Geschrieben am 27. November 2010 von für Crimemag, Diez Negritos

Fortsetzungsroman: Diez Negritos – Ein ekelhafter Leichnam (3)

Der Roman: Ein ekelhafter Leichnam (Un cadáver asqueroso)

– Vergangenes Jahr begannen die Diez Negritos einen Online-Krimi zu verfassen. In ironischer Anlehnung an die surrealistische Methode des cadavre exquis („köstlicher Leichnahm“) betiteln sie ihren Gemeinschaftsroman mit „Ein ekelhafter Leichnam“ („Un cadáver asqueroso“); und tatsächlich präsentiert uns im ersten Kapitel ein Gerichtsmediziner einen unerklärlich ekelhaften Leichnam in einer Stadt, die Merkmale von allen möglichen hat und keine einzige ist …

Nach der Maxime von Paco Ignacio Taibo II, derzufolge die Anarchie die einzige natürliche Ordnung ist, folgt der Roman keinem vorgefertigten Plan und daher dürfen wir sicher mit der einen oder anderen Überraschung rechnen.

Die Autoren: Diez Negritos

Zehn spanischsprachige (Krimi-)Autoren haben sich im März 2009 unter der Koordination des französischen Literaturwissenschaftlers, Kritikers und Autors Sébastien Rutés zusammengeschlossen, um ein gemeinsames Blog zu verfassen: Paco Ignacio Taibo II, Antonio Lozano, Carlos Salem, Eduardo Monteverde, Juan Hernández Luna, Lorenzo Lunar, Rebeca Mugra, Sébastien Rutés, Jorge Belarmino Fernández und Juan Ramón Biedma. Im Sommer 2009 stießen die Spanierin Cristina Fallarás, der Italiener Bruno Arpaia und der Mexikaner Jorge Moch dazu, sodass aus den zehn kleinen Negerlein dreizehn wurden. Leider schrumpfte die Zahl im Juli dieses Jahres durch den unerwarteten Tod von Juan Hernández Luna jedoch wieder auf zwölf.

Mit der Bezeichnung „Diez Negritos“ („Zehn kleine Negerlein“) spielen die Autoren nicht nur auf das Kinderlied, sondern auch auf den Roman „Ten Little Niggers“ von Agatha Christie an. Des Weiteren sind mit „Negritos“ natürlich die Verfasser von novelas negras (Kriminalromanen) gemeint. Das Gemeinschaftsblog ist in erster Linie ein Ort der Diskussion über Kriminalliteratur aber auch über viele angrenzende Themen und wird von dem französischen Verlag L’Atinoir unterstützt. Laufend publizieren die Autoren dort Essays, Erzählungen, Gedichte, Fotos, Zeichnungen, Gemälde, Kommentare, autobiografische Notizen …

Zu Teil 1, zu Teil 2

III

Cristina Fallarás

übersetzt von Annika Loose

Von hier aus gesehen hat Caronte García, der arme Teufel, nichts Geheimnisvolles mehr an sich. Oh, Doktorchen, oh Fährmann … Der Kahn setzt über, der Fährmann zu mir spricht, schöne Mädchen zahlen nicht. Nur diese Glasscheibe trennt mich von dir, Carontito, wenn du dich umdrehen würdest, würdest du glauben, dass ein Klatschmaul seine Nase in deine wohltätige Arbeit stecken will, eine Kupplerin, die auf Besserstellung im Jenseits hofft. Von hier aus sehe ich alles.

Ach, Caronte, Caronte, wenn ich nicht wüsste, dass du sterben wirst, wäre das alles nicht so reizvoll, aber es geht mir um deinen Tod. Das Spiel hat begonnen. So wie die Grimasse, die der neue Tote gestern auf dein Gesicht zeichnete, hat dein ganzes Leben voll von Toten deinen Schädel mit dicken Häuten, Narben und Schwellungen übersät, dein Schädel ist vollgestopft mit dem rosageäderten Gelb des abgestorbenen Fettes, und dieser Tote drang in dein verrottetes Hirn ein und mischte es ordentlich auf. Sein Gesicht, Caronte, denk an sein Gesicht, wie widerlich, oder? – Was für eine Überraschung … Du kleines Stück Scheiße, sagte deine Mutter, du kriegst nie im Leben eine ab. Und du, Wichser, wofür hast du dich entschieden? Für eine Fotze oder den Tod? Es lebe der Tod!, hast du geschrieen, so war es doch, oder? Im Viertel Coso Bajo kann man nicht das Waisenkind aller Gehörnten sein. Doch deine Heldentaten werden dich post mortem nicht retten, das Flehen der frisch verstorbenen Frauen wird dich nicht retten, auch nicht die Bewunderung der Verwandten angesichts der Leichenverschönerung oder das nekrophile Verlangen der entzückten Witwer. In Coso Bajo warteten die betrogenen Ehemänner, bis sie dran waren, doch ihr Hunger wurde nicht gestillt. Ich schaue dich von hier aus an, durch das Glas hindurch, weil es mir Spaß macht, doch ich könnte herauskommen und dich begrüßen, hallo Doktorchen, ich bringe Ihnen ein Fläschchen Kölnisch Wasser, das gute, für Ihre Nase und Ihre Kehle, trinken Sie einen Schluck auf dieses Gesicht, das Sie nicht wiedererkennen. Wenn du alle Gesichter wiedererkennen müsstest, Caronte… Ich könnte das tun, und du würdest mir voller Dankbarkeit antworten, auf Ihr Wohl, Frau Doktor, so wie immer, mit diesem Schafsgesicht, den gelben Augen, diesem Gesichtsausdruck, dem die Frauen Eleganz zuschreiben, der aber nur ein für die Ewigkeit zusammengepresster Kiefer ist. Danke, Frau Doktor, auf Ihr Wohl, ohne mich wiederzuerkennen. Wie solltest du auch? Die Züge derjenigen, die du einmal kanntest, sind allesamt aus meinem Gesicht verschwunden. Alkohol und Tod für den keuschen Caronte.

Ich könnte hier herauskommen und dich an das letzte Mädchen erinnern, in der Ecke des großen Schlafzimmers, zusammengerollt wie ein kahlgeschorener Hund. Oder erinnerst du dich noch nicht mal an das letzte Mädchen?

Aber ich erinnere mich an alles, ich habe all dem mein Leben gewidmet.

Hör mir zu.

Am 21. Juli 1953 ging die Sonne um 5:50 Uhr über Ninguna auf, eine blasse Sonne, kahl wie ein zu früh geschlüpftes Küken. Zu dieser Stunde haben du und deine Mutter noch in dem alten Haus im Callejón del Gato 45 in Coso Bajo geschlafen, ein Gebäude mit vier Stockwerken und 4000 Kakerlaken, ein einziges Klo für alle Bewohner, von Tausend Blutungen schmutzige Binden in den Innenhöfen, ein Gestank nach Fett und Urin, den du bestimmt nie vergessen wirst, solche Dinge lassen sich nicht ausradieren aus den Fettschichten deines Schädels. Zur gleichen Zeit lag dein Vater, Don Eulogio Alfredo García, der Jungfrauen hortende Hexenmeister, Quacksalber für die unwürdigsten Körperabsonderungen, noch auf der jungen Amandita de Revuelta. Was brachte die Revuelta dazu, sich mit deinem Vater einzulassen? Da kann nur die Verzweiflung einer Siebzehnjährigen in Frage kommen, das dritte Ehejahr ohne schwanger zu werden und die Gemeinheiten von Julián Revuelta, der alle Frauen schwängerte, nur nicht die eigene. Die Revuelta musste während dieser ersten drei albtraumhaften Ehejahre das Gesprächsthema deiner fiesen Mutter und ihrer Freundinnen gewesen sein. Verdammt, Caronte! Wie ich mich an deine Alte erinnere, wie sanft der Tod schließlich zu ihr war, dabei hätte gerade die was viel Schlimmeres verdient, diese gemeine Hure.

Doch weiter.

Zwanzig Minuten später jagte Juano Ríos Sampedro deinem Vater eine Kugel mitten in seine Visage. Eine Tücke des Herumhurens: Die Revuelta und der Quacksalber hatten sich zwar vergewissert, dass der Ehemann lange und weit verreisen würde, Julián Revuelta war mit seinen Knarren nach Osten gereist, aber andere warteten schon auf ihre Gelegenheit, und so wie es aussieht, war das Geheimnis des jungen Mädchen und ihres Wunderheilers nicht allzu gut gehütet. Du hast dann unbedingt betonen müssen, dass das erschrockene Gesicht deines Vaters dir nicht mehr aus dem Kopf ginge, dass man ihn auf offener Straße mit schreckverzerrtem Gesicht und mit einem Schuss ins Herz gefunden hat. Von wegen, ins Herz. Deinen Alten hat man vor eurer Haustür im Callejón del Gato 45 abgelegt, ohne Mund, ohne Nase, ohne die linke Hälfte des Unterkiefers. Zehn Jahre war der kleine Carontito alt, zehn Jahre sind da wenig, sehr wenig, wenn man so etwas zu sehen kriegt, aber daraus ein schreckverzerrtes Gesicht zu machen, ist ein starkes Stück, Caronte … – und in den Straßen von Ninguna verbreiten sich Gerüchte und Neuigkeiten schnell. Oder war das schon eine Art, den Tod zu überschminken, du Meister der Verfälschung?

Die erste hast du auf dem Bett deiner Mutter gefunden, splitternackt, mit blauen Lippen und einer Hautfarbe wie frisch gekochtes Huhn. Du hast dir bestimmt nicht viel dabei gedacht, armer Kleiner, Gewalt lässt für gewöhnlich Mund und Grips verstummen. Sei still und hilf mir, wird deine Alte dir gesagt haben. Ich weiß, wovon ich rede, Caronte, ich war dort, etwas später, aber darauf kommt es nicht an. Es ist so, als ob ich in jedem einzelnen dieser Mädchenkörper gewesen wäre, die deine barbarische Mutter auf diesem verfluchten Bett so zugerichtet hat. Damals sagte sie dir, sei ruhig und hilf mir. Ich werde dir das Datum in Erinnerung rufen, Doktorchen, meins fiel genau auf einen zwanzigsten Mai, Punkt elf Uhr nachts. Daten liegen mir. Doch meine Nacht zählt hier nicht, deine Vertuschungen sind das, was zählt. Nichts wird dich retten, weder die Hoffnung der zu Lebzeiten Entstellten noch dein Leberschaden. Es geht mir nicht um Rache, sondern um Gerechtigkeit. Oh ja, das mag dir sonderbar erscheinen, groß, maßlos. Ich weiß, dass mein Beharren dir, Todesrichter, Schminkkünstler, exzentrisch vorkommen wird, aber denke fest an das Gesicht, das du gestern gesehen hast, Caronte, das du gesehen und nicht gesehen hast, denn es war nicht mehr dasselbe.

Und weißt du, was das Schlimmste ist? Dass du das von klein auf konntest, Carontito, dass du Talent hattest. Dein Alter nicht, der war nur für gewöhnliches Betatschen zu gebrauchen, jede Menge Kräuter, jede Menge Riten und am Ende ein ungeheuerlicher Schwanz. Je weiter sich die Angst vor väterlichen Prügel in den Familien von Ninguna verbreitete, desto besser ging es deinem Alten. Ein verdammter Gauner war dein heiliger Vater, dieser Jungmädchenstecher. Der hatte sich klar entschieden zwischen der Fotze und dem Tod. Aber du bist ganz nach deiner Mutter geraten, dieser Ausgeburt der Hölle, du hast den Tod geerbt, und das zurückgezogene Leben in deinem Loch hier wird dich nicht davor bewahren, ihm gegenüber zu treten. Und wer wird dich zurecht machen, Doktorchen, wenn dich der Sensenmann an den Eiern packt und dir das verzerrte Gesicht verpasst, welches, egal wie sehr du auch darauf bestehst, dein Vater nie hatte?

Die Frauen aus Coso Bajo, von der Gare de l’Est, aus Chinatown, aus Isla Maciel, aus der Ecke von Trastevere, vom Hügel in Petare, aus der Villa Triste, an wen sollten sie sich wenden, als ihr ach so schlauer Quacksalber tot war? Wer würde sich jetzt um ihre Töchter kümmern, sie schwängern oder bei ihnen Abtreibungen vornehmen? Deine Mutter, Caronte, diese Bestie war dazu bereit, und zu vielem mehr. Wegen des Geldes und aus Rache, Doktor, vor allem aus Rache. Da wo dein Vater seinen Schwanz reingesteckt hatte, stach auch die Alte zu. Manchmal mit Erfolg, manchmal führte ein Riss zum Tod, so viel Blut. Fotze und Blut, nicht mal mit den toten Frauen kannst du nach alldem schlafen. Ich habe dich gesehen, Doktor, wie du dich an die Leichen von jungen Mädchen ohne Schamhaar rangemacht hast, sie beschnuppert, angefasst, deine Hosen runtergelassen hast und letztendlich kopfschüttelnd hinausgegangen bist, um dir von diesem Volk von Analphabeten dafür einen ausgeben zu lassen, dass du ihnen nach ihrem Tod so ein lächerliches Gesicht verpasst. Du hast den Schwanz eingezogen, armer Zölibatär.

Es war Punkt elf Uhr in einer lauen Mainacht, und ich lief die Calle Princesa entlang, voller Anspannung, nach Jasmin duftend um all das Schmutzige zu übertünchen, und mit zwanzig Moneten in meiner Tasche, zehn hatte meine Mutter mir ins Gesicht geschleudert und dabei Hure aller Huren geschrien und die anderen zehn hatte ich mir zusammengespart. Sei still und hilf mir, sagte deine Mutter während des Blutbades. Sei still und mach dich nützlich, schrie sie später, verpass der hier ein paar Hiebe, der anderen da eine Tracht Prügel und der Unglücksseele da kannst du das Gesicht zerschneiden …

Ich schaue dich an und du hast dich kaum verändert. Jetzt bist du Doktor Caronte García, der Volksheilige, der traurige Tote in fröhliche verwandelt, hässliche tote Frauen in Hollywood-Schauspielerinnen und arme Schlucker in wohlhabende Mumien. Doch ich kenne den berauschten Doktor. Ich weiß, wann er damit anfing, den Tod in einen anderen Tod zu verwandeln. Ich weiß, wie er die Leichen transportierte, um sie in den Gassen zurückzulassen, wie er auf die Gesichter einschlug, dass es wie Prügel aussah, wie er auf Brüste und Bäuche einstach, dass es wie eine Rachetat aussah, wie er sich ganze Folterprozeduren ausdachte, um auf Serienmörder hinzuweisen, die Ninguna den Atem anhalten ließen. Du hast nie gemordet, natürlich nicht, du hast lediglich die Opfer deiner verdammten Mutter als Mordopfer anderer getarnt. Dein Eingreifen erfolgte immer erst an den Toten. Ich selbst lag als Tote auf deinem Karren und hörte dich singen: Der Kahn setzt über, der Fährmann zu mir spricht, schöne Mädchen zahlen nicht. Doch ich bin nicht schön, will es auch nicht sein, erst recht nicht, wenn du mir das Gesicht kreuz und quer zerschnitten hast.

Ich war nie schön. Und auch nicht tot.

Cristina Fallarás

Cristina Fallarás, geboren 1968 in Zaragoza (Spanien), ist Autorin und Journalistin. Sie studierte Informationswissenschaften an der Autonomen Universität in Barcelona, wo sie auch heute noch lebt, und schreibt für diverse spanische Zeitungen (z. B. für El Mundo, El Peródico de Cataluña, ADN). Außerdem arbeitet sie beim Rundfunk (Cadena Ser, Radio Nacional de España, COM Radio) und Fernsehen (Antena3 Televisión, Cuatro Televisión).

Sie ist Autorin von Sachbüchern („La otra Enciclopedia Catalana“, 2002 und „Rupturas“ 2003) und zwei Kriminalromanen: „No acaba la noche“ (2006) und „Así murió el poeta Guadalupe“ (Alianza, 2009). Cristina Fallarás ist die Frau des argentinischen Krimischriftstellers Raúl Argemí.

Annika Loose (Jahrgang 1986) steht kurz vor ihrem Abschluss des Studiengangs Literaturübersetzen (Französisch/Spanisch) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie arbeitete sieben Monate als Fremdsprachenassistentin in Calais, Frankreich, und verbrachte mehrere Monate in Salamanca, Spanien, u. a. um dort Kurse an einer Übersetzerschule zu besuchen. Sie übersetzte in Zusammenarbeit mit Dorothee Calvillo die Kurzgeschichte „Cuatro Fantásticos“ des argentinischen Schriftstellers und Essayisten Fabián Casas (erschienen in „Voces – Stimmen“, herausgegeben von V. Gerling und C. Viseneber, düsseldorf unity press, 2010).