Geschrieben am 11. November 2010 von für Crimemag, Diez Negritos

Fortsetzungsroman: Diez Negritos – Ein ekelhafter Leichnam (1)

„Ein ekelhafter Leichnam“

Vergangenes Jahr begannen die Diez Negritos einen Online-Krimi zu verfassen. In ironischer Anlehnung an die surrealistische Methode des cadavre exquis („köstlicher Leichnahm“) betiteln sie ihren Gemeinschaftsroman mit „Ein ekelhafter Leichnam“ („Un cadáver asqueroso“); und tatsächlich präsentiert uns im ersten Kapitel ein Gerichtsmediziner einen unerklärlich ekelhaften Leichnam in einer Stadt, die Merkmale von allen möglichen hat und keine einzige ist … Doris Wieser hat für uns übersetzt.

Nach der Maxime von Paco Ignacio Taibo II, derzufolge die Anarchie die einzige natürliche Ordnung ist, folgt der Roman keinem vorgefertigten Plan und daher dürfen wir sicher mit der einen oder anderen Überraschung rechnen.

Die Autoren: Diez Negritos

Zehn spanischsprachige (Krimi-)Autoren haben sich im März 2009 unter der Koordination des französischen Literaturwissenschaftlers, Kritikers und Autors Sébastien Rutés zusammengeschlossen, um ein gemeinsames Blog zu verfassen: Paco Ignacio Taibo II, Antonio Lozano, Carlos Salem, Eduardo Monteverde, Juan Hernández Luna, Lorenzo Lunar, Rebeca Mugra, Sébastien Rutés, Jorge Belarmino Fernández und Juan Ramón Biedma. Im Sommer 2009 stießen die Spanierin Cristina Fallarás, der Italiener Bruno Arpaia und der Mexikaner Jorge Moch dazu, sodass aus den zehn kleinen Negerlein dreizehn wurden. Leider schrumpfte die Zahl im Juli dieses Jahres durch den unerwarteten Tod von Juan Hernández Luna jedoch wieder auf zwölf.

Mit der Bezeichnung „Diez Negritos“ („Zehn kleine Negerlein“) spielen die Autoren nicht nur auf das Kinderlied, sondern auch auf den Roman „Ten Little Niggers“ von Agatha Christie an. Des Weiteren sind mit „Negritos“ natürlich die Verfasser von novelas negras (Kriminalromanen) gemeint. Das Gemeinschafts-Blog ist in erster Linie ein Ort der Diskussion über Kriminalliteratur, aber auch über viele angrenzende Themen und wird von dem französischen Verlag L’Atinoir unterstützt. Laufend publizieren die Autoren dort Essays, Erzählungen, Gedichte, Fotos, Zeichnungen, Gemälde, Kommentare, autobiographische Notizen …

Die Übersetzerinnen

Doris Wieser koordiniert und lektoriert fürs CrimeMag die Übersetzung des Fortsetzungsromans. Ein Team junger Literaturübersetzerinnen der Universitäten Düsseldorf und Göttingen übertragen den Roman Stück für Stück ins Deutsche:

Annika Loose, Carina Nehring, Katharina Meyer, Dorothee Calvillo, Jenny Merling, Nadya Hartmann, Friederike von Criegern de Guiñazú und Doris Wieser.

Über Übersetzungsaufträge würden wir uns freuen!

Es geht los:

1 „Ein ekelhafter Leichnam“

Carlos Salem

Übersetzt von Doris Wieser

In meiner knapp fünfundzwanzigjährigen Laufbahn als Gerichtsmediziner von Ninguna waren mir beinahe schon alle Arten von Leichen untergekommen: in Puzzelteile zerstückelte, anscheinend unversehrte, aber innen hohle, scheinbar auf Kohlen gegrillte, korrupte Politiker mit integren Körpern, schwangere Jungfrauen, unbefleckte Huren, passionierte und passive Tote, solche ohne Ohren, mit ausgefransten Lippen, abgerissenen Eiern und Eierköpfen; Tote, denen man das Fell über die Ohren gezogen hat und die so haarig wie Bären waren, Tote aus Liebe, Einsamkeit oder Ekel; Körper, die beinahe angefangen hätten zu sprechen, weil sie so gut konserviert waren, oder so stark zersetzte, die sich dann aber nicht mehr an ihre Form erinnerten: mumifizierte Körper und ins Säuglingsalter zurückversetzte; Säugetiere, die wie ausgestopfte Reptilien aussahen, oder wie charismatische, zu Aas mutierte Aasgeier, oder wie Hasen, die auf einer einfachen Landstraße vom Laster des Lebens überrollt wurden; Tote, die auch noch beim letzten Tanz mit meiner Säge elegant wirkten, Tote, die selbst den Tod abstießen; reuige Selbstmörder, reuelose Mörder, Opfer aus Berufung oder Zufall; Kinder, Greise, junge Mädchen, alle tot und auf gewisse Weise ewig, schön und schrecklich zugleich.

Aber noch niemals hatte ich einen so ekelhaften Leichnam gesehen wie den, der nun auf meinem Seziertisch im Leichenschauhaus lag, auf meinem Tisch aus rostfreiem Stahl, laut Bestandsverzeichnis, den ich oft unvergesslichen Stahl nenne, denn wenn das wirklich Stahl sein soll, dann bin ich ein Rockstar.

Aber das bin ich nicht.

„Don Caronte“, sagte Betito mit dem üblichen Respekt, „ruhen Sie sich besser ein wenig aus oder essen Sie zu Abend. Sie sind schon fünfzehn Stunden hier und werden noch krank.“

Er hatte Recht, aber ich konnte meinen Blick nicht von dem ekelhaften Leichnam vor mir abwenden, ebenso wenig wie ich aufhören konnte mich zu fragen, warum er so viel Ekel in mir erregte.

Neben ihm, auf dem anderen Tisch aus unvergesslichem Stahl, ruhte mein letztes Werk. Eine Leiche wie sie im Buche steht. Nicolás Noletti. Genannt NN, bis wir seinen Namen und sein spärliches Glück als obdachloser Herumtreiber in den Straßen von Ninguna ermittelt hatten. Er starb an einer Herzschwäche, denn das Herz bringt dich um, wenn es das Warten auf bessere Zeiten leid ist. Die Autopsie ließ keine Zweifel offen und dauerte weniger als eine Stunde. Aber die harte Arbeit kam erst danach, außerhalb meiner Dienstzeiten im Leichenschauhaus, eine Arbeit, für die mich keiner bezahlt und für die mich auch niemand zu kritisieren wagt. Denn alle wissen, dass sie früher oder später auf meinem Tisch aus unvergesslichem Stahl landen werden, und wünschen sich, dass ich sie so schön herausputze, wie ich es mit NN getan habe. Vielleicht haben sie deshalb noch keinen Ersatz für mich gesucht. Sie lassen mich in einem leeren Zimmer im Keller wohnen und niemand verliert ein Wort über meine täglichen Besäufnisse, obwohl gemunkelt wird, dass ich mich zu den kurvenreichsten Frauenleichen lege, nachdem ich sie hergerichtet habe.

Ich könnte das nicht.

Ich habe es versucht, aber es geht nicht.

Das einzige, was ich mit den Toten tun kann, ist, sie den forensischen Bearbeitungsschritten ohne allzu viel Sorgfalt zu unterziehen, um mich danach dem wirklich Wichtigen zu widmen: ihnen den Tod zu versüßen, da man ihnen das Leben nicht mehr versüßen kann. Betito sagte vor Jahren einmal zu mir, dass ich ein guter Mensch sei, weil ich versuche, die Spuren des Todes auf den Leichen zu verwischen.

Betito versteht gar nichts.

Ich versuche vielmehr die Spuren, die das Leben auf ihnen hinterlassen hat, auszuradieren.

„Haben wir noch Anzüge, Betito?“, fragte ich meinen Assistenten, der ziemlich wenig assistiert.

„Ein paar, Don Caro. Suchen Sie eine bestimmte Farbe?“

„Ich glaube, wir haben noch schwarze mit Nadelstreifen. Das ist genau richtig für einen wichtigen Geschäftsmann.“

Betito schüttelte den Kopf und ging den Anzug holen. Ich gebe einen beträchtlichen Teil meines Gehalts dafür aus, anständige Kleidung und Accessoires für meine Toten zu kaufen. Aber ich wüsste auch nicht, wofür ich sonst mein Geld ausgeben sollte.

Während Betito auf dem Rückweg war, untersuchte ich erneut den ekelhaften Leichnam auf dem anderen Tisch.

Warum kam er mir nur so ekelhaft vor?

Er hatte Schläge ins Gesicht erhalten, aber nicht genügend, um ihn zu entstellen. Die drei Messerstiche in seiner Seite waren feine, saubere, fast unsichtbare Schnitte. Und auch der Schuss ins Herz hatte nicht den üblichen Blutstrom erzeugt. Es handelte sich um den sauberen Leichnam eines Mannes um die fünfunddreißig mit einem wohlgeformten Körper und gleichmäßigen Gesichtszügen.

Warum erschien er mir so ekelerregend?

Der Grund kribbelte mit leichten Spinnenbeinen in meinem Schädel, aber ohne ein paar Schnäpse zu trinken und etwas zu essen, würde ich nicht darauf kommen, was es war.

Betito kam mit dem Anzug, dem Hemd und dem restlichen Zeug zurück. Wir zogen NN an. Zwischen den Kleidungsstücken und meinen Anstrengungen, die verfluchten Schikanen des Lebens mit Make-up zu überdecken, kam langsam das zum Vorschein, was seine Verwandten zu Gesicht bekommen würden, wenn sie ihn später abholten: ein wohlhabender Geschäftsmann, den der Tod in dem Moment ereilte, in dem er mal wieder einen Millionenvertrag abschließen wollte, und der seinen entfernten Verwandten ein beträchtliches Vermögen hinterließ, das noch genau zu berechnen war.

„Ha, ha“, lachte Betito. „Das Gesicht dieser Geier von Neffen und Nichten möchte ich sehen, wenn sie nach der Luxustrauerfeier und den ganzen Messen erfahren, dass er nicht mal mehr Scheiße im Arsch hatte.“

„Doch, hatte er. Vergiss nicht, dass du sie selbst extrahiert hast, Betito.“

„Das hab ich doch nur so gesagt, Don Caro. Aber als wir sie von seinem Tod benachrichtigten, sind sie wirklich aus allen Wolken gefallen, denn das letzte, was sie von ihm wussten, war, dass er irgendwo auf den Straßen herumlungerte. Ohne Ihren Anruf mit der verstellten Stimme, mit der Sie sich für einen wichtigen Anwalt auf der Suche nach den Erben ausgegeben haben, dann hätten die nicht einmal das Geld für den Bus nach Ninguna ausgegeben … Sie kommen bald an. Wollen Sie nicht hierbleiben und sich das Spektakel ansehen?

„Diesmal nicht, Betito. Du hast Recht, ich muss etwas essen, bevor ich mit dem da anfange“, ich deutete mit dem Kopf auf den Ekligen. „Welcher Name steht auf der Karteikarte?“

„Gar keiner, Don Caro. Hier steht nicht identifiziert.“

„Wir werden sehen. Ich bin dann mal ne Weile weg.“

„Trinken Sie einen auf mich“, bat mich Betito.

„Darauf kannst du Gift nehmen.“

Jetzt glaube ich, dass ich weder besonders hungrig noch besonders durstig war, sondern nur einen Vorwand gesucht habe, um mich von dem ekelhaften Leichnam zu entfernen. Ich wollte mich so weit entfernen, dass ich diese grundlose Abneigung gegen den Toten, der nur einer unter vielen auf meinem Tisch aus unvergesslichem Stahl war, nicht mehr spüren musste.

Jetzt denke ich an viele Dinge.

Aber keines davon wird mein Leben retten.

Ich ging auf die Avenida hinaus und blieb wie immer stehen, um die Giralda zu betrachten. Dann setzte ich meinen Weg über die Ramblas fort und verweilte ein wenig auf der Plaza de Mayo, auf der die Mütter zwar nicht mehr demonstrierten, die unbeugsame Geduld ihrer Schritte aber zurückgeblieben war und daran erinnerte, dass jeder Tag ein Donnerstag war und es immer Donnerstag sein würde. Ich beschleunigte meine Schritte, und als ich an die Plaza Garibaldi kam, ging ich kurzerhand ins Tenampa, obwohl es dort vor Touristen wimmelte. Ich trank und aß ohne darauf zu achten was, denn das Bild von dem ekelhaften Leichnam ließ mich immer noch nicht los. Von einem anderen Tisch aus wurde ich auf ein Glas eingeladen und konnte nicht nein sagen. Es sollten noch mehr Gläser werden. Zum Glück laden die Leute mich ein, zwingen mir aber ihre Gesellschaft nicht auf. Sie wollen nur nett zu mir sein, um sicher zu gehen, dass ich sie nach ihrem Tod gut behandele und schön herrichte.

„Auf ihr Wohl, Don Caronte“, sagte einer der Kellner, nachdem er sich geweigert hatte, mir die Rechnung für meinen Verzehr zu bringen. „Man muss bedenken, wie hässlich meine Eulogia war, wir mussten unsere Bettgeschichten bei ausgeschaltetem Licht und mit geschlossenen Augen machen. Aber als sie gestorben ist, haben Sie sie wie einen Filmstar zurechtgemacht. Soll ich Ihnen ein Geheimnis erzählen? Manchmal, wenn ich es mit meiner neuen Freundin mache, schließe ich die Augen und stelle mir vor, dass sie Eulogia ist, aber nicht die lebendige, sondern die tote …“

Ich heiße Caronte – Charon – García und dieser Name bestimmt dein Schicksal, wenn du in einer Stadt geboren wirst wie der meinen, die ein bisschen was von allen hat und Ninguna, Keine, heißt. Ich wüsste zu gerne, an was mein Vater gedacht hat, als er mir diesen Namen gegeben hat. Sicher an irgendein Flittchen. Denn er dachte ständig an irgendeinen Hintern, der nicht der meiner Mutter war. Der Alte gab sich als gescheiterter Arzt aus, aber er war nicht mehr als ein Kurpfuscher, der sich aufs Handauflegen spezialisiert hatte, nur um eifrige, junge Mädchen oder gestandene Frauen mit dem Teufel zwischen den Beinen behandeln zu können. Denn mein Vater suchte immer den Teufel zwischen den Beinen von irgendeiner Frau. Und ich vermute, dass er ihn gefunden hat, als ich zehn Jahre alt war, denn er lag eines Morgens tot und mit dem Schreckens ins Gesicht geschrieben in einer Gasse von Ninguna, zwischen dem Petersdom und der Puerta del Sol. Sie zeigten ihn mir voller Angst, der Anblick könnte einen Schock in mir auslösen, aber ich dachte nur, dass ich ihm mit diesem schreckverzerrten Gesicht keine anständige Überfahrt ins Jenseits werde bezahlen können, nicht einmal mit all den Münzen, die ich seit meinem fünften Geburtstag meinem Keramiksparschwein in den Hintern gesteckt hatte. Nicht mit diesem Gesicht.

Deswegen bin ich Gerichtsmediziner geworden. Deshalb verziere ich die ganze Zeit Tote, nachdem ich sie von oben bis unten aufgeschlitzt habe, obwohl das niemand von mir verlangt.

Deswegen und weil ich Caronte heiße, was allein schon genügen würde.

Als ich ins Leichenschauhaus zurückkehrte, war ich etwas benommen von den ganzen Einladungen, aber entschlossen, den Ekelhaften zu verschönern. Betito war schon gegangen und die liebenden Nichten und Neffen von NN hielten wohl an irgendeinem teuren Ort, der der erwarteten Erbschaft gebührte, Totenwache.

Ich wusste, dass irgendetwas Seltsames vor sich ging, obwohl alles gewöhnlich schien. Alles war an seinem Ort.

In Wirklichkeit drehte sich alles ein bisschen, aber nur in meinem Kopf. Vielleicht war es besser, ein paar Stunden zu schlafen, bevor ich mich wieder an die Arbeit machte. Aber irgendetwas war nicht in Ordnung und ich musste herausfinden, was es war.

Ich öffnete das Kühlfach und da wusste ich es.

Der Körper war vom selben Alter, hatte die gleiche Statur und, soweit ich mich erinnern konnte, dieselben Wunden.

Aber es war nicht mein ekelhafter Leichnam. Nein. Auch wenn ich fast das Frühstück vom Vortag ausgekotzt hätte, hatte ich keinen Zweifel. Jemand hatte den Leichnam ausgetauscht.

Der neue sah ähnlich aus, war aber ganz und gar nicht ekelhaft.

Jemand hatte viel Mühe darauf verwendet, ihn herzurichten. Vielleicht dachte er, dass der Trunkenbold von Caronte García, der schluderige Gerichtsmediziner, der mehr Zeit damit verbrachte, Tote zu schminken als zu schlafen, den Unterschied nicht bemerken würde. Doch ich bemerkte ihn. Aber wer würde einem halb verrückten Alkoholiker, der im Leichenschauhaus wohnt, glauben?

Ich.

Ich glaubte mir.

Und ich würde nicht aufhören, bevor ich nicht herausfände, wer der Räuber war und warum er mir meinen ekelhaften Leichnam gestohlen hatte

Carlos Salem

Carlos Salem wurde 1959 in Buenos Aires geboren. Er studierte Informationswissenschaften in Córdoba (Argentinien) und war dort zunächst beim Fernsehen beschäftigt. Er arbeitete außerdem als Journalist und Radiosprecher und besserte sein Gehalt durch diverse Gelegenheitsjobs auf. Seit 1988 lebt er in Spanien, wo er die Zeitungen El Faro de Ceuta, El Telegrama und El Faro de Melilla leitet. Seine schriftstellerische Karriere begann er als Lyriker und Autor von Erzählungen, die in verschiedenen Zeitschriften und Antologien in Spanien, Argentinien und Mexiko erschienen sind. 2007 erschien sein erster Roman, „Camino de ida“ und gewann den Preis Memorial Silverio Cañada auf der Semana Negra de Gijón. Es folgten „Matar y guardar la ropa (2008), „Pero sigo siendo el rey (2009) und Cracovia (2010). Sein Roman Matar y guardar la ropa“ (2008) erscheint im Februar 2011 unter dem Titel „Wir töten nicht jeden“ bei dtv.

Doris Wieser ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Göttingen und promoviert über den zeitgenössischen lateinamerikanischen Kriminalroman.

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