Geschrieben am 1. September 2022 von für Crimemag, CrimeMag September 2022

1 Buch – 2 Stimmen: „Auf der Lauer liegen“ von Liz Nugent

Klaus Kamberger und Frank Schorneck über ein böses Buch

Liz Nugent: Auf der Lauer liegen (Lying in Wait, 2016). Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Steidl Verlag, Göttingen 2022. 368 Seiten, 28 Euro.

Das ganz normale Leben halt

Bürgerliches Leben kann die Hölle sein. Gutbürgerliches schon gar. Aber keine Sorge, man kann es sich schon in ihm einrichten: ein bisschen arrangieren hier, weggucken dort, Ansprüche für gottgewollt halten, das eigene Tun immer schön rechtfertigen, ansonsten die Vorhänge zuziehen, das gewählte Ambiente dekorativ gestalten und felsenfest wissen: eigentlich ist man immer und in allem auf dem rechten Weg.

                  Oder etwa nicht? Kann man tatsächlich mal etwas falsch machen? Zum Beispiel jemanden umbringen, der das im Grunde nicht verdient hat? Jemanden erwürgen, ohne dass es nicht doch am Ende nicht mehr als ein bedauernswerter Unfall war? Kommt halt drauf an… Ein Recht auf Leben hat zwar jeder Mensch, aber dann doch wieder der eine ein wenig mehr und der andere dafür halt weniger. Guten Menschen steht da sicher mehr zu, Schlampen und billigen Flittchen eben etwas weniger. Oder?

                  Das ganz normale Leben halt. Lydia gehört eindeutig Dublins besserer Gesellschaft an. So etwas verpflichtet bekanntlich, vor allem zur Ignoranz gegenüber allem, was sonst so vor sich geht in der Welt. Zwar fällt es ihr nicht ganz leicht, stets die Fassade zu bewahren, hinter der sie lebt. Aber sie weiß nur zu genau, was sie will und was ihr zusteht. Lawrence, ihr über alles geliebter Sohn, ist in erster Linie: Sohn. Und das ist sein Problem. Karen, die wie von selber in sein und dann auch seiner Mutter Leben tritt, entstammt hingegen ganz anderen Kreisen. Kreisen, mit den Lydia an sich natürlich nichts am Hut hat, nicht ums Verrecken. Obwohl das hier das passende Stichwort wäre: Verrecken.

                  Karen hat eine total aus der Art geschlagene und dennoch innig geliebte Schwester, und mit dieser Schwester bekommt es Lydia leider zu tun, was allerdings nicht gut ausgeht. Jedenfalls ist das Mädchen plötzlich wie vom Erdboden verschwunden. Hat Lydia etwa damit zu tun? Und wenn ja, wieso? Lawrence ahnt etwas, kann es aber nicht glauben, Karen ahnt nichts, und um so heftiger trifft sie, was das Ende bringt. Und Lydia arrangiert halt die Dinge.

                  Alle drei – Lydia, Lawrence und Karen – lässt die großartige Liz Nugent nun ein und dieselbe Geschichte erzählen, und dreimal klingt diese natürlich ganz anders. Schon allein ob dieser stupenden Technik eines ständig sich hochschraubenden Perspektivwechsels darf die Dubliner Presse Liz Nugent zu Recht die „neue Königin des irischen Krimis“ nennen. Aber man kann ihr da auch zugutehalten, dass sie am Ende nur mal schnell hinüber auf die englische Insel schauen und beim Großmeister dieser Erzählkunst in die Lehre gehen musste. Ja, gewiss doch, bei Graham Greene. Wem sonst? 

                  Und noch etwas kann Liz Nugent perfekt: ganz normale Verhältnisse beschreiben, keine extremen Auswüchse beschwören, sondern alles so halten, als wäre es der irische Alltag. Meint man jedenfalls. Dabei leben alle, die diesen Dubliner Alltag leben, für sich in einer Art Hölle, ohne es zu wissen. Und plötzlich scheint es normal, dass man jemanden auch mal schnell um die Ecke bringen kann, wenn es dem Eigennutz dient, denn der rechtfertigt bekanntlich alles. Weil es halt Dinge gibt, die einem einfach zustehen. Nicht wahr?

                  Was für ein „böses“ Buch! Da bleibt einem die Luft weg. 

Klaus Kamberger

Frank Schorneck: An Soziopathen nicht gespart

Mutter!

„Mein Mann hatte eigentlich nicht vor, Annie Doyle umzubringen, aber diese verlogene Schlampe hat es nicht anders verdient.“ – schon mit dem ersten Satz dieses Romans wird deutlich, dass Ich-Erzählerin keinen Wert auf Sympathie-Punkte  seitens der Leserschaft legt. Und mit Schuldfragen nimmt sie es auch nicht so genau, denn eigentlich ist sie es, die durch einen kräftigen Hieb mit der Lenkradkralle gegen Annie Doyles Schädel  den Tod der jungen Frau verursacht…

Lydia ist jedoch nicht die einzige Erzählerin dieses Romans: Da ist zum einen Karen, die Schwester des verschwundenen Mädchens, die mit ansehen muss, wie die Polizei die Ermittlungsarbeit verschleppt, als sich herausstellt, dass Annie Doyle Drogenprobleme hatte und als Prostituierte arbeitete. Nur ein weiteres gefallenes Mädchen im Dublin des Jahres 1980, das vermutlich nach England durchgebrannt ist. Und da ist Laurence, der übergewichtige siebzehnjährige Sohn Lydias, der für den Abend, als seine Eltern gemeinsam eine kleine Erpresserin töteten, sein eigenes Geheimnis hütet.

Lydias Mann Andrew ist ein einflussreicher Dubliner Richter und so gerät er nicht wirklich ins Visier der Polizei, auch wenn ein Oldtimer, wie Andrew ihn fährt, mit dem Verschwinden Annie Doyles in Verbindung gebracht wird. Nur Laurence fällt auf, dass das vermeintliche Alibi seines Vaters alles andere als hieb- und stichfest ist. Als er sich Jahre später sicher ist, dass sein Vater die Familie Doyle ins Unglück gestürzt hat, sucht er die Nähe zu Vater und Schwester des Opfers – kaum ahnend, welche tragische Entwicklung er damit in Gang setzt.

Die irische Autorin Liz Nugent wartet in ihrem Roman mit einer Menge unvorhergesehener Wendungen auf.  Die drei erzählenden Protagonisten kreisen in unguten Umlaufbahnen umeinander. Lügen, Heimlichtuerei, Eifersucht, Gewalt und psychische Abhängigkeiten greifen in einem perfiden Geflecht ineinander.  Auch wenn Lydia mit ihren ersten Sätzen als gefährlich und gestört identifiziert werden kann, schält sich das wahre Ausmaß ihrer psychopathischen Züge und der krankhaften Beziehung zu ihrem Sohn mit jedem weiteren Dreh der Handlung weiter heraus.

Nugent würzt den Krimi mit schwarzem Humor und spart selbst in den Nebencharakteren nicht an Soziopathen: Da ist der selbstgefällige und aufdringliche Polizist, der sich schmierig an Karen heranmacht; oder da ist Karens Mann, der jeden ihrer Schritte überwacht, falls doch zuviel von ihrer Schwester in ihr stecken sollte…  – das größte Monster dieser Geschichte ist zweifellos Lydia, aber boshaftes Kalkül vermag Nugent auch im Kleinen aufzudecken, in einer Winzigkeit, die jemand neben der Spur ist und wo vermeintliche Geborgenheit unvermittelt in Horror umschlagen kann.

Frank Schorneck

Siehe auch die anderen Beiträge aus der Reihe Ein Buch – Zwei Stimmen:

„Davenport 160 x 90“ von Sybille Ruge – Joachim Feldmann und Alf Mayer

Meisterwerk der Thriller-Kunst: „Geblendet“ von Andreas Pflüger – Constanze Matthes und Alf Mayer

Sie lässt sich Zeit – und das zahlt sich aus: „Family Business“ von Lisa Sandlin– Katja Bohnet und Sonja Hartl

Viel Stahl in dieser Frau: Kathleen Kent „Die Tote mit der roten Strähne“ – Sonja Hartl und Alf Mayer

Ziemlich tricky: Simone Buchholz „Hotel Cartagena“ – Ute Cohen und Werner Fuld

My Fair Lady of the Marshlands: „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens – Katja Bohnet und Iris Tscharf

Romantischer Held, Anarchoschnösel: „Schattenmänner“ von Christian von Ditfurth – Joachim Feldmann und Marga Winterfeld

Dada-Screwball/ Die perfekte Endlosschleife: Christian Y. Schmidt „Der letzte Huelsenbeck“ – Karsten Herrmann und Alf Mayer

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