Geschrieben am 4. Dezember 2010 von für Crimemag, Diez Negritos

Fortsetzungsroman: Diez Negritos – Ein ekelhafter Leichnam (4)

Der Roman: Ein ekelhafter Leichnam (Un cadáver asqueroso)

– Vergangenes Jahr begannen die Diez Negritos einen Online-Krimi zu verfassen. In ironischer Anlehnung an die surrealistische Methode des cadavre exquis („köstlicher Leichnahm“) betiteln sie ihren Gemeinschaftsroman mit „Ein ekelhafter Leichnam“ („Un cadáver asqueroso“); und tatsächlich präsentiert uns im ersten Kapitel ein Gerichtsmediziner einen unerklärlich ekelhaften Leichnam in einer Stadt, die Merkmale von allen möglichen hat und keine einzige ist …

Nach der Maxime von Paco Ignacio Taibo II, derzufolge die Anarchie die einzige natürliche Ordnung ist, folgt der Roman keinem vorgefertigten Plan und daher dürfen wir sicher mit der einen oder anderen Überraschung rechnen.

Die Autoren: Diez Negritos

Zehn spanischsprachige (Krimi-)Autoren haben sich im März 2009 unter der Koordination des französischen Literaturwissenschaftlers, Kritikers und Autors Sébastien Rutés zusammengeschlossen, um ein gemeinsames Blog zu verfassen: Paco Ignacio Taibo II, Antonio Lozano, Carlos Salem, Eduardo Monteverde, Juan Hernández Luna, Lorenzo Lunar, Rebeca Mugra, Sébastien Rutés, Jorge Belarmino Fernández und Juan Ramón Biedma. Im Sommer 2009 stießen die Spanierin Cristina Fallarás, der Italiener Bruno Arpaia und der Mexikaner Jorge Moch dazu, sodass aus den zehn kleinen Negerlein dreizehn wurden. Leider schrumpfte die Zahl im Juli dieses Jahres durch den unerwarteten Tod von Juan Hernández Luna jedoch wieder auf zwölf.

Mit der Bezeichnung „Diez Negritos“ („Zehn kleine Negerlein“) spielen die Autoren nicht nur auf das Kinderlied, sondern auch auf den Roman „Ten Little Niggers“ von Agatha Christie an. Des Weiteren sind mit „Negritos“ natürlich die Verfasser von novelas negras (Kriminalromanen) gemeint. Das Gemeinschaftsblog ist in erster Linie ein Ort der Diskussion über Kriminalliteratur aber auch über viele angrenzende Themen und wird von dem französischen Verlag L’Atinoir unterstützt. Laufend publizieren die Autoren dort Essays, Erzählungen, Gedichte, Fotos, Zeichnungen, Gemälde, Kommentare, autobiografische Notizen …

Zu Teil 1, zu Teil 2, Teil 3

4

Wo bist du, Nicolás?

Lorenzo Lunar Cardedo

Übersetzt von Carina Nehring

„Das ist nicht mein Onkel Nicolás!“, kreischte die Blondine im roten Rock, und dieser Satz brachte das gesamte Personal der Clínica del Sangrado Corazón, des Bestattungsinstituts „Die letzte Nacht“ und der Polizeistation von Ninguna auf Trab.

Als auf der Polizeistation das Telefon klingelte, bohrte Lázaro Andrés gerade in der Nase.

Teniente Lázaro Andrés, der die ekelerregende Ausstrahlung eines schwitzenden und schlecht rasierten Dickerchens besaß, war nach Ninguna gekommen, nachdem er das Vertrauen seines Vorgesetzten, des Mayor Toledo, verloren hatte.

Um es mit der Gerechtigkeit zu sagen, die die wahre Wahrheit verlangt: Teniente Lázaro Andrés hatte nie das Vertrauen des Mayor Toledo genossen. Der alte Mestize hatte ihn ausgenutzt und der Aufsteiger und Streber Lázaro Andrés hatte sich ausnutzen lassen, ohne zu ahnen, dass sich Bill Toledo eher früher als später des Benutzten entledigen würde.

Bill Toledo konnte die Schwarzen nicht ausstehen.

Als Bill Toledo noch Billy war und kein Mayor, also noch minderjährig und ohne militärischen Rang, hatte er sich eines Morgens ins Viertel Coso Bajo gewagt, wo ihm, in einer Biegung des Callejón del Gato und am helllichten Tage, ein dunkelhäutiger Typ den Arsch mit seinem Schwanz in Größe XL perforierte.

Warum hatte Billy, der junge Billy, es gewagt, Coso Bajo zu betreten?

Das war in den Siebzigern und Billy, mit noch nicht einmal zwölf Jahren, war geblendet von den Ideen, die die Welt revolutionierten. Aber er war unfähig – heutzutage sind das immer noch viele – die Gedanken der Hippies von denen der Guerilleros, die Befreiungstheologie vom Marxismus-Leninismus und die extreme Linke von der extremen Rechten zu unterscheiden.

Billys Mutter, Mitglied in der Gemeinde der Kirche der Heiligen Carmen, einem Gotteshaus, das sich noch immer neben dem Platz, an dem die Kleinstadt gegründet wurde, als eine der Ikonen von Ninguna erhebt, hatte tausendmal zu ihrem Sohn gesagt: „Die Schwarzen taugen zu nichts.“ Billys Vater, der dem Militär in der Diktatur angehörte, die das Land bis in die Sechziger hinein zermalmte, war kurz nach dem Wechsel wegen Folter verurteilt worden. Aber bevor er erschossen wurde, hatte er noch die Zeit, seinem Sohn zu erklären: „Ein Schwarzer, ein Trottel und ein Haufen Scheiße – alles das Gleiche.“

Doch Billy wurde in einem neuen Land erzogen, das man mit allen und für das Wohl aller aufbaute und auf die gleiche Weise, wie in der Schule die Gottesfurcht von die Angst ersetzt wurde, den Namen des Allmächtigen in den Mund zu nehmen, wuchs die neue Generation mit den Werten der Gleichheit, des Zusammenhalts und des Wohlstands auf; so lautete der Grundsatz des neuen Landes.

Deshalb ging der junge Billy an einem Mittag im August nach Coso Bajo, das Viertel der Schwarzen; in den Callejón del Gato, die Gasse der Ärmsten und Bedürftigsten, die Seligen der neuen Gesellschaft.

Als er den Fluss Almendares überquerte, atmete Billy begeistert den Geruch des stinkenden Wassers ein, um seine Lungen mit den neuen Gerüchen der Freiheit zu füllen. Der Gestank nach ranzigem Fett und verfaultem Fisch, der aus den Hütten kam, störte ihn nicht: Das war der Duft des Volkes. Ebenso wenig störte ihn der bittere Schweißgeruch der Bande von fünf Negerlein, die ihn umzingelten, kaum dass er in den Callejón del Gato einbogen war.

„Was hast du hier zu suchen, du kleine weiße Schwuchtel?!“

Billy schenkte seinen Nächsten sein schönstes Lächeln und wandte sich, wie er es aus der Lektüre von Mao Tse-tung und Mahatma Gandhi gelernt hatte, an die Gruppe:

„Brüder, Kameraden …“

„Mein einziger Bruder ist der Arsch deiner Mutter“, meinte ein zahnloser Schwarzer und spuckte ihm auf die Schuhe.

„Hat hier jemand einen Bruder, der weiß ist und eine Schwuchtel?“, fragte ein Mestize mit gelblichem Haar. Und dann ging die Post ab.

„Wir sind Brüder“, versuchte Billy immer noch zu erklären.

„Dann gib mir dein Hemd“, antwortete ihm ein anderer der kleinen Herumtreiber. Und alle lachten gleichzeitig. Ein totalitäres, offenes, demokratisches Gelächter. Irgendein Gelächter eben.

Billy trug ein frisches Hemd, blau, nagelneu. Zur Überraschung aller zog es sich der junge Billy aus und überreichte es dem Burschen.

Fünf schelmische Blicke unterzeichneten die stillschweigende Vereinbarung: Bevor sie diesen Weißen zusammenschlagen und in den Arsch ficken, würden sie ihn erst einmal sauber ausnehmen. Schön sauber. Es wäre ein wahres Verbrechen, wenn die Markenklamotten an seinem Körper etwas abbekommen würden.

„Die Schuhe“, verlangte einer und tat so, als handele es sich um eine Bitte.

Es waren Lederschuhe, von Amadeo, schwarze.

„Brüderchen, deine Socken, bitte“, machte sich ein anderer lustig.

„Ich mag deine Bolschewikenmütze, schenkst du sie mir?“

„Gib mir dein Unterhemd.“

Dann kam der dunkelhäutige Typ. Die Gruppe verfiel in ehrerbietiges Schweigen. Der Anführer bahnte sich den Weg zu Billy, musterte ihn von Kopf bis Fuß und flüsterte ihm ins Ohr:

„Fürchte dich nicht, Bruder. Ich bin gekommen, um dir zu helfen.“

Danach drehte er sich zu den Bettlern, zog ein spöttisches Gesicht und befahl:

„Verschwindet, Lumpenpack! Seht ihr nicht, dass dies hier ein Kamerad ist? Merkt ihr denn nicht, dass sich dieses Land verändert hat?“

Die Streithähne verdufteten. Billy entflammte das Herz, er war glücklich über das Treffen und dies eher wegen der Bestätigung seines demokratischen Standpunktes als dem Erhalt seiner körperlichen Unversehrtheit, da ihm letztere nicht so wichtig war, wenn er in einer feindseligen Welt leben müsste, in der der Mensch dem Menschen ein Wolf wäre, wie es vor dem Wechsel gewesen war. „Wer hat denn gesagt, dass alles verloren ist? Ich kann ja immer noch mein Herz öffnen“, sinnierte der utopisch denkende kleine Kerl.

„Du bist aus dem Holz eines Anführers geschnitzt“, war der Satz, mit dem sich Billy bei dem Typ bedankte.

„Holz“, sagte der andere und legte ihm seinen dunklen Arm um die Schulter. „Ja, du wirst schon noch sehen, aus welchem Holz ich geschnitzt bin.“

Von jenem Nachmittag an hasste Billy Toledo Ninguna, das Viertel Coso Bajo, den Callejón del Gato und vor allem die Schwarzen mit der gleichen Leidenschaft wie seine Erzeuger. Obgleich er sich in der Schule von Gott losgesagt hatte; obwohl er die Schulbank und das Pausenbrot mit Luisa, dem einzigen schwarzen Mädchen in seiner Klasse, teilte; obwohl er bei den städtischen Feiern jeden Samstag mit Inbrunst die Verse des Nationalhelden aufsagte: „Als die Sonne am Himmel so rot / wie in der Wüste aufging / traf ihr Strahl einen Sklaven, der tot / an einem Ceiba-Baum hing. / So sah ihn ein Kind. Voller Qual / und Schauder vor diesem Verbrechen, / schwor es, die Leidenden all / mit seinem Blute zu rächen.“ Trotz alledem hasste Billy die Schwarzen.

Obwohl er sich für den Militärdienst anwerben ließ und Unterkunft und Essen mit Dutzenden von Schwarzen teilte. Obwohl er sich als freiwilliger Soldat meldete, um für die Freiheit eines afrikanischen Brudervolkes zu kämpfen. Obwohl er es mehr als einmal mit einer Eingeborenen trieb. Obwohl er Geschmack fand an den prallen und festen Hinterteilen der Schwarzen und der wollüstigen Hitze ihrer Mösen. Bill hasste die Schwarzen.

Als der erwachsene Toledo, mit dem Rang eines Mayors auf den Schulterklappen seiner Jacke, aus Afrika zurückkehrte, wurde er der Polizei in der Hauptstadt zugeteilt. Eben hatte sich die Büchse der Pandora geöffnet, die Korruption im Innenministerium war aufgeflogen, der Präsident des Landes hatte zuverlässigen Offizieren der Armee die innere Ordnung des Landes in die Hände gelegt.

Als Bill der Policía Nacional den Treueschwur für seine neue Aufgabe leistete, schwor er sich gleichzeitig selbst, niemals wieder nach Ninguna zurückzugehen. Er hasste dieses neue Atlantis, das in einem Meer menschlicher Perversionen versunken war. Er hasste das Viertel Coso Bajo. Er hasste den Callejón del Gato.

Er hasste die Schwarzen. Was er aber sehr wirksam verschleierte.

Deshalb, und obwohl er mehr als eine Gelegenheit dazu hatte, spielte er seine Macht niemals gegen Capitán César aus, jenen arroganten und muskulösen Schwarzen, den er fast zehn Jahre lang als Schützling und Untergebenen ertragen musste.

Mayor Toledo wusste nur zu gut seine Doppelmoral einzusetzen und für alle schien er der zärtliche Vater und Beschützer dieses Schwarzen zu sein, den er im Stillen um das Glück bei den Blondinen und den verdienten Ruf eines gut bestückten Mannes beneidete. César, der Dreibeinige; so wurde er genannt.

César, Pragmatiker und Erpresser, löste für gewöhnlich jeden Fall auf Gedeih und Verderb. Und durch seine Methoden wurde er mehr als einmal in Streitereien verwickelt, die Toledo, als guter Vater und fürsorglicher Lehrmeister, schlichten musste. Bis eines Tages Lázaro Andrés auftauchte; ein Teniente, der frisch von der Polizeischule kam, nach Macht gierte und von seinem Aufstieg träumte. Es war einfach, ihn in einem Fall gegen César zu benutzen, in dem gewisse Polizisten der Hauptstadt ihre Sittlichkeit, ihre Ämter und ihre Macht aufs Spiel gesetzt hatten.

Schließlich sollten beide, César und Lázaro Andrés, aus ihren Ämtern fliegen. César landete in Pola de Primavera, einem vergessenen Dorf mitten in den Bergen der Cantabria Tropical, und Lázaro Andrés – Ironie des Schicksals? – in der Stadt, von der der durchtriebene Schmeichler Bill Toledo geschworen hatte, nie wieder dorthin zurückzugehen: die Hochburg der Gespenster, die Großstadt des Nichts, die Metropole des Vergessens: Ninguna.

„Das ist nicht mein Onkel Nicolás!“, kreischte die Blondine im roten Rock, und ich war stolz auf meinen Chef.

„Meister Caronte ist wirklich ein Meister seines Faches“, erklärte ich ihr. „Wann haben Sie denn Ihren Onkel zum letzten Mal gesehen?“

Es gibt Weiber, die sind geschwätzig. Die hier war auch noch theatralisch.

Als die Blondine im roten Rock ihren Onkel Nicolás Noletti das letzte Mal gesehen hatte, verlor sie gerade ihre Milchzähne. Man fragt eine Dame nicht nach dem Alter; um eine ungefähre Ahnung von dem Zeitraum zu bekommen, in der die Blonde ihren geliebten Onkel nicht gesehen hat, reicht es, wenn man weiß, dass sie seitdem vier Mädchenschulen besucht, sich ohne Erfolg an drei Studiengängen, einer Ausbildung zum Model und einer zur Schauspielerin versucht, in mehreren Nachtclubs in Ambigua – der Nachbarstadt von Ninguna – als Sängerin gearbeitet und zwei gescheiterte Ehen hinter sich hatte, bevor sie zum dritten Mal heiratete.

„Menschen verändern sich im Laufe der Zeit“, sagte ich zu ihr.

Die Blondine im roten Rock kramte einen Augenblick lang in ihrer Ledertasche und zog ein Foto heraus. Ihr Blick wanderte ein paar Mal zwischen dem Foto und dem Gesicht der Leiche hin und her. Dann verzog sie angewidert das Gesicht und kreischte erneut:

„Das ist nicht mein Onkel Nicolás!“

Also blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Chef zu stören.

Ich war gerade dabei, mich mit meinem Kumpel Martín Marrero zu betrinken. Wir sind seit der Schule Freunde und haben uns angewöhnt, uns mehrmals in der Woche zu treffen, um uns in der Bar Los Parados in der Calle Prado, gegenüber des Capitolio von Ninguna, bis zur Erleuchtung zu besaufen.

Bei jedem Besäufnis muss ich Martín schwören, dass ich nach ihm sterben werde. Martín hat eine abscheuliche Nase, rot wie eine reife Paprika und voller Warzen. Den Traum, sein Profil mit Schönheitschirurgie zu korrigieren, gab er mit seinen letzten Jugendjahren auf und jetzt, da er alt ist, besteht sein einziger Wunsch darin, mit einer anständigen Nase ins Jenseits zu gelangen, sei es nun das Paradies oder die Hölle, was auch immer ihn erwartet. Und er will unbedingt, dass ich ihm diesen Gefallen tue, wenn er auf dem Totenbett liegt: auf meinem Tisch aus unvergesslichem Stahl.

Ich schwor ihm gerade zum zehnten Mal an diesem Nachmittag, nicht vor ihm zu sterben, als mein Handy klingelte.

Ich mag dieses Gerät nicht, denn es hält mich immer von der einzigen Zerstreuung ab, die ich habe: der Trinkerei. Ich hasse seinen düsteren Klingelton. Wenn ich es in meiner Hosentasche vibrieren fühle, würde ich es am liebsten zerquetschen wie ein summendes Insekt. Ich verabscheue das Handy, weil es mich immer nur zur Arbeit ruft. Nicht, dass ich meine Arbeit nicht mag; die Arbeit hat bei mir oberste Priorität, gleich nach dem Besaufen. Ich kann das Handy nicht ausstehen, weil mir nichts anderes übrig bleibt, als ihm zu gehorchen.

Das Handy klingelt und ich ziehe tausend Grimassen, spreche hundert Flüche aus, lasse zehn Gotteslästerungen von mir und nehme den Anruf an. Oder ich beschränke mich, wie dieses Mal, nur darauf, die Nummer zu betrachten, von der aus ich angerufen werde. Die Möglichkeiten sind begrenzt: die Pathologie oder irgendein Bestattungsinstitut. In Wirklichkeit nur eine: Der Trottel Betito.

Ich leere mein Glas, beende das Versprechen, umarme meinen Kumpel Martín und verlasse widerwillig und halb besoffen die Bar.

Über dem Capitolio von Ninguna türmt sich eine graue Wolke auf. In dieser Nacht wird es zu viel regnen.

Ich übertrete die Schwelle des Bestattungsinstituts „Die letzte Nacht“. Neben dem Sarg von Nicolás Noletti erwartet mich herausfordernd eine Blondine in einem sehr kurzen, roten Rock. An ihrer Seite steht Betito. Ich gehe zu ihnen hinüber.

„Das ist nicht mein Onkel Nicolás!“, kreischt die Blonde neben meinem rechten Ohr, das, auf dem ich noch hören kann.

„Sie sagt, das hier sei nicht ihr Onkel“, erklärt Betito verdrießlich.

Ich beuge mich über den Sarg.

Nicolás Noletti liegt darin, in den eleganten, schwarzen Nadelstreifenanzug gezwängt, den ich ihm einige Stunden zuvor als sein letzter Wohltäter mitgegeben habe. Er hat das milde Antlitz eines Geschäftsmannes, der in seinem Büro von einem Herzinfarkt überrascht wurde; den friedlichen Gesichtsausdruck eines Familienvaters, der sich reinen Gewissens vom Leben verabschiedet, während er in den Armen seiner geliebten und treuen Frau liegt und sein letzter Atemzug von einem Kuss seines liebenden Sohnes begleitet wird. Die Totenblässe hebt den gütigen Ausdruck Nicolás Nolettis noch hervor.

Nicolás Noletti sieht nicht aus wie Nicolás Noletti.

Nicolás Noletti ist nicht Nicolás Noletti.

„Das ist nicht Nicolás Noletti“, sage ich. Und spüre diese Mischung aus Entsetzen und Resignation in meiner Stimme. Dieser schwermütige Ton, der mich immerzu begleitet.

Dann holt die Blondine ihr Handy aus der Ledertasche, wählt eine Nummer und sofort ist die ganze Stadt in Aufruhr.

Lorenzo Lunar Cardedo

Lorenzo Lunar Cardedo wurde 1958 in Santa Clara (Kuba) geboren. Er ist Autor der Erzählungen „El último aliento“ (1995) und „De dos pingüé“ (2004) sowie der Kriminalromane „Que en vez de infierno encuentres gloria“ (2003, deutsch: „Ein Bolero für den Kommisar“, 2006), „La vida es un tango“ (2005), „Usted es la culpable“ (2006) und „Dónde estas corazón“ (2009). Seine Artikel und literaturkritischen Essays wurden in verschiedenen kubanischen und ausländischen Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht und seine Erzählungen in Anthologien auf Kuba und in anderen Ländern. Lunar erhielt für sein Werk mehrere Preise auf Kuba sowie in Spanien.

Carina Nehring, Jahrgang 1984, studiert seit 2007 Literaturübersetzen (Spanisch/Englisch) in Düsseldorf. Zusammen mit anderen Studierenden untertitelte sie den spanischen Film „El Bosque Animado“ von Regisseur José Luis Cuerda. Mit Jenny Merling übersetzte sie Ausschnitte aus dem Roman „Hotel Limbo“ der mexikanischen Autorin Mónica Lavín für eine öffentliche Lesung und die Erzählung „Un lugar más alejado“ von Alejandro Parisi, die in der Anthologie „Voces. Cuentos argentinos / Stimmen. Argentinische Erzählungen“ 2010 erschien. Während ihrer Schulzeit lebte sie ein Jahr lang in Madrid.