Sie ist eine der besten Filmkritikerinnen der Republik und wir freuen uns, dass Katrin Doerksen für uns wieder die Berlinale beobachtet und in lockerer Folge davon berichtet. – Schauen Sie gerne wieder vorbei. Ihr Vorbericht für 2023 hier. Ihr Berlinale-Tagebuch #1 für dieses Jahr hier. Und hier geht es zu ihren anderen Texten bei uns – d. Red.
Dem Tod ein Schnippchen geschlagen

POV: Du siehst drei Fremde ins Gespräch vertieft an der Bar sitzen und überlegst, wie sie in Relation zueinander stehen. Mit so einem point-of-view-shot beginnt Past Lives, eines der Regiedebüts im Wettbewerb, diesmal von der bisherigen Theaterautorin Celine Song. Ich weiß nicht, wie oft ich selbst schon beim Leute Beobachten im Café solche Überlegungen angestellt habe. Aber in der Regel erfährt man dann nicht die wahre Geschichte. Hier ist sie ungewöhnlich und aus dem Leben gegriffen, melodramatisch und antiklimaktisch zugleich. Schulfreunde aus Seoul, ein Mädchen und ein Junge auf einem Date, sie halten Händchen. Es ist ihr erstes und ihr letztes Date, denn kurz darauf immigriert die Familie des Mädchens aus Südkorea nach Kanada. Jahre vergehen, doch der Gedanke aneinander lässt die beiden nicht los. Sie finden sich über Facebook, skypen stundenlang, verlieren sich wieder aus den Augen, führen ihre Leben, das Mädchen heiratet. Dann die zweite Wiedervereinigung, nach zwanzig Jahren wollen sie sich erstmals in New York treffen.
Wir haben solche Geschichten schon Tausend mal gesehen, schon klar. Aber zu allermeist läuft es doch so: Mädchen erkennt, dass es jahrelang seine wahren Gefühle verdrängt hat, entscheidet sich nach einigem Hin und Her für die große Kindheitsliebe; Ehemann fällt derweil je nach Drehbuchmuster fies und unsympathisch aus oder ist einfach ein Trottel, der am Ende glücklicherweise ebenfalls jemand Neues kennenlernt. Oh, und noch einen entscheidenden Punkt hätte ich beinahe vergessen: Die Figuren in solchen RomComs sind für gewöhnlich weiß.
Past Lives mag auf einem alten Schnittmuster beruhen, es nicht einmal radikal auf links drehen. Celine Songs Drehbuch filtert genau genommen nur die toxischen Elemente heraus bis etwas sehr Pures übrig bleibt: Drei zentrale Figuren, die komplexe, manchmal maximal widersprüchliche Gefühle in sich tragen, die zögern, Angst haben, aber letztlich ihre Beziehungen mit großem gegenseitigem Vertrauen pflegen. Klar sorgt das nicht für den guten alten Dramafaktor. Past Lives ist ein formal eher unauffälliger Film mit beobachtender Kamera, eine kleine Utopie emotionaler Intelligenz. Und: Er bringt eine dezidiert migrantische Perspektive in die Welt des hippen A24-Indiekinos, ohne diese automatisch zu problematisieren. Dass nach einer kleinen Welle erfolgreich verlegter asiatisch-amerikanischer Literatur quer durch die Genres nun auch vermehrt entsprechende Filme folgen, ist, finde ich, per se schon ein Grund zur Freude.
Nur um es kurz erwähnt zu haben: Mit Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste liefert Margarethe von Trotta bis auf einige wenige Ausreißer-Momente ihr gewohnt museales Ausstattungskino ab – ein Flashback zu Kosslick-Berlinalen, der weder sonderlich verärgert, noch nachhaltig in Erinnerung bleibt.
Ein schönes filmisches Experiment: Im Encounters-Beitrag The Klezmer Project verliebt sich ein argentinischer Hochzeitsfilmer in eine Klarinettistin und gibt, um sie zu beeindrucken, vor einen Dokumentarfilm über Klezmer zu drehen. Die Lüge geht sogar so weit, dass die beiden nach Osteuropa reisen, mit einem klapprigen Van durch rumänische und moldawische Dörfer fahren und Musiker filmen. Die Filmemacher selbst – Leandro Koch und Paloma Schachmann – spielen dabei übrigens die Hauptrollen. Eine gelungene Verschränkung von Spiel- und Dokumentarfilm und eine wissbegierige Suche nach den Überbleibseln gelebter jiddischer Kultur.

Tags darauf ist der inoffizielle Familientag der Berlinale. Philippe Garrel erzählt in Le grand chariot von einer Familie, die über mehrere Generationen hinweg ein Puppentheater betreibt. Der Film wirkt aus der Zeit gefallen, absichtlich: Zeit und exakter Ort der Handlung sind lange kaum zuzuordnen, es geht um eine langsam aussterbende Kunst, eine langsam verschwindende Generation und eine Nachwachsende, die sich überlegen muss wie sie sich zu diesem Erbe verhält. Ich habe an dieser Art französischer Autorenfilme überhaupt nichts Gravierendes herumzukritteln, sie sprechen nur einfach nicht zu mir.

Mehr kann ich da schon mit Tótem anfangen. Im mexikanischen Drama von Lila Avilés wird ebenfalls eine Familie mit dem Tod konfrontiert: Mit großem Aufwand wird eine Geburtstagsparty für Tona vorbereitet, die höchstwahrscheinlich auch eine Abschiedsparty sein wird. Tona hat noch kein einziges graues Haar, dafür aber auch kaum noch Kraft um allein aus seinem Bett aufzustehen. Die meiste Zeit bleibt er in seinem Zimmer – im übrigen Haus währenddessen rege Geschäftigkeit: Eine Pflegerin, ein mürrischer Vater, drei erwachsene Schwestern im Bad, beim Aufräumen, Kuchen backen, dazwischen spielende Kinder, die gelegentlich zum Helfen eingespannt werden. Eine Schamanin vertreibt mit Rauch böse Geister aus den Zimmern, dann die ersten eintreffenden Gäste, Hunde, Katzen, Fische, Vögel.
Der einzige Ruhepol inmitten dieses geschäftigen Treibens ist Sol, die kleine Tochter des Sterbenden. Beharrlich versucht sie immer wieder hinter die geschlossene Tür zu ihrem Vater vorzudringen, wird wiederholt abgewiesen. Ihr dämmert die Schwere dieses Augenblickes. Genau an der Kippstelle zwischen Kindheit und einer ersten Ahnung vom Ernst des Lebens und seinem unweigerlichen Ende verkörpert sie das titelgebende Totem. Der Begriff stammt aus der Ethnologie und bezeichnet ein häufig tierisches Symbol, das die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe mythisch auflädt. Tótem ist alles andere als ein Fantasyfilm, aber an der Art, wie er stets im engen Kreis dieses von sehr resoluten Frauen organisierten Hauses bleibt, schwingt tatsächlich etwas Mythisches mit, wie in einem Coven. Als trügen sie eine Art intuitives, okkultes Wissen um die Bedeutung des Alltäglichen in sich. So lange man sich im Bad schminkt, Kuchen bäckt, die Kinder zum Mithelfen schleppt, Streits aushält und gemeinsam Lieder singt, dreht sich die Welt irgendwie weiter.

Der nächste deutsche Film im Wettbewerb und es dauert ziemlich lang, bis die Musik kommt. Die überwiegende Zeit ist Angela Schanelecs Music fast so etwas wie ein Stummfilm. Keine Musik jedenfalls und auch fast kein gesprochenes Wort. Das unterstreicht das Gleichnishafte dieser sehr konzentrierten Ödipus-Adaption, in der der Protagonist, der hier Ion heißt (Aliocha Schneider), nach einem tragischen Unfall ins Gefängnis kommt und dort die Nähe einer seiner Wärterinnen sucht. Je mehr Schicksalsschläge sich häufen, desto heftiger dringt die Musik in Ions Leben: Er singt wie ein Engel und um ihn herum sterben die Menschen wie die Fliegen.
Keine andere Regisseurin redet mir mit ihren Filmen so umfassende Minderwertigkeitskomplexe ein wie Angela Schanelec, bei der immer das Gefühl zurückbleibt, ich habe nur einen Bruchteil der Referenzen, Symbole und Bedeutungsebenen verstanden. Aber Music ist auch ein sinnlicher Film mit statuesken Schauspielern. Gesichtern wie aus Marmor gehauen (vor allem Aliocha Schneider, seinem Bruder Niels Schneider nicht unähnlich, der das engelsgleiche Objekt der Begierde in Xavier Dolans Herzensbrecher spielte). Mit barocken Vivaldi-Arien, Falconieri-Tänzen und zwei entscheidenden Fußballminuten für Italien im Halbfinale der WM 2006.

Der Tod lässt auch am folgenden Tag nicht locker. Es ist vielleicht noch zu früh für einen Dokumentarfilm über den Beginn der Pandemie im ersten europäischen Epizentrum Norditalien, denke ich während der ersten halben Stunde von Le mura di Bergamo. Das Kino leert sich rapide und ich bin auch kurz davor aufzustehen. Es beginnt mit schierer Reizüberflutung: Telefonaufzeichnungen der Notrufstellen, schweres Atmen, die Sirenen der Krankenwagen. Der italienische Dokumentarfilmer Stefano Savona schickt einen direkt zurück ins Frühjahr 2020. Plötzlich ist mir der Tag wieder präsent, an dem die New York Times die erste große Fotoreportage aus Bergamo veröffentlichte und die Folgen von Covid-19 plötzlich nichts Abstraktes mehr waren. Die Angst um die eigenen Eltern, die Unsicherheit.

Zum Glück bewahrheiten sich meine Befürchtungen nicht: Le mura di Bergamo ist keine zweistündige Tortur, wenn der Film auch furchtbar hart ist. Er folgt, wenn man so will, der Dramaturgie der Katastrophe selbst von ihrem lawinenartigen Ausbruch bis zur ersten Entspannung der Lage im Sommer 2020. Schrecklich sind die Aufnahmen auf der Intensivstation. Ärzte halten Hände, Menschen verschwinden unter Schläuchen und Sauerstoffhelmen, viel zu oft in Leichensäcken. Wer die Krankheit übersteht, muss in Quarantäne in ein Hotel. Auch hier ist die Stimmung gedrückt. Manche quält ein schlechtes Gewissen, weil sie überlebt haben. Andere wollen nicht nach Hause, weil dort inzwischen niemand mehr auf sie wartet. Dann widmet sich der Film den Arbeitern an der Front, einer Bestatterin, Seelsorgern, Freiwilligen, die für alte Menschen Einkäufe übernehmen. Als diese Freiwilligen beschließen Gedenkveranstaltungen für die Verstorbenen zu organisieren, stoßen sie auf die selbe Skepsis, die ich eingangs hatte: Ist es dafür nicht noch zu früh?
Am Ende bin ich froh, Le mura di Bergamo gesehen zu haben. Der Film ist eine Konfrontationstherapie, die einem am Ende der knapp zweieinhalb Stunden, nach langen Gesprächen über den Tod, aber eben auch über das Leben, das Gefühl gibt an etwas fundamental Menschlichem teilzuhaben. Zwischen seine eigenen Aufnahmen schneidet Savona historisches Material aus dem Amateurfilmarchiv von Bergamo: Darauf sind die Leute ewig jung, feiern, tanzen, lachen, umarmen einander, schlagen dem Tod ein Schnippchen. Ich gehe jetzt auch jemanden umarmen.
Katrin Doerksen