. Das Apfelbäumchen hat zwar schöne rote Früchte, doch streben die Äste stark auseinander. Der Palmwipfel fächert auf, die Fruchtstände sitzen an den Enden. Um den Stamm windet sich kopfunter eine Schlange. Wiederholt wird man an den Garten Eden erinnert, das Gemälde beschränkt sich aber durchaus nicht auf diese Thematik: Es hat universalen Charakter.

Hin und wieder gibt es bei Bosch übergeordnete Strukturen wie den großen Teufelskopf rechts vom Springbrunnen zu entdecken. Manche sind unstrittig vorhanden, in anderen Fällen kann das bezweifelt werden. Dieser Maler wollte, dass man sich in seine Bilder vertieft und so vom Äußerlichen her zum eigentlichen Sinn vordringt.  

Ulrich Fritsche

Ulrich Fritsche ist Autor von bislang drei schön aufgemachten Büchern über Hieronymus Bosch und kommentiert auf Facebook regelmäßig Bosch-Bilder.
Im Taschen Verlag ist die ultimative Werkausgabe von Bosch erschienen, auf die wir hier hingewiesen haben.
Bild 1: „Der Garten der Lüste”, Linke Tafel, Hintergrund und Mittelgrund, Bildnachweis: © Wikimedia Commons (public domain)
Bild 2: „Der Garten der Lüste”, Linke Tafel, Ausschnitt aus dem Hintergrund links

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