Geschrieben am 15. Januar 2011 von für Crimemag, Diez Negritos

Fortsetzungsroman: Diez Negritos – Ein ekelhafter Leichnam (8)

Der Roman: Ein ekelhafter Leichnam (Un cadáver asqueroso)

– 2009 begannen die Diez Negritos einen Online-Krimi zu verfassen. In ironischer Anlehnung an die surrealistische Methode des cadavre exquis („köstlicher Leichnahm“) betiteln sie ihren Gemeinschaftsroman mit „Ein ekelhafter Leichnam“ („Un cadáver asqueroso“); und tatsächlich präsentiert uns im ersten Kapitel ein Gerichtsmediziner einen unerklärlich ekelhaften Leichnam in einer Stadt, die Merkmale von allen möglichen hat und keine einzige ist …

Nach der Maxime von Paco Ignacio Taibo II, derzufolge die Anarchie die einzige natürliche Ordnung ist, folgt der Roman keinem vorgefertigten Plan und daher dürfen wir sicher mit der einen oder anderen Überraschung rechnen.

Die Autoren: Diez Negritos

Zehn spanischsprachige (Krimi-)Autoren haben sich im März 2009 unter der Koordination des französischen Literaturwissenschaftlers, Kritikers und Autors Sébastien Rutés zusammengeschlossen, um ein gemeinsames Blog zu verfassen: Paco Ignacio Taibo II, Antonio Lozano, Carlos Salem, Eduardo Monteverde, Juan Hernández Luna, Lorenzo Lunar, Rebeca Mugra, Sébastien Rutés, Jorge Belarmino Fernández und Juan Ramón Biedma. Im Sommer 2009 stießen die Spanierin Cristina Fallarás, der Italiener Bruno Arpaia und der Mexikaner Jorge Moch dazu, sodass aus den zehn kleinen Negerlein dreizehn wurden. Leider schrumpfte die Zahl im Juli 2010 durch den unerwarteten Tod von Juan Hernández Luna jedoch wieder auf zwölf.

Mit der Bezeichnung „Diez Negritos“ („Zehn kleine Negerlein“) spielen die Autoren nicht nur auf das Kinderlied, sondern auch auf den Roman „Ten Little Niggers“ von Agatha Christie an. Des Weiteren sind mit „Negritos“ natürlich die Verfasser von novelas negras (Kriminalromanen) gemeint. Das Gemeinschaftsblog ist in erster Linie ein Ort der Diskussion über Kriminalliteratur aber auch über viele angrenzende Themen und wird von dem französischen Verlag L’Atinoir unterstützt. Laufend publizieren die Autoren dort Essays, Erzählungen, Gedichte, Fotos, Zeichnungen, Gemälde, Kommentare, autobiografische Notizen …

Zu den Teilen 1 2, 3, 4, 5, 6 und 7

VIII
Tacos mit russischer Salsa

Rebeca Murga

übersetzt von Nadya Hartmann

Was heutzutage wirklich wichtig ist, sind die Drogen. Gewalt hat immer mit Drogen zu tun. Jeder Polizist, jeder Verbrecher hat damit zu tun. Der Drogenhandel ist das Verbrechen unserer Zeit. Der Drogenhandel bestimmt alles, wie ein Nimbus schwebt er über jedem Verbrechen.

Von Huren, Bootsflüchtlingen, die in der Karibik als Futter für die Haie enden oder perversen Priestern wollen wir längst nichts mehr hören. Das Kapitel ist abgeschlossen, Schnee von gestern. Was jetzt wichtig ist, sind die Dealer. Nicht die islamischen Fundamentalisten, nicht die Schwarzen. Weder Gold noch Diamanten, noch die arabischen Immigranten …

Der Drogenhandel, auf den kommt es an. Die guten Dealer holen sich keine nassen Füße mehr im Río Bravo; lieber überqueren sie den Atlantik und verkaufen ihre Waren an irgendeinen Russen, Polen, Tschechen …

Die Drogenbosse zählen und zahlen mehr als die alten Diktatoren hierzulande. Sie bezahlen sogar dafür, öffentlich beschuldigt zu werden, denn Ruhm flößt Furcht ein. Die Presse ist ihr Rückhalt. Sie zahlen, um von sich reden zu machen. Um zur Legende zu werden. Wir wollen keine sentimentale, politische oder religiöse Geschichte … Die Drogenbosse. Auf die kommt es an, sonst auf niemanden.

Auf dem Weg zur Polizeistation von Ninguna rekapituliert Bill Toledo, was ihm die vom Bundeskriminalamt eingebläut haben. „Die Drogendealer, Bill, die Drogendealer. Wir müssen jetzt hart durchgreifen. Die Zeiten, in denen wir hinter jämmerlichen Weicheiern her waren, die Eifersuchtsmorde begehen, oder erbärmlichen Politikern, die für die Kontrolle eines Kaffs oder einer Partei über einander herfallen, die Zeiten sind vorbei. Nein Bill, jetzt muss hart durchgegriffen werden. Es ist ein Kampf um die Weltherrschaft – von den Pharmaunternehmen bis hin zu den Verlagen, von den Waffenkonzernen bis zu den Herstellern von Sexspielzeug – d­as ist der dritte Weltkrieg, Bill Toledo. Europa und Amerika; Südamerika und Osteuropa, sie treffen erneut aufeinander.“

Am Eingang der Polizeistation, in gotischen Buchstaben geschrieben und über der Haupteingangstür platziert, hängt ein Plakat zur Begrüßung von Mayor Toledo.

„Herzlich Willkommen Kamerad Toledo“, liest der Beamte und erkennt in der verschnörkelten Handschrift die verschlagenen Absichten von Lázaro Andrés. „Wart’s nur ab, du kleine Schwuchtel, wart’s nur ab. Meine Anwesenheit hier wird nicht deinen Sieg bedeuten, sondern dein Verhängnis. Wenn du noch nicht herausgefunden hast, was das wahre Ninguna ist, dann bekommst du gleich die doppelte Ladung: Du wirst erfahren, was Ninguna mit Toledo ist.“

Der Mayor tritt über die Schwelle und folgt dem Gang, ohne Notiz von den Polizeibeamten zu nehmen, die ihn diszipliniert grüßen: die linke Hand auf der Brust, die rechte nach vorn gestreckt und senkrecht an die Stirn gelegt.

Mayor Toledo betritt das Büro.

Am Schreibtisch, in eben derselben Pose verharrend, steht Lázaro Andrés. Diese Tunte, lächerlich und lädiert: Der linke, geschiente Arm versucht, sich auf der Brust zu halten; die rechte Hand, mit den fünf gebrochenen Fingern unter dem Verband, liegt alles andere als senkrecht an der Stirn.

„Entspann dich und setz dich hin, Arschloch“, befiehlt der Mayor dem Teniente, „du siehst aus wie ne Schwuchtel.“

„Es ist mir wirklich eine Ehre, wieder mit Ihnen zu arbeiten, Mayor“, antwortet Lázaro Andrés und nimmt eine bequemere Haltung ein.“

„Eine Qual wird’s für dich sein, du halbgarer Homo. Bring mir Kaffee!“

Der Mayor macht es sich im Lehnstuhl gemütlich und legt die Beine auf den Schreibtisch; seine Schuhe stoßen gegen eine Vase mit Sonnenblumen.

„Seit wann gibt’s denn Blumen im Büro eines Polizisten? Du Tunte!“

„Verzeihung, Mayor. Ich vergaß, dass Sie keine Sonnenblumen mögen“, erwidert der dickliche Teniente, während er Toledo eine dampfende Tasse Kaffee reicht.

„Hör zu, Arschloch“, schnauzt der Mayor, „du weißt, ich bin nur auf der Durchreise. Da muss schon eine Regierungsverordnung kommen, um mich dazu zu bewegen, auch nur einen Fuß auf die Straßen dieser gottverdammten Stadt zu setzen. Ich kam, sah und siegte; so sieht’s aus und du wirst dir den Arsch aufreißen, dass es auch so sein wird.“

„Zu Befehl, Mayor. Ich kann Ihnen versichern, dass wir diesen Fall so schnell lösen werden, wie Sie wünschen. Ihre Geschichte motiviert mich; was auch immer da kommen mag, ich werde ihm die Stirn bieten. Ich kenne Ihre Vergangenheit, Mayor Bill Toledo, ich weiß von Ihrem Kampf für soziale Gerechtigkeit in dieser Stadt. Während meiner Tätigkeit in Ninguna habe ich mich über Ihre Heldentaten informiert, die Sie im Viertel Coso Bajo …“

„Diese ganze Schleimerei ist vollkommen unnötig“, fällt ihm Toledo ins Wort, „kommen wir zur Sache.“

„Wie Sie wünschen, Boss. Aber seien Sie gewiss, dass Ihre alten Freunde aus Coso Bajo zu einer Zusammenarbeit bereit wären, wenn wir Sie darum bitten …“

„Scheiß auf Coso Bajo!“ bellt der Mayor, springt auf und schlägt auf den Schreibtisch:

„Scheiß auf Coso Bajo!“ Er tritt die Vase mit den Sonnenblumen um.

„Entschuldigen Sie, Mayor. Ich wollte Sie nicht daran erinnern …“

„Wenn du deine Sache gut machst, du alte Schwuchtel, kann ich dich aus Ninguna rausholen. Wenn du deine Sache gut machst und dieses beschissene Viertel nie wieder erwähnst.“

„Wenn das eine Abmachung sein soll, bin ich einverstanden. Es ist ein Vergnügen, Sie als Chef zu haben. Aber kommen wir zur Sache, nicht wahr?“

Bill Toledo räuspert sich. Er geht ein paar Schritte durch den Raum, bevor er vor dem schwitzenden Dicken zum Stehen kommt.

„Wir haben es mit Drogendealern zu tun.“

Lázaro Andrés nickt.

„Aber der Brandherd des Ganzen ist weiter oben. Der Finanzminister ist verschwunden. Man munkelt, dass er kurz vor einer Amtsenthebung gestanden hat. Vielleicht hätte man ihn eines Tages als Zeitungsverkäufer in Ninguna wiedergesehen und alles wäre abgelaufen wie gewohnt; aber nein, er ist verschwunden. Aber es dreht sich hier nicht nur um Geld. Auch um Macht. Es gibt schon längst keine Regierung oder Staatsordnung und auch keine Diktatur mehr. Noch nicht einmal eine Polizei. Wir sind Marionetten. Und deshalb, für den Fall, dass du deinen stinkenden, behaarten Arsch retten willst, setzt ihn sofort in Bewegung und mach, was ich dir sage.“

„Korruption!“

„Korruption existiert nicht, du Schwachkopf. Korruption ist Vergangenheit. Früher, als es noch Gesetze gab, gab es auch Korruption. Aber mit der Straffreiheit verschwindet auch die Korruption. Die Drogenbosse herrschen und die kennen keine Gesetze.“

„Und das soll heißen …?“

„Weißt du, was mit ‚virtueller Realität‘ gemeint ist?“

„Ich glaube, ja.“

„Womit wir es zu tun haben, ist genau das: virtuelle Realität. Das geschminkte Gesicht der Realität. Ein Roman, der verdeckt, was darunter liegt. Ein Kunstwerk, das – schließlich ist es ja Kunst – nur dazu dient, uns glauben zu machen, Realität sei etwas anderes. Wir schreiben einen Roman. Ich denke, du schuftest –­ hat dein Schwachmaten-Hirn das verstanden?

„Ich glaube, ich hab’s verstanden … Ja, Boss …“

„Du musst es ja gar nicht verstehen. Es geht um die Drogendealer. Es ist wichtig, dass du das weißt. Die Drogendealer. Unsere Aufgabe ist es nur, einen Namen zu liefern und zwar von dem, der sich die Hände schmutzig gemacht hat.“

„Und wobei genau?“

„Beim Anschlag auf die Pathologie.“

„Und der Rest? Die ausgetauschten Leichen?“

„Das ist erstmal Nebensache. In einem guten Roman sind alle Mittel erlaubt und um ihn glaubhaft zu machen, hat man ja die Romanfiguren: eine geheimnisvolle Ärztin mit verächtlichem Blick, eine Blondine mit scharlachrotem Rock und Rotlicht-Vergangenheit, sogar eine weißrussische Hexe!“

„Und welchem der großen Capos hängen wir dann die Schuld an, Mayor?“

„Das ist nicht mehr unsere Aufgabe, du zurückgebliebene Schwabbelbacke. Die Drogenbosse bezahlen, das Bundeskriminalamt handelt, wir erfinden die Geschichte.“

„Köstlicher Leichnam!“

„Ekelhafer Leichnam. Welcher Capo daran glauben muss, entscheidet sich oben, sehr viel weiter oben. Genau in diesem Moment erhöhen die Gauner ihr Gebot. Die Auktion hat begonnen.“

*

Caronte ruht sich aus. So scheint es zumindest. Die Augen geschlossen, Arme und Beine seitlich am Körper ausgestreckt. Vielleicht würden ihm die Beruhigungsmittel, die im Blutstrom aufgelöst durch seinen Körper fließen, endlich den erholsamen Schlaf bringen.

Caronte versucht sich zu erholen. Nur zwei Stunden Schlaf, mehr nicht, bevor er zu seinem Tisch aus unvergesslichem Stahl zurückkehren wird. Wie anders das Leben ausgesehen hat, als er zehn Jahre alt war! Mit welcher Kraft seine kindlichen Schultern die schwere Last trugen, die seine Mutter ihnen aufbürdete, die Mission, einen perfekten Leichnam zu schaffen, ehrwürdig, schön!

Die Angst, die Überraschung, die Uhrzeit, die Zweifel … Caronte weiß, dass das nicht die Gründe sind, die ihn am Einschlafen hindern. Vielleicht liegt es daran, dass er sich nicht auf die linke Seite rollen kann, nun, da die Augenklappe ihn dazu zwingt, wie der Journalist Walter Martínez herumzulaufen.

Als Kind gewöhnte er sich an, auf der linken Seite zu schlafen; nur auf diese Weise war es absolut still. So war er taub für die Verwürfe des frustrierten Arztes, der sein Vater war und er musste das Klagen nicht hören, das vor dem Türspalt lauerte wie ein bedrohlicher Eindringling. Taub, um die Schreie seiner Mutter ignorieren zu können, die ständige Wiederholung desselben Wortlauts: „Ich bringe sie um. Ich schwöre dir, ich bringe sie um.“

Caronte begreift, dass es für ihn nicht das schlimmste Unglück wäre, taub zu sein. Das Schlimmste wäre gewesen, wenn jener Splitter sich tief in sein Auge gebohrt und damit seinen Träumen als Forensiker den Todesstoß versetzt hätte. Und noch furchtbarer war die Vorstellung, an derselben Art Leere leiden zu müssen wie jener Tote, dem man an der Stelle der Augen direkt in die Seele blicken konnte.

„Taub zu sein, wäre zu ertragen“, denkt er.

„Blind zu sein, unmöglich.“

Die Bilder des Attentats laufen vor seinem geistigen Auge ab wie Szenen eines alten Films: die Ungeduld des Teniente Lázaro Andrés, die erste Explosion und das erste Jaulen in seinem Kopf; die Splittergranate und die vielen Toten; die Erleichterung, seinen unfähigen und treuen Betito am Leben zu wissen; die überraschende Ankunft des Doktor Luna und der Bundespolizisten.

In seinen fast zwanzig Jahren in der Pathologie hatte er nie Besuch von der Bundespolizei bekommen. Nie, bis zwei seiner Leichname in Fälle von Auftauchen, Austauschen  und Verschwinden verwickelt wurden: Nicolas Noletti, ein Landstreicher mit schwachem Herzen, den er in ein Musterbild eines aufstrebenden Geschäftsmannes verwandelt hatte, und der ekelhafte Leichnam.

„Sollte Betito etwa Recht haben und ich wäre nichts weiter als ein guter Mensch? Armer Betito, er begreift nicht, was zwischen Himmel und Erde geschieht.“

Wenn es doch so ist, wie er meint, dass er seiner Mission treu geblieben ist, die Spuren zu beseitigen, die das Leben auf den Körpern der Toten hinterlassen hatte, warum dann das ganze Aufhebens, das die Bundespolizei um den Landstreicher Nicolás Noletti veranstaltet? Warum das anhaltende Gekreische der Blondine mit dem scharlachroten Rock, anstatt das Geld des Verstorbenen einfach einzustreichen? Warum die Bomben?

Die Erinnerungen führen Caronte zurück zum Sarg von Nicolás Noletti: vom ehrenwerten Familienvater zum edelmütigem Geschäftsmann, vom beispielhaften Ehemann zum Nutznießer der Gefälligkeiten seiner Sekretärin, von den unentbehrlichen rauschenden Geschäften zu den blitzblanken Büros irgendeines Ministeriums.

Der Landstreicher Nicolás Noletti.

Nicolás Noletti, der Geschäftsmann.

Der Abgeordnete Nicolás Noletti!

Dieser junge und ehrwürdige Noletti, der mit kaum fünfunddreißig Jahren in die Skandale verwickelt wurde, die dem Novellierungsprozess vorausgingen. Der jüngste von allen Abgeordneten, abgesetzt!

Caronte wird klar, dass ein schwarzer Nadelstreifenanzug auch eine unvermutet weitreichende Hilfe sein kann. In seiner Besessenheit, die Spuren auf den Körpern der Leichen auszulöschen, war ihm entgangen, dass dort ein als Landstreicher Verkleideter in seine Pathologie gekommen war und dass er den wahren, schon gereiften Noletti an das Leben zurück gegeben hatte.

An das Leben und die Bundespolizisten.

Caronte verlangt es nach Schlaf; was ihn jedoch nun davon abhält, ist das Bild dieses anderen jungen Mannes, der es mit kaum fünfunddreißig Jahren zu dem Spitznamen ‚ekelhafter Leichnam‘ gebracht hat.

Es war das Gesicht eines anderen Toten; Caronte erinnert sich an dieses Detail, weil ihm das Unglück dieser identischen Gesichter leidgetan hatte, die, ohne sich zu kennen, durchs Leben gingen, auf der Suche nach Nahrung, Sex und Luft. Von den Ramblas bis zur Plaza de Mayo. Vom Zócalo bis zur Villa Triste. Vom Hügel in Petare bis zur Landzunge von Trastévere – jeder seinem eigenen Kurs folgend, der am Ende ihres Weges zusammenlaufen sollte.

„Identische Gesichter“, denkt Caronte.

Wie diese Zwillingsbrüder, die sich in Augusta hatten aufstellen lassen, der Hauptstadt seines Heimatlandes, um den unumgänglichen und gerechten Wandel zur Not mit bloßen Fäusten zu verteidigen, der das Heimatland zu einem Paradies auf Erden machen würde. Und, wie es sich für gute Revolutionäre gehört, hatten sie Großes im Sinn: Gesundheitsminister, Finanzminister …

Maximiliano und Eulogio Alfredo García: zwei identische Arrivisten von Augustas Polit-Aristokratie, Kampfgenossen. Bis zu dem Tag, an dem Maximiliano, Anwärter auf das Amt des Generals des nationalen Heeres, sagte: „Eulogio hat, als er Guerillerakämpfer war, Bauersfrauen vergewaltigt.”

Eulogio wurde abgesägt.

Verdammt zu schmutzigen Einsätzen in Ninguna.

Einsam wie der Mann in dem Lied, der mit den vielen Händen und ohne Freunde.

Und ohne Bruder.

In den zehn Jahren, die Caronte mit seinem Vater erlebte, wurde kein Wort über den ehrenwerten Bruder verloren, der das Heer des Heimatlandes befehligte; diesen grundanständigen Offizier, dessen erfolgreiche politische Karriere von der Presse begleitet wurde und den das Leben viele Jahre später mit einem Sohn belohnen sollte.

Caronte hat einen Cousin. Kaum fünfunddreißig Jahre reichten diesem, Minister zu werden; der jüngste Minister des Heimatlandes.

Ein Sohn von Onkel Maximiliano, der dazu bereit war, diesen einzigartigen und ewigwährenden Wandel mit Fäusten zu verteidigen, an dem sein Vater einige Jahrzehnte zuvor beteiligt gewesen war: der unumkehrbare Wandel des Heimatlandes.

Ein Erbe, der Großes vorhatte: der Finanzminister.

Ein Stück Fleisch vom gleichen Blut. Das Gesicht verunstaltet, aber nicht gänzlich entstellt. Nicht soweit, dass die familientypischen Gesichtszüge nicht mehr zu erkennen gewesen wären: das Gesicht seines Vaters Eulogio, das Gesicht seines Onkels Maximiliano, sein eigenes Gesicht mit fünfunddreißig Jahren. Das Gesicht seines einzigen Cousins.

Drei feine Stiche. Ein Herz, auf die Sekunde genau angehalten, in einem ekelhaften Leichnam. Ein fünfunddreißigjähriger Körper, der nicht mehr durchs Leben gehen konnte, auf der Suche nach Nahrung, Sex und Luft.

Caronte weiß, dass an Einschlafen nicht mehr zu denken ist. Da er nicht in der Lage ist, sich auf die linke Körperhälfte zu drehen, geht er spazieren. Er überlegt, wie gut ihm ein Schluck Pálido-Rum tun würde; noch besser, eine Flasche Santiago-Rum. „Verfluchte Beruhigungsmittel. Verdammte Internisten und beschissene Chirurgen.“

Er läuft weiter. Er sucht Toledo. Er muss sich ein Gesicht von der Seele reißen.

Rebeca Murga, 1973 in Havanna geboren, ist Schriftstellerin und Literaturkritikerin. Sie studierte Fremdsprachendidaktik, koordiniert eine Schreibwerkstatt und ist Mitglied der kubanischen Schriftstellervereinigung. Zu ihren Veröffentlichungen gehören Romane, Erzählbände und Kinderbücher: „La enfermedad del beso y otras dolencias de amor“ (2008), „El esclavo y la palabra“ (2008); „La enfermedad del beso“ (2006); „Historias al margen“ (2005); „Desnudo de mujer“ (1998); und in Koautorschaft mit Lorenzo Lunar „Un hombre de vasos capilares“ (2005). Ihre Erzählungen erscheinen in Antholgien in Kuba und im Ausland. Verschiedene Literaturzeitschriften publizierten ihre Erzählungen, Artikel und Rezensionen. Für ihre Werke erhielt sie mehrere Preise.

Nadya Hartmann, geboren 1985, studiert Romanistik (Französisch und Spanisch) und Soziologie an der Universität Göttingen. Nach einem Auslandsaufenthalt in Frankreich (Rouen) arbeitete sie für ein Jahr als Volontärin am Literarischen Zentrum in Göttingen und absolvierte Praktika u.a. beim zdf in Hannover und am Institut français in Bremen. Zur Zeit schreibt sie ihre Magisterarbeit über den Wahnsinn in den Novellen von Guy de Maupassant.