Geschrieben am 1. November 2021 von für Crimemag, CrimeMag November 2021

Ein Buch, zwei Stimmen: Kathleen Kent „Die Tote mit der roten Strähne“

Sonja Hartl und Alf Mayer über:

Kathleen Kent: Die Frau mit der roten Strähne (The Dime. 2017). Übersetzt von Andrea O’Brien. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 361 Seiten. 16,95 Euro. 

Sonja Hartl: Wahnsinn in Texas

Fulminant ist der Beginn von Kathleen Kents „Die Frau mit der roten Strähne“: Da sitzt Betty Rhyzyk im Jahr 2000 mit gezogener Waffe in einem Haus in Brooklyn und weiß, dass in dem Zimmer mit ihrem toten Kollegen ein „Irrer, mit einem schreienden Säugling und einer Halbautomatik“ ist. Sie ist seit fünf Monaten, einer Woche und neuneinhalb Stunden bei der Polizei, aber instinktiv erkennt sie im entscheidenden Moment den einzigen Ausweg: „Scheiß auf die Yankees!“, brüllt sie – und rettet damit ihr Leben. Der Irre ist Mets-Fan, Betty kommt heil aus der Situation und muss fortan nur noch klarstellen, dass sie den Namen der Yankees nur in allergrößter Not missbraucht hat. 

13 Jahre später hat Betty Brooklyn hinter sich gelassen, ist mit ihrer Freundin Jackie in deren Heimat Texas gegangen und steckt nun mitten in Ermittlungen gegen ein Drogenkartell. Allerdings geht der Einsatz unter ihre Leitung schief und als sie sich bemüht, den Schaden wieder gutzumachen, gerät sie selbst ins Visier: auf ihrem Bett wird eine rote Haarsträhne hinterlassen. Offenbar hat es jemand auf die rothaarige Betty persönlich abgesehen, jemand, der gefährlicher ist als das Kartell. Aber Irre – so viel ist zu diesem Zeitpunkt klar – gibt es in Texas natürlich mehr als genug, hier ist jeder bewaffnet und fast jeder intolerant. Deshalb muss Betty erst einmal herausfinden, wer nun alles hinter ihr her ist. 

Die Handlung steckt voller Wendungen, manche sind überraschend und das Buch endet anders als es zu erwarten war. Dieses Ende ist es auch, dass auf den ersten Blick sehr gut zu dem generischen Titel „Die Frau mit der roten Strähne“ passt, der mich eher an Skandinavien denn Texas denken lässt, der Krimiproduktion sei dank. Es ist ungemein gewalttätig. Die sehr attraktive Betty (das wird sehr oft erwähnt) wird unfassbar viel erleiden und immer wieder aufstehen, sie wird immer wieder ihren Willen beweisen müssen und an ihrem Verstand fast schon verzweifelt festhalten müssen. Aber dennoch steckt darin noch etwas mehr als nur das Etablieren einer harten Heldin: ein Irrsinn, der immer wieder hochkomisch wird. Dazu kommt Bissigkeit und Präzision in der Figurenschreibung, die insbesondere bei den Nebenfiguren bisweilen großartig ist und durch die man sich sogar fast an den homophoben Kollegen von Betty gewöhnt. 

Tatsächlich bin ich gespannt, wie Kent in den folgenden Büchern mit diesem Ende umgeht und ob sie dem Wahnsinn noch mutiger entgegentritt. Denn „Die Frau mit der roten Strähne“ hat eine Reihe unvergesslicher Momente, von denen in den kommenden Teilen hoffentlich noch mehr kommen. Einer der Höhepunkte dieses Buchs ist der Zusammenprall zwischen einem mexikanischen Drogenkartell und einer Gruppe von texanischen Männern aller Altersklasse, die gerade die glorreichen Kämpfe des Bürgerkriegs nachstellen. So etwas habe ich noch nicht gelesen.

Sonja Hartl

Kathleen Kent, Foto von ihrer Website www.kathleenkent.com

Alf Mayer: Viel Stahl in dieser Frau

Ihre Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßmutter Martha Carrier war eine der 19 Frauen und Männer, die man beim großen Hexenprozess von Salem im Jahr 1692 hängte. Sie wuchs auf mit den Erzählungen über eine Häretikerin vor neun Generationen auf, eine Familienhistorie also der wirklich besonderen Art. Sie hörte dazu viele Geschichten, füllte Notizbücher, verbrachte viel Zeit mit Quellenstudium. Eigene Erzählungen schrieb sie schon früh, immer aber nur für sich selbst, an Veröffentlichung dachte sie nicht. Dann fand sie ihr Arbeitsfeld in der Finanzindustrie, ging nach New York, hatte nie das Gefühl, einen Roman anpacken zu wollen – bis es sie wieder nach Texas zurückzog. Ihre Lieblingslektüre waren historische Romane, es stand für sie außer Frage, dass sie eines Tages die Geschichte von Martha Carrier aus Andover, Massachusetts, nahe Salem erzählen würde.

Wohin der Teufel nicht gehen kann, schickt er eine Frau.
(Polnisches Sprichwort – Motto von „The Burn“, dem zweiten Roman mit Betty Rhyzyk.)

So kam es zu „The Heretic’s Daughter“, ihrem ersten Roman, der im Jahr 2008 erschien, heute in der zwölften Auflage ist und in 17 Ländern erschien. Kathleen Kent zeichnet darin aus neuer Perspektive nicht nur ein düster-beklemmendes Bild des puritanischen Neuenglands sondern auch die Resilienzkräfte einer verfemten Familie. Durch die Augen der überlebenden neunjährigen Tochter gesehen, entsteht das bewegende Porträt einer mutigen und furchtlosen Frau. Angereichert mit viel historischem Detail, ist dies ein Zeitgemälde voller Drama und Schrecken, aber eben auch Widerstandskraft und Individualität. „Authentisch, glaubhaft, lebhaft, sensorisch und voller Überraschungen“ nannten die Juroren des „David J. Langum Sr. Award in American Historical Fiction“ das Buch. Es sei „historische Fiktion bester Güte: gut recherchiert, überzeugend erhellend und hervorragend geschrieben“.

Schon von der ersten Seite an baut sich Spannung auf, dräut das Unheil. Sarah, die Erzählerin der ersten Buchhälfte, sagt:

The dread that had poured over me on the way to Samuel Preston’s farm returned to lick its way from my eyes to my neck. It congealed and tightened there like an insect caught in an amber necklace. 

Das Grauen leckt sich seinen Weg von ihren Augen bis zum Hals, verklumpt dort wie ein im Bernstein gefangenes Insekt. Das beschreibt ziemlich gut, wie man sich als Leser dann das ganze Buch durch fühlt.

A red wasp crawled across my hand and I froze lest he bury his stinger in my flesh. He was beautiful and frightful with his soulless black eyes and quivering barb and it came harshly to me that this garden was the world and from the world there would be no hiding.

Es wimmelt von guten Stellen, ständig streicht man sich Sätze an:

Life is not what you have or what you can keep. It is what you can bear to lose.

Men are always the last to ken what women know by sniffing the air. That’s why God gave bodily might to Adam, to balance the inequities in strength.

Der Roman schildert weniger die Hexenprozesse selbst als die davon betroffene Familie, spart jedoch die grauenhaften Haftbedingungen und die brutalen Verhöre nicht aus. Sarahs Mutter, die „Hexe von Andover“, ist eine der ersten Inhaftierten, die gehängt werden.

Die Familiengeschichte als Inspiration

Kathleen Kents zweiter Roman „The Wolves of Andover“ (auch als „The Traitor’s Wife“ im Umlauf), schilderte das Leben von Thomas Carrier, dem Ehemann von Martha, der Familienlegende zufolge über zwei Meter groß war und 109 Jahre alt wurde, als Soldat im englischen Bürgerkrieg (1642-49) kämpfte, einer der Scharfrichter von König Charles I in England war, ehe er in die Kolonien ging. Und auch ihr dritter Roman „The Outcasts“ – mit dem ich auf Kathleen Kent aufmerksam wurde – behandelt ein Stück Familienlegende, spielt im wilden Texas des Nach-Bürgerkrieges im Jahres 1870.

Eine geduldige Frau kann mit einer Laterne einen Ochsen braten. (Chinesisches Sprichwort – Motto von The Dime/ Die Tote mit der roten Strähne, dem ersten Roman mit Betty Rhyzyk)

„The Outcasts“, ihre dritter Roman, hatte eine sich emanzipierende Prostituierte im Zentrum. Lucinda „Lucy“ Carter, auch aus dem Personal von Kathleen Kents Familienlegenden stammend, gelingt 1870 die Flucht aus einem Bordell in Galveston an der texanischen Golfküste, wo sie wie eine Gefangene gehalten wurde. Sie hat einen Plan, wie sie reich werden könnte, sucht einen Piratenschatz, trifft auf einen jungen Polizisten namens Nate Cannon, der zusammen mit zwei Texas Rangern, die ihm das Handwerk beibringen, einen Killer jagt. Ein sprachlich schöner Roman in einem rauen Land nach einem Bürgerkrieg, mit Schießereien, Folter, Mord, Tod am Galgen. Und einer zu allem entschlossenen Frau, die sich ein neues  Leben sucht. Ein Western ohne Klischees, zudem so etwas wie ein Polizeiroman. Kent vermeidet alle romantischen Schablonen, zeigt stattdessen spannungsvoll und schonungslos, welcher Preis für das zu zahlen ist, was man glaubt haben zu müssen.

Dann war es 2013 und die Zeit reif für „Dallas Noir“ aus dem Verlag Akashic Books. In seiner Einleitung zeichnete Herausgeber David Hale Smith die Stadt Dallas, von den Einheimischen Big D genannt, als die „ultimative Noir Town“, für immer gebrandmarkt durch Kennedys Ermordung, korrumpiert bis in die Knochen durch kriminelle Banker und blutige Land- und Immobiliengeschäfte. Jede Erzählung in dem Band spielt – wie in den Akashic-Bänden üblich (siehe auch das von Thomas Wörtche herausgegebene „Berlin Noir“) – in einem bestimmten Stadtviertel, wird so Teil einer Topographie wie sie in keinem Reiseführer steht. Smith unterteilte das Buch in drei Kapitel: Cowboys, Rangers, and Mavericks (zufällig auch die Namen lokaler Sportmannschaften, aber eben auch eine Referenz anderer Art). 

Teil III „Mavericks“, was sich als „Rebellen“ übersetzt, enthält sechs ziemlich unkonventionelle Noir-Geschichten. Eine davon heißt „Coincidences Can Kill You” (Zufälle können tödlich sein). Kathleen Kent – vom Herausgeber angefeuert, doch mal etwas Kontemporäres zu schreiben – versetzt darin eine lesbische Polizistin aus Brookly nach Texas. Den unvermeidbaren Kulturschock illustrierte sie so:

I had worked a lot of strange crimes in New York. A dead naked guy in clown makeup, for one. But usually the trail of clues followed the physics of the known universe, and though all the pieces may not fit together right away, they were somehow linked…You don’t get to an urban boat dock on a drug bust and find a Civil War general. Unless you’re in Texas.

Diese Kurzgeschichte war so gut, fett, frisch, neu und funkelnd, dass sie zum Nukleus von etwas viel Größerem wurde – nämlich zu einer Roman-Trilogie. Kathleen Kent sagt es so: I became so intrigued by the main character, Detective Betty Rhyzyk, that I developed the story into a full-length novel. And there was more to go with her. Much more.“ Eine Figur zu erfinden, die ihre Schöpferin/ ihren Schöpfer so fasziniert, dass muss Autorenglück höchster Güte sein. Andreas Pflüger (der mit seiner Elite-Polizistin Jenny Aaron drei Ausnahme-Bücher schrieb, CulturMag-Interview hier) hat mir das einmal glaubhaft versichert.

 „Die Tote mit der roten Strähne“, US-Titel „The Dime“ (Der Groschen) wurde Kathleen Kents erster Roman mit ultra-toughen, lesbischen, rothaarigen Polizistin Betty Rhyzyk. Band 2 heißt „The Burn“, treibt all die Härten noch tiefer in die Schatten, und „The Pledge“, der Abschlussband, erscheint jetzt am 16. November in den USA.

„The Dime“ wie auch „The Burn“ waren beide für den Edgar nominiert. So etwass kenne ich aus jüngerer Zeit sonst nur von Candice Fox, die sich in Australien ebenfalls mit ihren beiden ersten Büchern gleich ins Spitzenfeld katapultierte. Kathleen Kent entwickelte ihre Heldin erneut aus ihrem familiären Umfeld, nämlich aus dem Umgang mit Cousins, die im Polizeidienst sind. Dazu kam eine wachsende Bewunderung für weibliche Polizistinnen, die damit zurechtkommen müssen „wie die Dinge bei uns im Süden laufen“. Sprich Macho-Welt, Bigotterie und Prüderie hoch drei. Es habe immens Spaß gemacht, eine Frauenfigur zu entwickeln, die sich dagegen behauptet. Eine weitere Quelle ihrer Inspirationen war die erste Frau, die es als Detective ins Dallas Police Department schaffte. Haarsträubend seien die Geschichten gewesen, die sie erzählte. Und dann – Joseph Wambaugh lässt grüßen –  gibt es immer noch das Rezept, zusammen mit Cops abzuhängen oder an Abschiedspartys teilzunehmen. „Es ist erstaunlich“, meint Kent, „was man alles lernen kann, wenn man mit seinem Whisky ruhig in einer Ecke sitzt und einfach zuhört.“

Geschichten, sagte Samuel Fuller einmal, passieren nur jemand, der sie erzählen kann. Erzählen aber muss man können. Kathleen Kent kann das, ganz zweifellos. Und neben allen poetischen Segnungen hat sie Stahl in sich. Ganz viel Stahl. Ihre Bücher zeigen bis ins Private hinein die Folgen von posttraumatischem Stress, so wie ich das noch kaum irgendwo gelesen habe. Alleine das schon zeichnet ihre Polizeiromane aus. Mir ist egal, ob Betty Rhyzyk nun schön ist oder nicht. Wichtig ist, dass sie eine Seele hat und dass sie Familie zu schätzen weiß, auch wenn die Welt ringsum noch so feindlich ist, wie sagen wir, Salem 1692.

Bei aller „grimness“ aber ist da immer ein Herz voller Humor, dem der schwarzen Sorte.

Betty sagt zum Beispiel einmal: „Gäbe es Jackie nicht, bestünde meine Idee, mir emotional selbst zu helfen, aus einer Flasche Jameson. Ich würde aus einem Koffer leben, alle meine T-Shirts wären schwarz und ich würde immer noch Unterwäsche in der Herrenabteilung kaufen.“

Alf Mayer

Kathleen Kent mit Joe R. Lansdale (mit dem sie nicht nur eine Vorliebe für historische Romane und eine Herkunft aus Ost-Texas teil) bei einer Lesung.

Detective Betty Rhyzyk – schnell eine Ikone der LGBTQ+ Community

Tags : , , ,