Geschrieben am 11. Dezember 2010 von für Crimemag, Diez Negritos

Fortsetzungsroman: Diez Negritos – Ein ekelhafter Leichnam (5)

Der Roman: Ein ekelhafter Leichnam (Un cadáver asqueroso)

– Vergangenes Jahr begannen die Diez Negritos einen Online-Krimi zu verfassen. In ironischer Anlehnung an die surrealistische Methode des cadavre exquis („köstlicher Leichnahm“) betiteln sie ihren Gemeinschaftsroman mit „Ein ekelhafter Leichnam“ („Un cadáver asqueroso“); und tatsächlich präsentiert uns im ersten Kapitel ein Gerichtsmediziner einen unerklärlich ekelhaften Leichnam in einer Stadt, die Merkmale von allen möglichen hat und keine einzige ist …

Nach der Maxime von Paco Ignacio Taibo II, derzufolge die Anarchie die einzige natürliche Ordnung ist, folgt der Roman keinem vorgefertigten Plan und daher dürfen wir sicher mit der einen oder anderen Überraschung rechnen.

Die Autoren: Diez Negritos

Zehn spanischsprachige (Krimi-)Autoren haben sich im März 2009 unter der Koordination des französischen Literaturwissenschaftlers, Kritikers und Autors Sébastien Rutés zusammengeschlossen, um ein gemeinsames Blog zu verfassen: Paco Ignacio Taibo II, Antonio Lozano, Carlos Salem, Eduardo Monteverde, Juan Hernández Luna, Lorenzo Lunar, Rebeca Mugra, Sébastien Rutés, Jorge Belarmino Fernández und Juan Ramón Biedma. Im Sommer 2009 stießen die Spanierin Cristina Fallarás, der Italiener Bruno Arpaia und der Mexikaner Jorge Moch dazu, sodass aus den zehn kleinen Negerlein dreizehn wurden. Leider schrumpfte die Zahl im Juli dieses Jahres durch den unerwarteten Tod von Juan Hernández Luna jedoch wieder auf zwölf.

Mit der Bezeichnung „Diez Negritos“ („Zehn kleine Negerlein“) spielen die Autoren nicht nur auf das Kinderlied, sondern auch auf den Roman „Ten Little Niggers“ von Agatha Christie an. Des Weiteren sind mit „Negritos“ natürlich die Verfasser von novelas negras (Kriminalromanen) gemeint. Das Gemeinschaftsblog ist in erster Linie ein Ort der Diskussion über Kriminalliteratur aber auch über viele angrenzende Themen und wird von dem französischen Verlag L’Atinoir unterstützt. Laufend publizieren die Autoren dort Essays, Erzählungen, Gedichte, Fotos, Zeichnungen, Gemälde, Kommentare, autobiografische Notizen …

Zu Teil 1, zu Teil 2, Teil 3 und Teil 4

V

Ein Hurensohn stirbt selten allein

Jorge Moch

Übersetzt von Katharina Meyer

Der Lärm ist unerträglich. Die Seite schmerzt. Ärgerlich sucht Caronte García, demiurgischer Maskenbildner des Todes, Zuflucht im Schmutz einer Toilette. Hinter der Tür hört er die Stimmen und Schritte, das Blöken der Telefone, das Rauschen und Knistern der Radios. Und alles wegen eines verdammten verlorenen Toten, ein Toter – ein Hurensohn zu Lebzeiten – der seinen Atem dazu verwandt hat, dieses feine Netz aus Vetternwirtschaft und Schachereien, für das es den Euphemismus Beziehungen gibt, zu spinnen und der außerdem eine Nichte hatte, die noch mehr Dreck am Stecken hatte und noch bessere Beziehungen als ihr toter Onkel, seziert und verloren. Zum ersten Mal seit Jahren, seit vielen Jahren, vielleicht seit seiner schwierigen Kindheit, verflucht Caronte García die Thanatopraxie, dieses Grauen von einem Beruf, zu dem er durch seine Mutter gekommen war, als er Leichen nicht verschönerte, sondern sich damit vergnügte, sie zu verunstalten, um so die von ihr verübten Morde und die damit verbundenen grauenvollen Praktiken in einer provisorischen Pathologie in der Küche zu verschleiern. Ein Beruf, dem er sich später ganz von allein mit der Freude eines erleuchteten Seminaristen hingab. Bis dahin hatte er immer geglaubt, dass dies seine Berufung war, der Tod und seine stinkenden Auswüchse, seine Ausscheidungen und Verbiegungen, das Violett und Graugrün, das die Toten annehmen, die kurz vorher noch schwitzen, lachen, laufen oder weinen. Denn bisher hatte er es immer als tröstlich empfunden, die Fähigkeit zu besitzen, den Toten das Tote zu nehmen, das Gesicht eines Toten in das eines Schlafenden zu verwandeln, ihn vom Drama zur Ruhe zu überzuführen, so wie er es mit seinem Papi gerne gemacht hätte, als…Aber, lassen wir das. Das aber, was ihn jetzt dort durch den fleckigen Belag des Spiegels ansieht, ist etwas anderes. Ein alter Mann. Ein räudiger, dreckiger, erschöpfter, weinerlicher alter Mann, ein betrunkener alter Mann, ein perfekter Nichtsnutz, Abfall; verdammtes Fleisch, lasterhaft und etwas oder auch ziemlich idiotisch, in Anbetracht des großen Ärgers der ihn erwartet. Denn Nicolás Noletti ist beschissenerweise nirgendwo aufzufinden. Und das, obwohl er schon tot ist. Und einbalsamiert.

Seine Seite schmerzt und verweist auf die Leber. Zu viel Alkohol und zu viel Scheiße in seinem Leben. Es könnte die Bauchspeicheldrüse sein, die Milz, die Blase, aber genauso gut könnte es sein, dass seine Nieren im Arsch sind. Verdammter Scheißkörper, Scheiße warst du immer schon und was dich erwartet ist Staub, sagt er im Stillen zu sich selbst und betrachtet dabei seine grauen Bartstoppeln, die dicken Säcke unter den rot unterlaufenen Augen. Entweder macht er Schluss mit dem Laster oder er ist am Arsch. Und dann auch noch das da draußen. Verdammt! Wo der einzige Lichtblick, den er am düsteren Horizont seines Lebens sieht, doch nur eine beschissene Rente ist und dass er Betito nicht wiedersehen muss und diese dämliche Neue, die ihn in den letzten Tagen mit unverhohlenem Hass ansieht, mit einer Mischung aus Mitleid und …Ekel? Das hat er ganz genau gesehen und heute Morgen noch überprüft. Woher kennt er sie bloß? War sie eine seiner Studentinnen aus der Biologie?

Caronte vergisst ein wenig das heruntergekommene Gesicht im Spiegel. Er dreht den verdreckten Wasserhahn auf, der ein ächzendes Geräusch von sich gibt und formt mit seinen Händen eine Schale, in die er kaltes Wasser laufen lässt. Das spritzt er sich ins Gesicht und die Kälte beruhigt ihn. Er denkt an die Frau, von der er glaubt, dass sie Pathologin ist, wie er. Wie hieß sie denn noch gleich? Rosa? Carmen? Verdammt, schon vergessen, obwohl sie ihm doch erst vor ein oder zwei Wochen vorgestellt wurde. Und auch wenn sie nie miteinander sprechen, sehen sie sich immer an, wenn sie sich begegnen, jeder mit seinem jeweiligen Toten vorneweg, so als schöben sie etwas sehr wertvolles vor sich her, sie immer voller Verachtung und er bemüht, sich daran zu erinnern woher er sie verdammt noch mal kennt. Er stellt sich vor, wie sie auf einem seiner Seziertische liegt, tot und bereit, ergeben und gleichgültig, vor dem ersten Schnitt und dem groben Absaugen unter Zuhilfenahme des Trokars, vor dem Ersetzen des Blutes, dem Fett, der Watte und der Gaze, am liebsten noch warm, still und noch schöner. Sie erinnert ihn vage an etwas, an jemanden, aber seine Erinnerung lässt ihn weiterhin im Stich. Er zuckt mit den Schultern und stellt sich vor, wie er mit einem Skalpell das starre Fleisch nach einer geeigneten Einschnittstelle abtastet. Hinter seinem Hosenschlitz regt sich etwas. Er lächelt und betrachtet das alte Wildschwein im Spiegel, das ihm gelbe Eckzähne zeigt. Es fehlt nicht viel und er fängt an zu sabbern. Draußen geht der Lärm derer weiter, die so tun, als würden sie arbeiten, damit andere so tun, als würden sie es glauben. Es wird Zeit rauszugehen, er ist bestimmt schon zehn Minuten hier drin. Es kommt ihm so vor, als wäre da ein diskretes Klopfen an der Tür zu hören. Es wird Zeit rauszugehen und sich diesem Arschloch von Lázaro Andrés zu stellen. Der hat noch nie versucht, seit er, weiß der Teufel aus welchem Loch, nach Ninguna gekommen ist, die Abneigung zu verbergen, die er ihm gegenüber verspürt, ihm, seiner Abteilung – „die Leichenschminker“ hört man die Polizisten immer verächtlich sagen – sogar den Verstorbenen selbst gegenüber. Er weiß, dass Lázaro Andrés ihn zutiefst hasst und dass er keine Gelegenheit auslässt, ihm das zu zeigen. Denn vielleicht erinnern das Leichenschauhaus, Betito, die Kittel und Instrumente, der Formalingeruch und die Desinfektionsmittel, er selbst, der spöttische Magier der Totenstarre, den dicken Polizisten daran, dass er früher oder später dort enden wird, eingefallen und wehrlos wird er vor ihnen liegen, ein Fettwanst, der nach seinem Tod fast ebenso schnell verdirbt wie in seinem Leben. Lázaro Andrés hasst Ninguna und alle die in dieser Stadt leben und sterben, denn er gehört zu einer eigenartigen Sorte von Polizist und Ninguna ist sein Kerker; ein kleiner Streber und sehr kompromisslos und unbequem, sogar für seine Vorgesetzten: es ist kein Geheimnis, dass er dorthin zwangsversetzt wurde. Das ist Ninguna für sie alle, ein Zwang, eine unabwendbare Strafe, die niemals enden wird. Sein Freund Martín sagt ihm deshalb manchmal, dass Carontes Arbeit die reinste Zeitverschwendung ist, dass alle schon tot sind und Ninguna eine miese Vorhölle. Verdammter Martín.

Da draußen, in dem Treiben, hat die Wachsamkeit nachgelassen, sofern sie je bestanden hat. In dem Moment als Caronte die Tür öffnet – durch das Glas der Toilettentür kann er Lázaro Andrés, der durch das Fenster auf die Straße blickt, erkennen – und gewillt ist dessen mürrische Ungeduld zu ertragen, lässt ihn ein riesiger Knall erschüttern und die Welt zerbirst in Tausend Teile.

Fetzen, Splitter, Bruchstücke, Trümmer zermahlener Glasscherben aus einstigen Retorten und Kolben, Stücke aus Plastik und Keramik und Stahl und Holz, Teile seines Computers und Büroartikel, schießen wie Gewehrkugeln überall umher und in seinem Kopf tönt ein bestialisches Brummen, oder vielmehr ein Heulen, so intensiv, dass Caronte aus einem Winkel, den er mal als Bewusstsein kannte, verspürt, wie es sein Trommelfell mit seiner riesigen Pranke zerreißt. Ein Schwall aus ungeheurer Hitze wirft ihn nach vorne, eine Riesenhand, die ihn gewaltsam ergreift, um ihn zu vernichten, um ihn zwischen Klauen aus Hass zu zerquetschen und mit rasender Geschwindigkeit wieder auszuspucken. Unmittelbar danach, während er sich unaufhörlich überschlägt, nimmt er den Geruch wahr. Sein erster klarer Gedanke, der ihm ziemlich schnell in den Sinn kommt, um die Wahrheit zu sagen, ist die große Wahrscheinlichkeit einer weiteren Explosion, wenn die in der Pathologie gelagerten Stoffe mit dem Feuer in Berührung kommen. Sein zweiter Gedanke überrascht ihn durch seine Andersartigkeit: Seine Waffe. Seltsam, denkt er, bevor er auf den Boden fällt, verrenkt, zwischen Glassplittern und Fetzen von verbranntem Papier, wie lange ist es her, dass er sie nicht mehr in den Fingern hatte, Monate? Jahre? Schließlich kommen seine alten Knochen auf einem stählernen Seziertisch zum Liegen, von dem er sich auf den Boden gleiten lässt. Kraftlos, übel zugerichtet und verstümmelt vielleicht, aber noch bei Sinnen. Ein Glück, dass die Seziertische mit dicken Bolzen im Boden verankert sind, denn sonst hätte eine Explosion wie diese sie in tödliche Geschosse verwandelt. Eine Explosion wie diese nennt sich Bombe, denkt er im Halbschlaf totaler Benommenheit und merkt, weil er nichts hören kann, gar nicht, dass er es laut gesagt hat. Das irrsinnige B-Moll heult weiter in seinen Ohren. Er sieht alles nur verschwommen und Rauch breitet sich aus: Scheiße, die Chemikalien. Es gelingt ihm, nicht ohne Anstrengung, seinen Blick auf einen rotweißen Fleck vor seinen Füßen zu richten. Es ist der Ärmel eines Kittels, eine Hand, Blut. Der restliche Körper fehlt. Ich habe eine Hand zu viel, einen Freund zu wenig. Betito? Dann reagiert er, leicht verwirrt und mustert seine Hände, Gott sei Dank, die Ärmel. Er ist übersät von Wunden und Schnitten, aber die Hände sind noch da, knochig und gelb, aber lebendig und beweglich. Eine übel riechende, schwarze, heiße Schwade hüllt ihn ein. Benommen zählt er seine Finger und beim ersten Versuch kommt er auf elf. Beim zweiten Durchgang zählt er die gewohnten zehn und er atmet erleichtert auf. Er schaut seine Füße an, tastet seine Ohren und den Unterleib ab, hustet, findet aber nichts Zähflüssiges, seine Kleidung ist zerrissen, seine Haut abgeschürft, nichts Ernstes. Er lächelt, bewegt sich aber nicht. Sein Kopf schmerzt und er tastet seinen Scheitel ab. Er stößt auf Blut und Glassplitter, aber sonst nichts. Das Heulen lässt langsam nach und er hört Schmerzensschreie, Weinen, Flüche. Da öffnet jemand ein weiteres Mal die Tür zur Hölle und die Welt geht erneut in Flammen auf in einer zweiten Bombenexplosion.

Auch wenn diese sich mehr nach einem Böller anhörte, weniger stark, aber ebenso zerstörerisch, lässt die zweite Explosion das Fleisch durch den ganzen Raum spritzen; Caronte weiß auch warum: es war eine Splittergranate. Er sieht, wie zwei Gestalten zu Boden fallen, die sich gerade schwankend erhoben hatten. Das Heulen in seinem Kopf ist zurückgekehrt und vervielfacht sich zu einem unaufhörlichen Dröhnen. Das wird sein Bluthochdruck sein, der nach oben geschossen ist. Verdammt. Er muss versuchen, still zu bleiben, sich tot stellen. Aus dem Nichts laufen Szenen aus dem Fernsehen vor seinen Augen ab: das Opossum rettet so sein Leben.

Anfangs nimmt er eher die Vibrationen im Plexus wahr, als das er die Schüsse hört. Kurz darauf schwillt das erneute ohrenzerreißende Heulen ab. Und er versucht, etwas zu hören. Der Rauch ist eine undurchsichtige Haube. Der Schmerz wirkt lähmend. Undeutlich hört er dumpfe Schüsse jenseits des Dröhnens in den Ohren, Salven von Schüssen, eine Antwort auf die vorausgegangenen. Unter lärmendem Rattern fliegen Fetzen von Gegenständen durch den Raum, Papiere, der Wassertank aus der Flurecke, oder das, was von ihm übrig war, zerborsten. Danach Nichts, Unheil verkündende Stille. In der Sinnlosigkeit seiner kleinen, auf den Kopf gestellten Welt, gelingt es ihm, den Faden der Vernunft wieder aufzunehmen. Das war ein Anschlag nach allen Regeln der Kunst, denkt er und stellt sich lieber weiterhin tot. Ein Attentat. In seiner Benommenheit übermannt ihn die Müdigkeit.

Er weiß nicht wann, aber irgendjemand berührt seinen Arm, sein Gesicht, seine Hände. Er öffnet seine Augen halb und erkennt ein Gesicht, zwei. Es sind mehrere. Sie tragen Uniformen. Der links von ihm blutet aus der Nase. Es ist einer der Wachmänner seiner Abteilung. Caronte begreift, dass er am Leben ist. Er versucht aufstehen, aber sie lassen ihn nicht. Er richtet sich ein wenig unbeholfen auf, mit den Händen um sich schlagend, damit sie ihn in Ruhe lassen, stützt sich an einem der Seziertische ab, wobei seine Hand schmerzt. Es gelingt ihm schließlich, den Blick wieder zu schärfen und er stellt die wirre Verwüstung fest, die ihn umgibt. Alles verbrannt, zerborsten, alles ist unbrauchbar. Um sich abzulenken betrachtet er die Punkte auf einer der hinter ihm liegenden Wände; wenn er sie verbindet, so wie er es früher in einigen seiner Malbücher gemacht hat, entsteht bestimmt der Rücken eines Dinosauriers. Er erahnt das Kaliber der Kalaschnikows. Plötzlich ist er wieder der Chef, „Der Geier“, der Oberboss der Leichenschminker. Er sagt unbeholfen: Dass mir niemand etwas anrührt, was den Tatort verändern könnte, obwohl er in Wirklichkeit gerne sagen würde, los, alles wird gefegt und gewischt, alles wird wieder an seinen Platz gestellt und dann hauen wir ab, es ist nichts passiert. Gehen wir was trinken, Leute, ich gebe einen aus. Mit letzter Kraft, beschließt er, sich so weit wie möglich zusammenzureißen, um die Sache vorschriftsmäßig über die Bühne zu bringen. Man muss dort anfangen zu retten, wo es was zu retten gibt, denkt er und fragt mit einer lauten, aber nach Alkoholkonsum klingenden Stimme (er unterdrückt den unmittelbaren Drang, Erleichterung im Alkohol zu suchen, ein ordentlicher Schluck, heiß in der Kehle, eine entfernte Möglichkeit, die ihn vom Hier und Jetzt ablenken könnte):

„Ist jemand verletzt?“ Doch die anderen hören nichts als ein Röcheln.

Der restliche Nachmittag verläuft –  die Zeit hört unbegreiflicherweise niemals auf zu vergehen – zwischen Polizisten, die Polizisten vernehmen, Blut, Verwüstung, Erste-Hilfe-Leistungen, Nähten und anderen Grundlagen der Forensik, während dort, wo nach und nach Leichen auftauchen, auch nach und nach Decken auftauchen, die sie bedecken und in Anonymität hüllen. Jemand legt ihm die Hand auf die Schulter und er merkt, dass es bereits Nacht ist. Es ist Betito, mit versengtem Gesicht und abgefackelten Haaren, was ihm ein furchterregendes und gleichzeitig ulkiges  Aussehen verleiht, mit dieser vorher nie für möglich gehaltenen Glatze, knallrot, wie ein Affe, ohne Augenbrauen und Wimpern. Caronte, ganz blass, hält die Freude, seinen Assistenten lebend zu sehen, im Zaum und zügelt seinen Drang in lautes Lachen auszubrechen.

„Gehen Sie nach Hause, Chef, ruhen Sie sich aus.“

„Nein, es gibt noch viel zu tun.“

„Gleich wird die Bundespolizei hier sein. Da ist sie ja schon“, sagt sein Assistent und deutet mit dem Daumen auf etwas hinter sich. Caronte sieht in die bezeichnete Richtung und erkennt schemenhaft zwischen all dem Rauch, dem Durcheinander und dem Staub und Schmerz, der in der Luft hängt, eine Gruppe von Menschen, die sich mit rascher Bestimmtheit durch den Raum bewegt. Sie tragen schwarze Kleidung mit großen gelben Buchstaben auf Brust und Rücken. Und Waffen, viele Waffen, viel zu viele und inzwischen überflüssige Waffen, würde man Caronte fragen. Das Heulen in den Ohren hat nicht bedeutend nachgelassen, aber wenn sie schreien, kann er zumindest etwas verstehen, so wie aus weiter Ferne. Sein Kopf sticht. Da ist wieder Betito, der darauf beharrt, ihn nach Hause zu schicken und er wägt ab, ob er nicht doch auf ihn hören soll.

Aber erst muss er sich ein bisschen waschen. Er sucht nach den Verbandskästen in einem der unteren Regale und sieht, dass es noch heil ist, obschon er einen der Polizisten um Hilfe bitten muss, um einen Tisch beiseite zu rücken, der es eingeklemmt hat. Dabei nutzt der Polizist die Gelegenheit, ihn etwas zu fragen und Caronte bemerkt, dass dessen Kleidung nicht zerrissen oder mit Staub bedeckt ist und er keine Wunden im Gesicht hat. Er kam erst hinterher.

„Wie viele Personen waren im Raum, Doktor?“

„Weiß ich nicht. Fragen Sie mich morgen wieder. Eine Menge und noch ein paar mehr zwischen Lebenden und Toten“ – er kann sich selbst kaum hören.

Der andere lässt von ihm ab und verschwindet. Caronte geht langsam, umgeht die zerborstenen Möbel und die Bündel, bei denen es sich wahrscheinlich um Leichen handelt, die sorgfältig mit Decken zugedeckt wurden, wobei er sich nicht daran erinnern kann, ob er selbst sie gerade zugedeckt hat. Er erkennt zwei tote Assistenten wieder, neben den Resten der Aktenschränke. Überall liegt Papier herum, es riecht nach angesengtem Fleisch und Caronte denkt, dass es schließlich jemand geschafft hat, das Leichenhaus in eine Dependance der Hölle zu verwandeln. Dante wäre hier ganz in seinem Element gewesen und Caronte hätte die Rolle seines zweitklassigen Vergils spielen können.  Wann wurden die Lichter eingeschaltet, die noch funktionierten?

Die Tür der Toilette ist nicht an ihrem Platz und der Boden ist mit Glassplittern übersät, doch der Spiegel ist ganz geblieben, genauso verdreckt und beinahe untauglich wie eh und je. Caronte betrachtet sich und fährt erschreckt zurück, denn was ihm dort aus dem Spiegel entgegenblickt ist ein lebender Toter. Blut rinnt über das ganze Gesicht und ein Augenlid ist gehäutet, kein Wunder, dass es brennt. Vielleicht steckt der Splitter immer noch drin und wäre er auch nur ein bisschen weiter links eingedrungen, so wäre er von nun an als der einäugige Caronte bekannt und sicher würde auch ein unglückseliger Witzbold nicht fehlen, der ihn mit „Leuchtturm-Caronte“ oder „Zyklop“ betiteln würde. Der Polyphem der Toten. Arschlöcher. Wie vom Ende eines Tunnels aus bittet Caronte alle, die sich ihm nähern, darum, zu schreien, wenn sie mit ihm reden und versucht so, den Tag von neuem zu beginnen, seine Höhle langsam, Schritt für Schritt wieder aufzubauen. Hinter Auskünften an Uniformierte und Schadensaufstellungen versteckt er seine Angst. Betito ist wieder verschwunden, etwas, was ihn gleichzeitig besorgt und beruhigt. Die neue Ärztin mit dem verächtlichen Blick ist auch nirgendwo zu sehen. Von seinem Büro ist nicht viel übrig geblieben. Ein Loch in der Wand, dort wo das Fenster war, durch das die Kälte schleicht und der Straßenlärm, der durchs Sirenengeheul dominiert wird. Ihre Sachen, die Bücher und die wenigen persönlichen Gegenstände auf den Regalen sind zerfetzt über den ganzen Raum verteilt, in lebendem und totem Fleisch verkrustet. Caronte erinnert sich an Lázaro Andrés, der genau dort auf ihn gewartet hatte, als die erste Bombe hochging, jetzt zweifellos vaporisiert. Dieser Lazarus wird sich wohl kaum wieder von den Toten erheben.

Mitternacht ist schon vorüber, als Doktor Luna, Leitender Forensiker des Landes, eintrifft. Er ist im Auftrag des Präsidenten mit seiner Delegation höchstpersönlich aus Augusta gekommen, wie jemand ihm erklärt.

„In Ambigua hat es weitere Attentate gegeben und auch in einer Kaserne in Augusta.“

„Wurden andere Leichenhäuser angegriffen?“, fragt er einer plötzlichen Vorahnung folgend.

„Nein“, erwidert der andere ohne wirkliches Wissen.

Luna kommt, in Begleitung von bis zu den Zähnen bewaffneten Wachen. Allem Anschein nach sind es Soldaten, denn sie tragen Patronengurte und Helme. Es ist die Elitetruppe des Präsidenten: das Sondereinsatzkommando vom Bundeskriminalamt. Zusammen mit Luna kommen noch zwei weitere Männer. Caronte erkennt einen von ihnen, er hat ihn in den Fernsehnachrichten geschwollen daherredend und auf einem Foto in der Zeitung gesehen; es ist der Minister für Innere Sicherheit, auch bekannt als „Der Falke“, ein dünner Typ mittlerer Statur, mit rasiertem Kopf und Augen, die alles, was sie erfassen, wie Messer durchdringen. Er heißt Francisco und hat einen ausländisch klingenden Nachnamen. Der andere ist spröde und groß, mit nach hintem gegeltem Haar und er erinnert Caronte an den typischen Totengräber aus dem Märchen. Sein Verstand trübt sich etwas, als Luna, der ihm trotz der Schnittwunden die Hand reicht, ihn ein wenig schreiend vorstellt:

„Doktor García, darf ich vorstellen, Coronel Zertuche.“

Zertuche, verdammte Scheiße, Adrián Zertuche, „Der Tod“, der Chef des Geheimdienstes. Ein erbarmungsloser Killer, der über den so viele Gräuelgeschichten in Augusta, Ambigua und Ninguna und all den anderen schäbigen Winkeln des Landes kursieren. Die Hand ist hager und kalt, wie ein Reptil, und scheint ein Eigenleben zu entwickeln, als sie durch seine Hand gleitet. Der Falke und Der Tod lauschen ungerührt Carontes Schilderungen.

„Auf dem Treppenabsatz haben wir zwei Leichen in schwarzen Uniformen gefunden, aber sie gehören nicht zu uns.“

„Nein, Doktor“, unterbricht ihn Zertuche. Er hat eine sanfte, zischelnde Stimme. Wäre er ein Tier, dann sicherlich eine Schlange. Der Gegelte fährt fort. Caronte hat das Gefühl, als durchbohre dieser mit den Augen sein Gehirn, glücklicherweise sieht Der Falke gerade in eine andere Richtung, damit beschäftigt, die Zerstörung zu begutachten:

„Die gehörten … zu ihnen.“

„Zu wem? Wer glauben Sie hat einen solchen Anschlag angeordnet?“

„Glücklicherweise“, fällt Der Falke brüsk mit der Stimme eines geübten Sprechers ein,  „befand sich ein Verkehrsbeamter um die Ecke, als die Bombe hochging, so war es uns möglich, sofort ein Einsatzkommando zu schicken…“

„Ja, aber es explodierte nicht nur eine Bombe, sondern da waren mindestens eine Splittergranate, Maschinengewehre, ziemlich wahrscheinlich Kalasch…“

„Danke, Doktor, Sie waren uns eine große Hilfe“, fällt ihm Luna ins Wort. Sein Tonfall suggeriert: Halt den Mund.

Schließlich scheinen sie zufrieden zu sein und Caronte hat auch genug, er fühlt sich schlagartig vollkommen erschöpft.  Luna, der zu wissen scheint, was seinem Untergebenen gerade durch den Kopf geht, nimmt ihn am Arm und zieht ihn beiseite.

„Gehen Sie nach Hause, Caronte, Sie brauchen Ruhe. Und lassen Sie dieses Auge von einem der  Sanitäter behandeln.“

„Danke, ich werde bald wieder zurück sein.“

„Nein, kommen Sie erst morgen wieder.“

„Aber …“

„Das ist keine Bitte, das ist ein Befehl.“

„Schon gut.“

Plötzlich zeigen Lunas Augen einen Anflug von Mitleid.

„Denken Sie nicht weiter an das alles, Caronte. Versuchen Sie, sich ein wenig auszuruhen. Sie sehen nicht gut aus.“

„Danke, Doktor.“

„Bis morgen, García.“

„Bis morgen, Doktor.“

Beim Hinausgehen spürt er im Rücken den Blick der drei und all der anderen, die ihm auf dem Weg  begegnen, Polizisten, Feuerwehrleute, nicht klassifizierbare Beamte, der wie ein schweres Gewicht auf ihm lastet. Die Leichen der Maschinengewehr-Schützen liegen nicht mehr auf dem Treppenabsatz. Zurückgeblieben sind lediglich dunkle Flecken und leere Patronenhülsen, die er auf den ersten Blick erkennt: 7,62 mm. Das waren die beiden Hurensöhne, die ihm den Dinosaurier an die Flurwand gepinselt haben. Draußen, bevor die Sanitäter ihn abfangen konnten, blickt er auf die Fassade des Gebäudes zurück. In der Nähe des Bürgersteigs liegen drei weitere Leichen, die auch mit Tüchern zugedeckt wurden und von weiteren bewaffneten Männern bewacht werden. Das Blaulicht der Streifenwagen läuft an den Fassaden der umliegenden Gebäude entlang. An der Stelle, wo sich sein Fenster befand, klafft ein etwa zweieinhalb Meter großes Loch, das den Blick auf das darüber und darunterliegende Stockwerk freigibt, obschon die Schäden hier viel geringer ausgefallen sind. Irgendjemand zerstörte absichtlich den Eingangsbereich des Leichenhauses, sein Büro inbegriffen. Glücklicherweise befinden sich die Kühlräume im Keller, bis wohin der Brand sich nicht ausbreiten konnte. Da kam ihm ein Gedanke, der ihm die Haare zu Berge stehen ließ: War er etwa selbst das Ziel? Oder war es Lázaro Andrés? Wo ist die neue Ärztin? Er kann sich nicht daran erinnern, Überreste gesehen zu haben, die ihre hätten sein können. Diese eine Hand war die eines Mannes. Sicher gehörte sie zu einem der anderen Assistenten, zu Marchina vielleicht. Armer Marchina.

Was war verdammt noch mal passiert? Um dieses Problem überdenken zu können, musste er in einer Bar Halt machen.

In der Bar ist sein erstes Ziel die Toilette, überprüfen, dass er kein Blut im Urin hat, das Gesicht mit ein wenig kaltem Wasser bespritzen, das geflickte Lid kontrollieren, um den erneuten Gang zum Spiegel zu rechtfertigen. Caronte hasst Spiegel, aber in letzter Zeit ist er süchtig nach ihnen, sei es im Ankleideraum der Assistenten des Leichenhauses, sei es in seinem Loch in Coso Bajo, sei es in der jetzt zerstörten Toilette neben seinem Büro oder in dem stinkenden Pissbecken dieser Spelunke, die sein zweites Zuhause ist. Der lebende Tote auf der anderen Seite des Spiegels ist noch immer dort und starrt ihn an. Er denkt an Lázaro Andrés, an die neue Ärztin, erneut stellt er sich vor, wie sie auf seinem Seziertisch liegt, aber als Puzzle aus Brei, einem Riesendurcheinander von Knochen und Organen, Fleischfetzen, Augen, die sich nicht mehr in den Augenhöhlen befinden, in einen gelben, schimmernden Schleim getränkt schwimmend. Er verzieht das Gesicht vor Ekel und der lebende Tote schenkt ihm einen flüchtigen Blick auf seine gelben, belegten Zähne. Hinter dem Hosenschlitz schrumpft etwas und er kann sich gerade noch umdrehen, um sich in der Latrine zu übergeben. Dann wäscht er sich in aller Ruhe.

Im Innenraum der Bar bleibt seine Anwesenheit unbeachtet, denn alle Stammkunden sind zusammengedrängt und starren mit verwirrten Gesichtern auf den Fernseher, der über der Theke hängt und aus dem hysterische Stimmen und Bilder des Attentats dringen. Er will sich gerade an seinen Stammtisch setzen, um auf seinen Kumpel Martín Marrero zu warten, mal sehen, ob er ihn in eine der Spelunken im Viertel San Rafael einlädt, in eine der Höhlen voll dominanter Weiber und giftiger Schlangen, als eine kehlige und schwere Stimme  ihn aus seinen Gedanken reißt.

„Ich habe bereits auf Sie gewartet, Caronte. Sie sehen beschissen aus.“

Der Gerichtsmediziner dreht sich um, leicht verwundert, dass er schon wieder besser hören kann und erstarrt vor Schreck, als er die finstere Gestalt erkennt, die sich ein wenig vorbeugt, um aus dem Schatten herauszuwachsen. Die Maske des Teufels, die hellgrünen Augen, die scharfen Zähne, bei denen man unmittelbar an das Lächeln eines Hais denken muss. Was für ein beschissener Abschluss der letzten Tage, verdammt; der ekelhafte Leichnam, geraubt oder vertauscht, was zum Teufel es auch gewesen sein mag, die toten Mädchen, die Brutalität des Anschlags, die Führungsriege des staatlichen Terrorismus, die ihm in die Kniekehlen schaut, während er geschlagen aus dem eigenen Nest flüchten muss, und jetzt das, lieber Gott, was für eine verdammte Art den Tag zu beschließen, indem man auf diese beschissene Missgeburt stößt.

Es ist der leibhaftige Bill Toledo. Hannibal ante portas. Die Pupillen glänzen gelblich grün, wie die eines Hundes im Scheinwerferlicht. Nicht ohne Grund wird er „Der Schakal“ genannt. Für Caronte sieht er eher aus wie ein Vampir.

„Erkennen Sie sie wieder?“, fragt er und Caronte erinnert sich daran, dass Toledo nicht gerade für sein Feingefühl und seine Zurückhaltung bekannt ist. Er beugt sich zu dem rechteckigen Papier hinunter, das ihm diese Finger, mager und knorrig wie Holz, hinhalten. Es ist ein Foto. Caronte strengt sich an und kneift die Augen zusammen, weil er seine Brille beim Brand verloren hat. Ja, das ist sie, sagt er erstaunt zu sich selbst. Eine Photographie der Frau. Der selbe verächtliche Blick und der leichte Anflug eines geheimnisvollen Lächelns. Das sie schon beinahe schön aussehen lässt.

Fortsetzung folgt …

Jorge Moch, geboren 1966 in Mexiko-Stadt, ist Journalist, Comicautor, Illustrator und Schriftsteller. Seine Artikel und Kolumnen veröffentlicht er in verschiedenen mexikanischen und ausländischen Zeitungen (z.B. in .La Jornada Semanal). Gelegentlich arbeitet er auch beim Radio und Fernsehen. Moch ist Autor zweier Romane, Sonrisa de gato (2006) und ¿Dónde estás, Alacrán? (2008) und des Erzählbands Hijos de la clepsidra (2007), mit dem er den Premio Nacional de Literatura Efraín Huerta gewonnen hat. Heute wohnt er in Xalapa, im mexikanischen Bundesstaat Veracruz.

Katharina Meyer, geb. 1979 in Bersenbrück. Seit 2005 Studium des Literaturübersetzens in Düsseldorf mit den Fächern Spanisch und Französisch. Auslandssemester an der Universität Santiago de Compostela. Mitarbeit an Projekten, u. a. in Mexiko, Cuba, Spanien, Großbritannien und Frankreich. Gemeinsam mit anderen Studierenden Untertitelung des spanischen Filmes El bosque animado (1987, José Luis Cuerda).