Geschrieben am 24. Februar 2023 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2023

Katrin Doerksen: Berlinale Tagebuch #3

Katrin Doerksen hat für uns wieder die Berlinale beobachtet und in lockerer Folge davon berichtet. Hier ihr Abschlussbericht. Der Auftakt für 2023 hier. Ihr Berlinale-Tagebuch #1 für dieses Jahr hier, ihr Tagebuch #2 hier. Und hier geht es zu ihren anderen Texten bei uns – d. Red.

In der Mitte der Funke

Wenn man eine Mine aus großer Höhe filmt, sieht es aus als sei die Erde pockennarbig. Das weiß ich von zwei sehr unterschiedlichen Filmen der letzten Tage. Einer davon ist der australische Wettbewerbsfilm Limbo von Ivan Sen, ein Wüstennoir in düsterem Schwarzweiß. Travis (Simon Baker) liegt auf dem Bett in einem Hotelzimmer, das direkt in einen Felsen gefräst ist. Sein Gesicht so tief gefurcht wie die raue Wand, das Heroinbesteck auf dem Nachttisch, Pistole unterm Bett. Gelinde gesagt ist es eine Überraschung, dass er sich kurz darauf als der Ermittler dieser Geschichte herausstellt, in die südaustralische Minenstadt Coober Pedy geschickt um einen unaufgeklärten Mordfall zu untersuchen. Vor zwanzig Jahren ist Charlotte Hayes verschwunden, eine junge Aboriginal-Frau. Der Hauptverdächtige ist seither gestorben, ihre Familie untereinander zerstritten und mit Polizisten, so viel immerhin ist in der Stadt Konsens, redet man nicht. Schon gar nicht, wenn sie weiß sind.

Simon Baker, Natasha Wanganeen in Limbo (AUS 2023), Regie: Ivan Sen. Sektion: Wettbewerb 2023 © Bunya Productions

Der Film folgt Travis bei seinen Streifzügen durch die Stadt, in der viele Menschen der Hitze wegen in unterirdischen Wohnhöhlen leben. Wie er versucht eine Spur aufzunehmen, langsam Kontakt zu Charlottes Familie knüpft und dabei Unschmeichelhaftes über die Vorgehensweise der hiesigen Polizei erfährt. Aber der große Reiz des Films ist zweifelsohne die Landschaft, die direkt hinter der Stadtgrenze beginnt. Eine Felswüste, durchlöchert von unzähligen Stollen und Schächten, die die begehrten Opale zutage fördern sollen. Ausgerechnet das Mineral, das über seine Verarbeitung als Schmuckstein hinaus keine andere Funktion hat. In Sedimenten eingeschlossene und unter Duck gesetzte Flüssigkeit, Millionen Jahre alt, irgendwann von Menschen geerntet und sich zueigen gemacht. Es liegt schon eine gewisse Ironie in der Tatsache, dass ausgerechnet dieser durchlöcherte, ausgelaugte Boden solche Schönheit hervorbringt.

Or de vie | A Golden Life (BFA, BEN, FRA 2023), Regie: Boubacar Sangaré. Sektion: Forum 2023 © Imedia/ Merveille Productions / Les Films de la caravane 

In Boubacar Sangarés Dokumentarfilm Or de Vie hingegen ist es Gold, das aus einer Mine in Sierra Leone gefördert wird; ein in vielerlei Hinsicht wesentlich unsubtileres Symbol für die Ausbeutung menschlicher Körper ganz im Sinne der globalen Wertschöpfungskette. Auch hier erhebt sich irgendwann eine Drohne und zeigt das entfernt an ein Hieronymus-Bosch-Gemälde erinnernde Minenterritorium aus der Höhe, aber zuvor folgt man einer Handvoll minderjähriger Arbeiter hinab in die Tiefen. Eine Szene bleibt besonders in Erinnerung, in der der 16-jährige Rasmané im Stollen schuftet, ohne Schutzkleidung, ausgestattet nur mit einer Spitzhacke. Mit der drischt er wie von Sinnen auf das Gestein vor ihm ein, bis man nicht mehr weiß, ob es Ausdruck einer tief sitzenden Wut auf die Verhältnisse oder schlicht der Härte des Materials vor ihm geschuldet ist.

Zurück im Licht sieht man, dass Rasmané schon einem alten Mann ähnelt. Grau im Gesicht, er raucht Kette, humpelt, schluckt Tabletten gegen die Schmerzen. Sangaré zeigt ihn und seine Kollegen bei der Arbeit und nach Feierabend und dabei stellt sich ein gutes Verständnis dafür ein, wie das Lager organisiert ist, die verschiedenen Gewerke ineinander greifen. Dabei das Ziel immer vor Augen: Rasmané und seine Freunde sprechen darüber, was sie machen wollen wenn sie der große Geldsegen ereilt: Neue Jeans, ein Moped, endlich hier weg. Die Hoffnung steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Doch als einer tatsächlich ein Klümpchen Gold findet, verpufft die Euphorie. In einem schäbigen Büro tauscht er die Stunden harter Arbeit gegen umgerechnete 167 Euro um, eine freudlose Transaktion. Sie ist besser da, als dass sie nicht da wäre, aber wirklich etwas verändern kann sie nicht. 

Suzume (JPN 2022) Regie: Makoto Shinkai. Sektion: Wettbewerb 2023 © 2022 „Suzume“ Film Partners

Suzume ist der erste Anime im Berlinale-Wettbewerb seit Chihiros Reise ins Zauberland – klar, dass der Ort, an dem die Geschichte ihren Ausgangspunkt findet, ausgerechnet die auf der japanischen Hauptinsel Kyushu gelegene Küstenstadt mit dem schönen Namen Miyazaki ist. Makoto Shinkai hat noch nicht ganz Studio-Ghibli-Legendenstatus erreicht (wenn Your Name auch 2016 Chihiro als weltweit kommerziell erfolgreichster Anime ablöste) aber er ist drauf und dran. Auch Suzume feuert von Anfang bis Ende wieder audiovisuell und emotional aus allen Rohren. Das ist speziell dann gar nicht so leicht zu verdauen, wenn man noch frisch einen Kater betrauert.

In Miyazaki also lässt sich die Oberschülerin Suzume von einem schönen jungen Mann von ihrem Schulweg ablenken, der sie nach Ruinen in der Gegend fragt. Einem Impuls folgend sucht sie selbst ein verlassenes Viertel in den Bergen auf und stößt inmitten eines halb verfallenen Badehauses auf eine Tür. Einmal geöffnet, bricht daraus das Unheil hervor und immer mehr solcher Portale öffnen sich in ganz Japan. Seinen Lebensthemen treu bleibend bettet Makoto Shinkai in Suzume eine Coming-of-Age-Romanze in eine historische Kontinuität epischer Naturkatastrophen vom großen Kanto-Erdbeben 1923 bis zum Tsunami von 2011 und seinen bis heute spürbaren Auswirkungen ein. Zugleich ist der Film auch Teil einer narrativen Kontinuität: In zahllosen Manga und Anime stehen junge Mädchen im Bunde mit Göttern und Naturgeistern, um eine aus den Fugen geratene Welt wieder ins Lot zu bringen. Mindestens ebenso wie an Chihiro erinnern Suzumes Schuluniform und die sprechenden Katzen an Sailor Moon. Wobei, einen entscheidenden Unterschied gibt es: Im Gegensatz zu vielen Magical-Girl-Geschichten ordnet Makoto Shinkai die Kräfte in seinem Film nicht in simple Gut-Böse-Schubladen. Er zeigt die Natur als eine Macht komplett jenseits menschlicher Maßstäbe von Moral und Ethik, in der gegensätzliche Gewalten aneinander zerren wie sich verschiebende Erdplatten. Umso bedeutsamer wird das zutiefst menschliche Vermögen sich an Verlorenes zu erinnern und Empathie zu empfinden.

Leonard Scheicher, Girley Charlene Jazama in Der vermessene Mensch (DEU 2022), Regie: Lars Kraume. Sektion: Berlinale Special 2023 © Julia Terjung / Studiocanal 

Meine kurzen Ausflüge in die Special-Galas der Berlinale stehen allesamt unter keinem glücklichen Stern. Der vermessene Mensch ist zum Beispiel ein Film, über den man eine dieser leidlichen Einerseits-Andererseits-Kritiken schreiben müsste. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nur mit den besten Absichten gedreht wurde und wenn er auch nur eine Handvoll Zuschauer dazu bringt hinterher sein Sujet zu googeln, das abgesehen von ein paar Feuilletondebatten um die Rückgabe afrikanischer Kunst ja nirgends öffentlich stattfindet, dann will ich überhaupt nichts gesagt haben.

Das Problem ist nur: Der vermessene Mensch gibt vor ein Film über die unrühmliche deutsche Kolonialgeschichte im heutigen Namibia zu sein. Tatsächlich ist er aber ein Film über eine verletzliche deutsche Wissenschaftlerseele. Alexander Hoffmann (Leonard Schleicher) will das Erbe seines Vaters fortsetzen, der als Ethnologe der ersten Stunde die Welt bereiste, und zufällig studiert er nun einmal zu einer Zeit, als die noch junge akademische Disziplin fest im Griff der evolutionistischen Rassentheorie steht. Bei der Völkerschau lernt er die zur Teilnahme gezwungene Kezia (Girley Charlene Jazama) von der Herero-Delegation kennen – und als er ein paar Jahre später als Teil einer Expedition Zeuge des Genozids an den Herero und Nama wird, setzt er alles daran sie wiederzufinden.

Schon allein diese Figurenkonstellation macht es dem Publikum ziemlich einfach. Sie erlaubt es fein säuberlich zu unterscheiden zwischen: dem sympathisch naiv-idealistischen Protagonisten (der auch noch aussieht als würde er heute in Neukölln leben und irgendwas mit Medien machen) und seinen ordentlich gescheitelten Herrenmenschen von Wissenschaftskollegen. Später zwischen den brutalen Verbrechern um General von Trothas kaiserlicher Armee und den barmherzigen deutschen Missionaren. Alexander Hoffmann ist in dieser Geschichte zwar alles andere als ein strahlender Held. Aber seine Ambivalenzen scheinen allein zu existieren, um ihn als Figur interessanter zu machen. Kezia darf ein bisschen stumm weinen, als er ihr den Schädel vermisst, widerwillig zwar, aber es eben doch tut, und dann geht es darum, dass seine Karriere ins Stocken gerät, sobald er die Theorien seines Doktorvaters hinterfragt (eine Konfrontation übrigens, die das Drehbuch im Kern auf einen unterkomplexen Millennial-Boomer-Generationenkonflikt herunter bricht). Hoffmann ist auch die Stimme des Gewissens, wenn ihm die Tränen in den Augen stehen, als die kaiserliche Schutztruppe tausende Menschen zum Verdursten in die Wüste schickt; er ist ein lebendig vom Film dargebotenes Identifikationsangebot. Am Ende sollen drei vage formulierte Textzeilen auf schwarzem Grund den historischen Kontext liefern und als dabei im Abspann ein traditionelles Lied der Herero erklingt, fällt einem spätestens auf, wie wenig man nach wie vor von ihnen weiß. In dem, was Regisseur Lars Kraume da macht, ist er schon effizient, er spart weder an ausstatterischen Details noch erspart er seinem Publikum historisch verbürgte Grausamkeiten. Aber wenn die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte an diesem Punkt stehen bleibt, dann ist der Weg wirklich noch weit.

Es ist zwar ein ziemlicher Bruch mit der Chronologie, aber ich möchte Christian Petzolds wunderbaren Roter Himmel gern als letzten großen Höhepunkt der Berlinale in Erinnerung behalten. Hier laufen gleich mehrere Fäden des Jahrgangs für mich zusammen. Nach Volker Koepps dokumentarischer Annäherung an Uwe Johnson in Gehen und Bleiben wird der Schriftsteller hier noch einmal zum Symbol, an dem es sich abzuarbeiten gilt. Wir haben in Sreemoyee Singhs Dokumentarfilm And, Towards Happy Alleys – einer poetischen Bestandsaufnahme der iranischen Kulturszene – den erst kürzlich wieder aus der Haft entlassenen Jafar Panahi gesehen, der in einem sehr verletzlichen Moment erzählt, dass er einst versuchte am Strand aus einem seiner Filme ins Wasser zu gehen, doch die Wellen hätten ihn wieder ausgespuckt und er habe von da an gewusst, dass er einen Weg finden müsse trotz seines Berufsverbots Filme zu machen. Dann kam Hong Sang-soos in water, in dem eine eindeutige Alter-Ego-Figur von den Anzeichen schwerer Depressionen gezeichnet einen tieftraurigen Kurzfilm dreht, der ebenfalls am Strand endet. Und schließlich Roter Himmel: Noch ein Künstler, den es auf der Suche nach dem kreativen Funken zum Meer hin zieht.

Thomas Schubert, Paula Beer, Langston Uibel, Enno Trebs in Roter Himmel (DEU 2023), Regie: Christian Petzold. Sektion: Wettbewerb 2023 © Christian Schulz / Schramm Film

Leon (Thomas Schubert) quartiert sich mit seinem Kumpel Felix (Langston Uibel) im Haus von dessen Eltern direkt hinterm Strand ein, um in Ruhe sein zweites Romanmanuskript zu überarbeiten. Doch im Haus wohnt schon jemand: Nadja (Paula Beer), die Tochter irgendeiner Bekannten der Eltern, die erstmal nur als nächtliches Stöhnen auf der anderen Seite der dünnen Wände vorkommt. Leon ist ein stählerner Verzichter und Thomas Schubert spielt das herrlich: Wie er passiv aggressiv mit den Augen rollt, sich hinter preußischer Arbeitsmoral verschanzt und dabei natürlich nichts gebacken kriegt. Das glatte Gegenteil zu Felix, der an seiner Bewerbungsmappe für die UdK arbeitet und sich ganz auf diese kleine Sommerwelt einlässt: Schwimmen gehen, in den Tag hineinleben, wild flirten. Auf dieser Ebene ist Roter Himmel eine Komödie über die unergründlichen Wege der Inspiration und künstlerische Minderwertigkeitskomplexe. Aber er ist nach Undine auch der zweite Teil von Petzolds Trilogie über die deutsche Romantik, Heine wird gleich doppelt zitiert.

Das Drama kündigt sich mit einem rot glühenden Himmel an, in Mecklenburg-Vorpommern stehen die Wälder in Flammen und zuerst steht der Wind noch günstig; meist bläst er frisch vom Meer her. Dann geht alles ganz schnell: Sobald er vom Land her kommt, kann niemand mehr kontrollieren, was er mit sich bringt. Dem Künstler bleibt ein schmaler Streifen Sand: Links davon das blau glühende Meer, rechts davon das rot glühende Land, in der Mitte der Funke.

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