Geschrieben am 3. Oktober 2019 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2018, CrimeMag Oktober 2019

Katja Bohnet & Iris Tscharf lesen den „Gesang der Flusskrebse“

Ein Buch – zwei Stimmen: My Fair Lady of the Marshlands

Iris Tscharf und Katja Bohnet über den Debutroman von Delia Owens

Rezept und Zutaten

Leser*innen wollen weinen. Und sie werden weinen, wenn sie dieses Buch lesen. Ein opulentes Mahl. Warum verschlang man es? Welche Ingredienzen verwendete die Köchin? Womit würzte sie?

Zutaten:
Nr. 1 einsames, kleines Mädchen
Nr. 2 etwas älterer Junge
Nr. 3 Nebenbuhler (Football, All-American-Loverboy)
Nr. 4 ein brutaler Vater
Nr. 5 eine abwesende Mutter
Nr. 6 ursprüngliche Natur
Nr. 7 ein Mord

Aber Zutaten allein garantieren keinen Erfolg. Jedes gute Essen verlangt nach einem anständigen Rezept.

Delia Owens mischt diese Elemente auf eine Art und Weise, die es schwer macht, sich der Lektüre zu entziehen. North Carolina in den Fünfzigern. Da ist das Kind, das immer wieder verlassen wird, erst von der Mutter, danach von den Geschwistern, dann von ihrer ersten Liebe. Das mit einem brutalen Vater in einer windschiefen Hütte zurückbleibt, bis auch er geht. Das nur eine Mutter akzeptiert: das Marschland, den Sumpf. Das nur Tiere als Freunde kennt. Dieses Mädchen Kya könnte Romulus sein, dem sogar Remus den Rücken kehrte. Es ist die unendliche Duldsamkeit der eines Wesens, immer die andere Wange hinzuhalten, stets Verständnis aufzubringen im Angesicht menschlicher Grausamkeit, die schwer zu begreifen ist, die Leser*innen ganz auf die Seite dieses kleinen Mädchens zieht. 

Nachdem dieses Kind sich mit dem Leben in Armut und Einsamkeit abgefunden hat, fristet es ein Dasein, das nur noch durch Tag und Nacht, die Natur und ihre Jahreszeiten bestimmt wird. Einzige Sorge: Wie wird es sich am nächsten Tag ernähren können? Les Miserables blitzt als Referenz auf. Und Robinson Crusoe. Als man das Mädchen, das sich mittlerweile ohne Vater durchschlägt, in die Schule schicken will, flieht es zurück zu ihrer Hütte im Sumpf. Die anderen Kinder haben kein gutes Wort für sie übrig. Klar wird, dass sie in dieser Zivilisation nicht bleiben kann. Für die Einwohner des nahegelegenen Ortes ist Kya der weibliche Kaspar Hauser des Marschlandes. Sie fasziniert die Menschen und stößt sie gleichzeitig ab. 

Motorisierte Balz

„Der Gesang der Flusskrebse“ ist aber auch ein Bildungsroman. Kyas Entwicklung kann an diesem Punkt der Geschichte noch nicht abgeschlossen sein. Aufzug, nächster Akt: Pygmalion. My Fair Lady. Bäm!

Tate, ein Freund ihres Bruders, nimmt sich Kya an. Er bringt ihr Lesen, Rechnen und Schreiben bei. Zwischen den beiden entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte. Und wäre all das nicht schon rührend genug, wird Tate Zeuge, wie Kya das erste Mal menstruiert. Außer ihm ist in diesem Moment niemand da, der ihr erklären kann, was mit ihr passiert. Offen darüber zu sprechen, würde den Rahmen dieser aufblühende Liebe sprengen. Spätestens jetzt ist es um die Leser*innen geschehen. 

Tate wird Kyas Leben begleiten. Oft umkreisen sich die beiden in ihren Booten. Ein motorisierter Balztanz in den Wasserläufen und Seen, ganz anders und doch ähnlich, wie die Vögel dieses Werben vollführen. Die Liebenden suchen und belauern sich. Nur selten berühren sie sich. Dirty Dancing im Sumpf. Aber auch Tate wird Kya verlassen. Er ist ein guter Junge, weshalb er wenigstens ein schlechtes Gewissen hat, als er nach den ersten Studienwochen nicht mehr zu ihre zurückkehrt.

Auch diese brutale Lehre des Schicksals steckt Kya weg. Aus ihr wird in den nächsten Jahren eine bezaubernde Frau werden. Owens attestiert ihrer Protagonistin eine Mischung aus herber Schönheit und Schüchternheit. Sie macht alles selbst, kann alles. Aber sie ist von den Menschen, die ihr etwas bedeuteten, enttäuscht. Einzig zwei Farbige, selbst Außenseiter im Süden der Fünfziger Jahre, unterstützen Kya. Wer muss da nicht an Blanche DuBois berühmten Satz aus Tennessee Williams Theaterstück „A Streetcar named Desire“ denken? 

„I’ve always depended on the kindness of strangers.“ 

Da kommt ihr der bestaussehende Junge des nahegelegenen Ortes gerade recht. Chase ist ein Frauenheld. Ein Footballgott. Der Hengst, nach dem sich alle jungen Dinger im Ort verzehren. Die Leser*innen wissen, dass eine Liaison mit ihm zu nichts Gutem führen kann. 

Flora, Fauna, Tod

Cut. Parallel zu Kyas Geschichte wird von einem Mordfall zwanzig Jahre später erzählt. Der gute Chase stürzte von einem Turm. Es gibt so gut wie keine Spuren. Diese beiden Erzählstränge, Kya, die trotz oder gerade wegen aller Rückschläge, immer selbstbewusster und älter wird, sowie die Mord-Ermittlungen, bewegen sich aufeinander zu. Des Mordes verdächtigt wird das Marschmädchen.

Die Autorin Delia Owens ist Zoologin. Sie versteht es, die Schönheit eines Landstriches in allen Farben auszumalen. Die Liebe zu Flora und Fauna gibt sie ihrer Protagonistin als primäres Merkmal mit. Es ist wahrhaft ein Pfund, mit dem sich wuchern lässt. In Zeiten von Krieg, Einsamkeit und Unsicherheit wenden sich Menschen der Natur zu. Sie verrät niemanden. Ihre Schönheit ist ungebrochen. Sie überlebt den Menschen. Sie verlässt ihn nicht. 

Dass Delia Owens über eine Frau schreibt, die wider alle Enttäuschungen ihren eigenen Weg geht, ist stark und notwenig. Viel mehr Frauen sollten eine Stimme bekommen. Ihre Geschichten müssen erzählt werden. Die Mittel, die Owens wählt, sind jedoch häufig dem Kitsch entlehnt. Die Leser*innen umweht der süßliche Duft des Eau de Klischee.

Permanent die Schönheit der Natur zu betonen, darin besteht eines dieser Mittel. Trivial sind die akribisch aufgezählten Mahlzeiten, die Kya kocht. Simpel ist die Tatsache, dass Männer Frauen die Welt eröffnen müssen. Kitschig sind einige der zitierten Gedichte. Sowohl vom Inhalt her als auch von der Form. (Im Hinblick auf das Ende stört außerdem ein unzulässiger erzählerischer Kniff: „Dann fiel Kya eines von einer unbekannteren Dichterin ein, Amanda Hamilton.“) Schwülstig werden die sexuellen Begegnungen beschrieben, auch wenn der Ausgang erfreulicherweise selten klassisch ist. Owens kennt keine Scheu vor Adjektiven (sahnig, milchig, weich, …). Zitiert werden auch Songtexte. In diesem Roman ist Chase „der Mann mit der Mundharmonika“. Wir erinnern uns an das Erzeugen einer bestimmten Stimmung in den Texten eines gewissen Claas Relotius. 

Aber hier geht es nicht um Journalismus. Also bitte! Ist in der Fiktion nicht alles erlaubt?

Fünf Geschmacksrichtungen

Der Kriminalfall, wer Chase ermordet hat, wird spannend eingeflochten. Die Gerichtsverhandlung erfolgt in der Tradition amerikanischer Justizdramen. Die Referenz: „Zeugin der Anklage.“ Das ist ein solides Verwirrspiel, wenn auch nicht mehr ganz so mitreißend wie der Auftakt des Romans gemacht. Im Laufe der Geschichte wird Kya zur Biologin, Buchautorin und zu einer eigenwilligen Frau. Was den Lustgewinn an dieser Entwicklung trübt: Alle beruflichen Erfolge, die sie als Einsiedlerin des Marschlandes feiert, initiiert ein Mann. Der wunderbare Schmelz dieser naiven Kinderliebe klebt an der Geschichte wie Kaugummi. Die Autorin erzählt das Leben ihrer Protagonistin über ihren Tod hinaus. 

Owens hat mit „Der Gesang der Flusskrebse“ ein tragisches Debüt erschaffen. Virtuos spielt sie dabei auf einer sentimentalen Klaviatur. Das ist, ob man es will oder nicht, mitreißend. Bis man es bemerkt. Die Referenz verschiedener Universaltexte aus Filmen und der Literatur, dieser Crossover verschiedener Gattungen, macht „die Flusskrebse“ zu einem perfekt seinem Biotop angepassten Roman. Warum fesselt dieses Buch? Das ständige Auf und Ab von Hoffnung und Enttäuschung funktioniert perfekt. Wie könnten wir uns dem Coming of Age eines verlassenen (naiven, schönen, reinen) Mädchens in freier (unberührter, schöner, reiner) Natur entziehen? Wir wären Biester, keine Menschen, wenn uns diese Erzählung nicht rührte. 

Als Rezensentin erwischt man sich dabei, wie sich leichte Scham breit macht. So, als habe man gedankenverloren in einen Rosamunde-Pilcher-Film hineingezappt und ihn tatsächlich bis zum Ende angesehen. Liebesgeschichte, Coming of Age, Krimi, Justizdrama und Bildungsroman. All-you-can-eat in einem Buch. Ein Essen, fünf Geschmacksrichtungen. Über zwei Millionen Leser*innen in den USA können sich nicht irren. Der sinnfreie Titel wirkt allerdings noch lange nach. Seit wann singen Flusskrebse? Aber in dieser von Licht und Nebel durchfluteten Fluß- und Seenlandschaft ist alles möglich. Singende Krebse, selbstermächtigte Frauen und sogar ein Stück Gerechtigkeit.  

Katja Bohnet

  • Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse (Where the Crawdaddy Sings, 2019). Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. hanserblau, München 2019. 460 Seiten, 22 Euro.

Katja Bohnets Ausflug als Hazel Frost („Last Shot“) liegt gerade in den Buchhandlungen und wird nicht nur bei uns gut besprochen. Zwei CrimeMag-Besuche bei ihr hier und hier. Katja Bohnets Texte bei CrimeMag hier.

Die Idylle der Einsamen und Ausgestoßenen

Von Iris Tscharf

Für die Einen ist das Marschland ödes Sumpfland, das längst trockengelegt gehört, für die Anderen ist das Marschland Heimat, das sie mit zahlreichen Tieren teilen. „Marschland ist nicht gleich Sumpf. Marschland ist ein Ort des Lichts, wo Gras in Wasser wächst und Wasser in den Himmel fließt.“ 

Die Marsch, die sich hinter dem fiktiven Ort Barkley Cove in North Carolina erstreckt, nimmt die amerikanische Autorin Delia Owens als Dreh- und Angelpunkt ihres Debütromans, der sich um Natur, um das Überleben im Sumpfgebiet, aber auch um Einsamkeit der Ausgestoßenen dreht.

Wie das Sumpfland, das oft von Bodennebel eingehüllt ist, wirkt auch die Geschichte. Delia Owens enthüllt nach und nach das Leben von Kya. Anfang der 1950er-Jahre lebt Kya als jüngste von fünf Kindern mit ihrer Familie in einer Hütte mitten in der Marsch. Doch nach und nach verschwindet ihre Familie. Erst die Mutter, dann ihre Schwestern, ihr Bruder und schließlich auch ihr Vater. Als zehnjährige alleine zurückgelassen muss Kya lernen, im Sumpfgebiet zu überleben. So beginnt sie Muscheln zu sammeln und diese zu verkaufen oder räuchert Fisch. Ihr einziger Kontakt zur Außenwelt besteht aus einem Jungen, der ihr lesen beibringt und Jumpin, bei dem sie Benzin für das Boot besorgt und dem sie ihre Muscheln verkauft.

Überzeugend liest sich Kyas Geschichte, die mitten in diesem Nirgendwo zurückgezogen heranwächst, zu einem Mädchen, zu einer jungen Frau. Die abgeschnitten von der Gesellschaft einfach nur als „Marschmädchen“ beschimpft wird, und sich Jungen eine Mutprobe stellen, in dem sie an Kyas Tür klopfen. Tate, der zu ihrer ersten Liebe wird, verschwindet schon bald aus ihrem Leben wie ihre Geschwister, ihre Mutter, ihr Vater. Wieder alleine lässt sie sich auf einen Frauenhelden ein, Chase Andrews, der jedoch gleich am Anfang des Romans tot aufgefunden wird. Schon bald wird Kya verdächtigt, ihren Liebhaber umgebracht zu haben. Und so entwickelt sich die Entwicklungsstory mit viel Naturhintergrund nebenbei auch zu einem Kriminalroman, der gegen Ende vor Gericht landet und gegen Vorurteile ankämpfen muss. 

Durch die wechselnden Erzählzeiten weiß man selbst als Leser nicht, ob Kya unschuldig ist oder ihr durch die Vorurteile bald ein großes weiteres Unrecht zugefügt wird.

Doch Delia Owens Roman ist nicht nur ein Genremix, sondern vor allem ein kraftvoller, poetischer „natural-writing“-Roman gelungen. Hier merkt man, dass Owens beruflicher Hintergrund der Zoologie entstammt. So vergleicht Kya, die selbst kaum etwas anderes kennt, als die Tiere der Marsch, selbst untreue Liebhaber mit ihren eigenen Marschstudien: „Sie wusste aus ihren Studien, dass Männchen von einem Weibchen zum nächsten ziehen, warum also war sie auf diesen Mann hereingefallen? Sein schickes Wasserskiboot entsprach dem aufgeblähten Hals und dem übergroßen Geweih eines brunftigen Hirschbullen: Zubehör, um andere Männchen abzuschrecken und ein Weibchen nach dem anderen anzulocken. Dennoch war sie auf denselben Trick hereingefallen …“

Delia Owens Roman „Der Gesang der Flusskrebse“ überzeugt durch eine  glaubwürdige, authentische Geschichte und lässt den Leser selbst für einige Stunden im Marschland versinken.

Iris Tscharf bei CrimeMag hier. Zu ihrem Schurkenblog hier.

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