Geschrieben am 20. November 2010 von für Crimemag, Diez Negritos

Fortsetzungsroman: Diez Negritos – Ein ekelhafter Leichnam (2)

Der Roman: Ein ekelhafter Leichnam (Un cadáver asqueroso):

Vergangenes Jahr begannen die Diez Negritos einen Online-Krimi zu verfassen. In ironischer Anlehnung an die surrealistische Methode des cadavre exquis („köstlicher Leichnahm“) betiteln sie ihren Gemeinschaftsroman mit „Ein ekelhafter Leichnam“ („Un cadáver asqueroso“); und tatsächlich präsentiert uns im ersten Kapitel ein Gerichtsmediziner einen unerklärlich ekelhaften Leichnam in einer Stadt, die Merkmale von allen möglichen hat und keine einzige ist …

Nach der Maxime von Paco Ignacio Taibo II, derzufolge die Anarchie die einzige natürliche Ordnung ist, folgt der Roman keinem vorgefertigten Plan und daher dürfen wir sicher mit der einen oder anderen Überraschung rechnen.

Die Autoren: Diez Negritos

Zehn spanischsprachige (Krimi-)Autoren haben sich im März 2009 unter der Koordination des französischen Literaturwissenschaftlers, Kritikers und Autors Sébastien Rutés zusammengeschlossen, um ein gemeinsames Blog zu verfassen: Paco Ignacio Taibo II, Antonio Lozano, Carlos Salem, Eduardo Monteverde, Juan Hernández Luna, Lorenzo Lunar, Rebeca Mugra, Sébastien Rutés, Jorge Belarmino Fernández und Juan Ramón Biedma. Im Sommer 2009 stießen die Spanierin Cristina Fallarás, der Italiener Bruno Arpaia und der Mexikaner Jorge Moch dazu, sodass aus den zehn kleinen Negerlein dreizehn wurden. Leider schrumpfte die Zahl im Juli dieses Jahres durch den unerwarteten Tod von Juan Hernández Luna jedoch wieder auf zwölf.

Mit der Bezeichnung „Diez Negritos“ („Zehn kleine Negerlein“) spielen die Autoren nicht nur auf das Kinderlied, sondern auch auf den Roman „Ten Little Niggers“ von Agatha Christie an. Des Weiteren sind mit „Negritos“ natürlich die Verfasser von novelas negras (Kriminalromanen) gemeint. Das Gemeinschaftsblog ist in erster Linie ein Ort der Diskussion über Kriminalliteratur aber auch über viele angrenzende Themen und wird von dem französischen Verlag L’Atinoir unterstützt. Laufend publizieren die Autoren dort Essays, Erzählungen, Gedichte, Fotos, Zeichnungen, Gemälde, Kommentare, autobiografische Notizen …

Zu Teil 1 geht es hier.

2

Die Alte mit der Tasche

Eduardo Monteverde

übersetzt von Friederike von Criegern de Guiñazú

Dies ist Mar del Plata, ein Silbermeer. Silbern sind die Regalbretter, die Sägen, Skalpelle, Kühlschränke und Seziertische der Toten, die so etwas wie mein Schreibtisch, meine Bar und mein Diwan sind. Dort beginne ich zu segeln, bevor ich auf die hohe See des Straßengewirrs auslaufe. Ich betrachte mich im versilberten Spiegel, der in der Umkleide meiner Assistenten hängt, der Leichenöffner, die morgens pünktlich kommen und nachts nach Hause zurückkehren, um ihren Kindern grausige Geschichten zu erzählen. Ich betrachte mich im Spiegel, mein Gesicht – bin ich?

An diesem Morgen schaue ich mein Gesicht an, das ich nicht bin. Ich bin, was ich vorher war, die tausend Millionstel einer Sekunde, bevor ich vom Spiegel reflektiert wurde, a younger self, das vor mir in die Pathologie gekommen ist, als hätten sie mir das Gesicht transplantiert, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Diderot sagte, Gesten seien nichts als Metaphern. Der Gesichtsausdruck ist die Camouflage der Seelen, die unter der Haut entlanggleiten.

Mein Rausch lässt nach, mein Assistent taucht nicht auf. Der verschwundene Leichnam trug das Gesicht eines anderen Toten, ein Gesicht, mit dem zu Lebzeiten beide gegessen, geatmet und ausgeschaut haben und mit dessen Oberlippe sie küssten. Deswegen erschien er mir so ekelhaft. Dreiundachtzig Zoll Haut, Muskeln und Wangenknochen. Nur die Lider und die Unterlippe waren echt. Zwei Dinge stießen mich ab: Das Gesicht selbst und dass es mir nicht gelungen war, es schön zu machen. Der Kater steigerte den Zorn über meine Unfähigkeit noch. Pathologe zu sein ist an sich schon frustrierend. Hier landen die Halbtoten, die keine Internisten, Chirurgen oder Biochemiker werden konnten, also keine erste Klasse. Die Forensiker in den Fernsehserien sind heutzutage schwarz, und das ist für die Rassenquoten der versprochenen Gleichheit schon ein Fortschritt. Ich bin Indio, ein halber, einen Mestizen würde man mich nennen, einen Entwurzelten im eigenen Land, einen Transplantierten. Anders als der verschwundene Tote ist der, der im Kühlfach aufgetaucht ist, wunderschön, er hat nichts Abstoßendes. Er hat ein Gesicht wie einer dieser Aztekenkrieger auf den Kalendern, die man an den Zeitungsständen kaufen kann, nahe dem Palast der Inquisition, wo sie früher Autopsien durchführten, um zu sehen, ob die Eingeborenen eine Seele haben. Sein Körper ist weiß wie der von Berninis David. Er ist ganz Maske, vom Scheitel des Huizilopochtli bis zur Ferse des Achilles. Im ersten Morgenlicht, das in flämischen Lasuren den Sektionssaal durchdringt, erscheint mir der gerade Angekommene wie ein Erzengel, der hinter den Zócalo im Zentrum von Ninguna gefallen ist. Gestern und vor meiner täglichen Trunkenheit regnete es auf den Ramblas. Ein Heiligenschein erleuchtete die Sagrada Familia und abgelenkt vom Schweiß, der auf den Frauenleichen zu Eiszapfen gefror, vergaßen in Ciudad Juárez die Forensiker die Zeit.

All das geschieht gleich um die Ecke von meinem städtischen Leichenschauhaus, wo die Gran Vía auf den Zócalo trifft. Die Totenglocken von Rhonda, Cardiff und Rhymney läuten, begleitet von denen der Kathedralen La Profesa, Notre Dame und La Merced. Die Putzfrau kommt mit ihrem Einkaufswagen voller Lappen und Reinigungsmittel vorbei, ein Gefährt so ziellos wie das asymmetrische Gesicht der Frau mit ihrer Grimasse eines krummen Rosenstocks.

Lügt die Frau? Ich weiß es nicht, aber es ist gewiss, dass die Leichen lügen, genau wie die Lebenden. Ich sinniere über diese Frage, während ein weiterer meiner endlosen Arbeitstage beginnt. Die Assistenten kommen zur Arbeit, nachdem sie in ihren Vierteln verheimlicht haben, dass sie Leichenwäscher sind. Die Lüge bewahrt die Kinder in der Schule vor Verdächtigungen. Niemandem gefällt es in der Kindheit, dass sein Vater etwas mit Leichen zu schaffen hat. Eigentlich sind diese Arbeiter Einzelgänger. Ich habe dieses Problem nicht: Wie Doktor Tschechov sagte, dass die Medizin seine Ehefrau und die Literatur seine Geliebte sei, so sage ich, dass der Tod meine Konkubine, Freundin und Mutter ist, in einem Reigen, in dem wir uns küssen wie vervielfältigte siamesische Schwestern und Brüder: Kreisel zum Kreis, gesell dich zu mir, eine Hand hab ich zu viel, ein Freund fehlt mir. Ich bin der Freund der Toten. Mit ihnen verbindet mich ein Kinderlied, während ich sehe, wie die Frau mit dem Wägelchen ihre Runden dreht und an ihrer linken Hand eine Tasche aus schlecht gegerbtem Leder hängt. Vor ein paar Tagen verschwand bei dem ein oder anderen Leichnam der Hodensack. Die Frau ist schon eine ganze Weile hier. Ihr Widerschein im Spiegel verdichtet wenige Bruchteile einer Sekunde zu Äonen.

Wer raubte den Toten mit dem Lügengesicht? Wer gab dem neu Angekommenen sein Antlitz? Meine Aufgabe besteht darin, Kriminelle zu finden, die lügen, und den Toten in einer Neuschöpfung von Schönheit eine Stimme zu verleihen. Doch wie soll ich das tun, wenn das Aas ein Lügner ist? Besser gesagt, wie soll man einen köstlichen Kadaver zubereiten, wenn er bereits herausgeputzt hier ankommt?

Die Türen der Kühlschränke ächzen wie die Spanten eines Geisterschiffs in der Arktis, auf dem gleichen Breitengrad, auf dem auch Frankenstein sich verirrte, und nun kehrt das Monster verschönert zurück in mein Leichenschauhaus in der Nähe der Plaza Garibaldi, begleitet vom Gestank eines Amphitheaters und von Mariachis, die genauso betrunken sind wie ich. Wer den Toten gebracht hat, musste über diese Bühne. Eine andere Leiche kommt an, eine ekelhafte Frau mit echtem Gesicht. Sie liegt auf meinem Marmortisch, dem einzigen, der nicht aus unvergesslichem Stahl ist, da die Erinnerung eher im Stein ruht als im Metall. Der Tisch ist ein Relikt, Erinnerung daran, dass wir in den Stahlzeiten weiterhin in der Steinzeit leben. Seit der Urgeschichte ziehen wir auch die gleichen Grimassen. Wie viel ist über die Toten geschrieben worden? Ich werde die Schriftsteller besuchen. Die Schriftsteller, ach, die Schriftsteller!, die immer glauben, mit der immergleichen Mimik das letzte Wort zu haben. Ich werde diese Weisen in der Kantine des Garibaldi versammelt antreffen. Mal schauen, ob sie mir Licht auf diese Kadaver werfen, die vom Ekelhaften zum Köstlichen übergehen und umgekehrt. Mal schauen, ob sie mir die Dialektik des Aas’ erklären. Diese Literaten, kultiviert und meist Autodidakten, wiederholen ein ums andere Mal in ihren Schriften die dramatischen Situationen der Rhetorik und haben für jede einzelne die passende Geste parat: Flehen, Rätsel, Rache von Verwandten an Verwandten, das durch Rache verfolgte Verbrechen, die Opfer von Grausamkeit oder Pech, der mörderische Ehebruch, die fatale Unbesonnenheit, die unfreiwilligen Verbrechen aus Liebe, Rivalitäten zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, der Ehrgeiz, die Liebe, der geliebte Feind, der Feind, der Ekel, vor allem der Ekel und mehr noch als die Angst, die Freude, Zorn, Trauer, Neugier und Überraschung. Arme Schriftsteller, sie schleppen die gleichen Fragen mit sich herum seit die erste Tontafel beschrieben wurde, schwitzen heiß und kalt, und sind ganz zerknirscht, weil sie neue Produkte einführen, die nichts weiter sind als Ergebnisse eines geistreichen Kieselsteins, der nur einen einzigen Menschen bewegt. Die literarischen Figuren sind Unterhändler der Lebenden und der Toten. Es gibt nichts Neues unter der Sonne seit dem Mahabharata, der Ilias, dem Satyrikon, alles, die gleichen ausgedorrten Gesten, die nicht totzukriegen sind. Der Totenkopf wird schließlich den Gesichtsausdruck bestimmen. Dort gehe ich, weiche der Frau aus, die ein Glöckchen an die Tasche gehängt hat, ich glaube, sie hat Liliput-Halluzinationen, sieht Kinder mit Gesichtern von Greisen und Alte mit Kindergesichtern. Ich gehe in die Kantine, um mich unter die Lebenden zu mischen, diese frechen Schriftsteller, die meines Erachtens Kinder mit Progerie sind. Sollte es irgendeine Neuigkeit geben, dann die der gleichen Schatten, die schon vor fünfzigtausend Jahren erschienen sind, oder die immergleichen Wesen in neuem Halbschatten, oder die gleichen Namen mit anderen Gesichtern.

„Wir haben eine Frage an dich.“ Die Schriftsteller sitzen um einen Tisch herum, im Hintergrund leiern Mariachis, die dem Tod herausfordernd, ausgelassen, streitsüchtig ihr Lied singen. In omnes hominis mors portransit.

„Ich geh pissen.“

Das Klo dieser Absteige hat ein kleines schmutziges Fenster, durch das man das Skelett im Inneren der Kathedrale von Chartres betrachten kann und die Fassade der Clinic Cleveland, in der Doktor Maria Semionowa gerade Rattengesichter transplantieren dürfte, um ihre Technik für Menschen zu perfektionieren. Ich komme zurück, die Hände habe ich mir nicht gewaschen, grüße die Schriftsteller mit karger Pathologengeste, bevor meine Mundwinkel wegen des Alkohols schlappmachen. Ich erwarte die gleichen Fragen wie immer, mit denen sie Inspiration für ihre Geschichten suchen. Sie haben über all meine Leichen geschrieben, außer über die, auf die ihre häufigste Frage abzielt: „Und welche Leiche hat dich am meisten erschüttert?“ „Die meines Sohnes“, könnte ich antworten, aber ich bin alleinstehend und kenne nicht mehr Frauen als die der Gebärmütter, die ich in Gläsern mit Formalin aufbewahre. Ich behalte die Wahrheit für mich, den Leichnam ohne Augäpfel, durch deren Höhlen sich die Seele zeigte. Nie werde ich antworten. Es gibt Fragen, die nicht gut ausgehen, so wie Romane. Sie alle beginnen gut und alle enden sie schlecht: „okay.“

Ende Teil 2 (Eduardo Monteverde)

Der Autor: Eduardo Monteverde wurde 1948 in Mexiko-Stadt geboren. Er studierte dort Medizin und Filmwissenschaften. Sein journalistisches Schaffen umfasst Berichte und Reportagen über Verbrechen, Wissenschaftsreportagen sowie eine Kolumne bei der Zeitung El Financiero. Monteverde ist Dozent für Geschichte und Philosophie der Medizin an der UNAM. Sein schriftstellerisches Werk umfasst Erzählungen, Sammlungen von Polizeireportagen (für die er 2005 den Premio Rodolfo Walsh erhalten hat) und die Romane El naufragio del Cancerbero (2007) und Las neblinas de Almagro (2006).

Die Übersetzerin: Dr. Friederike von Criegern de Guiñazú, Hispanistin und Germanistin, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Göttingen und Literaturübersetzerin aus dem Spanischen. Kontakt-Mail.