Geschrieben am 1. September 2019 von für Crimemag, CrimeMag September 2019

Bloody Chops – Bücher kurz serviert – September 2019

Bücher kurz serviert

Kurzbesprechungen von fiction und non fiction. Joachim Feldmann (JF), Günther Grosser (gg), Alf Mayer (AM), Frank Rumpel (rum) und Thomas Wörtche (TW) über:

Am Erker 77: Detektive, Cowboys, Sternenkrieger
Max Annas: Morduntersuchungskommission
Kate Atkinson: Deckname Flamingo
Kerstin Ehmer: Die schwarze Fee
Thomas Engström: South of Hell
Hazel Frost: Last Shot
Kevin Hardcastle: Im Käfig
Mick Herron: Joe Country
Judith Merchant: Atme!
Andreas Müller-Weiss: Der Pavillon. Mord an der Promenade Le Corbusier
Tawni O’Dell: Wenn Engel brennen
Giorgio Scerbanenco: Ein pflichtbewusster Mörder
Nicholas Searle: Der Sprengsatz
Ross Thomas: Der Fall in Singapur
Su Turhan: Die Siedlung
Gerd Zahner: Keiner verliert allein

Nicht nur historisch, auch aktuell

(TW) Das große Thema von Max Annas ist der Umgang von Gesellschaften mit „den Anderen“, sei´s in Südafrika, in der Bundesrepublik, und jetzt, sozusagen als historisches Unterfutter, in der  DDR. Morduntersuchungskommission spielt im Spätherbst 1983 in der Umgebung von Jena. Ein Arbeiter aus Mozambik wird grausam ermordet. Die „Organe“ des Staates haben ein Problem: Eigentlich sollte es im „Realsozialismus“ überhaupt keine Verbrechen mehr geben, weil die Verhältnisse ideal sind und höchstens individuelles Versagen oder Sabotage die Kriminalpolizei auf den Plan rufen kann. Schlimmer noch: Ein Bürger eines sozialistischen Bruderlandes ist zu Tode gekommen, die Motive weisen auf einen fremdenfeindlichen, rassistischen, gar neonazistischen Hintergrund hin. Und so etwas darf im antifaschistisch-internationalistischen Musterstaat gar nicht existieren.

Die Ermittlungen der regulären MUK werden folgerichtig von „höherer Stelle“ ausgebremst. Nur Oberleutnant Castorp mag sich an diese Direktive nicht halten und beginnt immer frustrierter auf eigene Faust zu ermitteln. Max Annas zeichnet eine DDR, unter deren bieder-betulicher Oberfläche schon längst gärt, womit wir auch heute noch nicht fertig sind: Eine heuchlerische offizielle Politik gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe und eine stumpfe latente xenophobe und rassistischen Stimmung, die den deutschen Kontinuitäten entspricht.  Deswegen ist dieser historische Kriminalroman ein aktueller Kriminalroman. Annas macht ein spannenden, fast klassischen Whodunnit daraus, der auf allen Ebenen toxisch ist.

  • Max Annas: Morduntersuchungskommission. Rowohlt, Hamburg 2019. 346 Seiten, 20 Euro.

Funktioniert bestens

(JF) Ein Einserabiturient wird zum Tablettenjunkie, eine 18-jährige Domina holt ihr Abitur an der Abendschule nach und ein Polizist hadert auf fast schon existentielle Weise mit seinem Namen. Hazel Frost, aka Katja Bohnet, versteht sich auf ungewöhnliche Lebensläufe. Dabei kommt sie mit bemerkenswert wenigen Worten aus. Katastrophen verpackt sie in zwei kurze Sätze, Glücksmomente ebenso, doch die sind eher selten.

Frosts aberwitziger Thriller Last Shot beginnt auf einem Parkplatz am Schliersee. Es regnet. Ein Auto hält an, weil einer der Insassen pinkeln muss. Als er zurückkommt, findet er drei Tote, seinen Vater und seine zwei Schwestern. Außer ihm hat noch ein kleines Mädchen den Anschlag überlebt, aber das weiß er nicht. Ebenso wenig ahnt er etwas von den Hintergründen der Tat. Und wir auch nicht.

Andere Figuren tauchen auf, werden in die Handlung verwickelt. Das Ermittlerduo von der Polizei streitet sich. Auch auf der anderen Seite des Gesetzes herrscht schlechte Laune. Ein veritabler McGuffin heizt die Stimmung an, Autos und Waffen werden zum Einsatz gebracht. Ab und zu kommt es zu geschlechtlichen Handlungen. Jemand verliert auf schmerzliche Weise ein Ohr.  Und es gibt noch mehr Tote. Dass erst am Ende des Buches erzählt wird, wie alles mit allem zusammenhängt, ist in Ordnung, schließlich können wir uns bis dahin in 250 Seiten furioser Action verlieren. 

Als Hazel Frost erweist sich Katja Bohnet als exzellente Spielerin im Spannungsgenre. Klassische Handlungselemente werden auf abenteuerliche Weise, aber stilsicher zu einem leicht windschiefen Plot verleimt. Und es funktioniert. Zu unserem großen Vergnügen. Wer möchte, kann auch noch über die bemerkenswerte Verteilung der Geschlechterrollen nachdenken, denn bei aller Fantastik verliert sich diese hochartifizielle Pulp Fiction nicht im Eskapismus. Was will man mehr.

  • Hazel Frost: Last Shot. Thriller. Droemer, München 2019. 362 Seiten, 14,99 Euro.

Wie ein schwarzes Loch

(TW) Die Romane von Nicholas Searle haben etwas seltsam verwirrend Fragmentarisches, Unaufgelöstes, letztlich nicht „Auserzähltes“ – das ist eine hohe Qualität. So auch Der Sprengsatz, eine auf den ersten Blick konventionelle Geheimdienst-Geschichte: Ein V-Mann des MI5-Agentenführers Jake Winter läuft anscheinend aus dem Ruder und zündet eine Bombe in einem bevölkerten englischen Bahnhof. Unklar, ob dieser V-Mann, der eigentlich einen Testlauf absolvieren sollte, wusste, dass er echten Sprengstoff bei sich getragen hatte. Unklar auch, ob der V-Mann nicht von seinen Zielpersonen manipuliert worden war oder ob er als Doppelagent fungierte. Winter jedenfalls soll von einem Untersuchungsausschuss als Sündenbock hingehängt werden. Dumm nur, dass er einen zweiten Mann in die vermutete islamistische Terrorzelle eingeschleust hatte, der ohne seine Führung die Mission abbrechen würde.

Ein zweiter Anschlag, diesmal auf das Spiel Man City vs Real Madrid, wird vorbereitet, die Ausgangskonstellation wiederholt sich. Winter wird weiter diskreditiert, seine Arbeit am Ende sabotiert. Searle erzählt diese verzwickte Geschichte aus verschiedenen Perspektiven, auch in Andeutungen und vagen Gedankengängen der politische Verantwortlichen, die sich um nichts anderes kümmern als um ihr Standing in der Öffentlichkeit. Ein byzantinisches Labyrinth aus Intrigen, Gegen- und Parallelintrigen eröffnet sich, in dem „moralische Werte“ verschwinden wie in einem schwarzen Loch. Searles spröde, sich lobenswert hartnäckig aller Erklärungen enthaltende Prosa, generiert vor allem Verunsicherung. Brillant.

  • Nicholas Searle: Der Sprengsatz (Fatal Game, 2019). Übersetzt von Jan Schönherr. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 303 Seiten, 20 Euro.

Kleine Vorschau

(JF) Wer befürchtete, dass die Spionageliteratur nach dem Ende des Kalten Krieges in eine existentielle Krise geraten würde, durfte schon vor längerer Zeit aufatmen. Die weltpolitischen Verhältnisse sind anders, aber keinesfalls weniger brisant als zu den Zeiten, als John LeCarré einen George Smiley gegen seinen sowjetischen Gegner Karla antreten ließ, zumal sich selbst Verbündete nicht mehr so recht zu trauen scheinen. Also ist die Vorstellung, dass es dem BND gelingt, eine Mitarbeiterin ausgerechnet in jener Abteilung der britischen Regierung zu platzieren, die sich dem Brexit und seinen schwer abzusehenden Folgen widmet, nicht weit hergeholt. Und da Desinformation das Gebot der Stunde zu sein scheint, trifft es sich gut, dass es sich bei der Dame um eine so genannte Triple-Agentin handelt.

Wer Näheres über die Affäre, die selbstverständlich reine Fiktion ist, erfahren möchte, sollte Joe Country, den neuen Roman des englischen Autors Mick Herron über die abgehalfterten Spione des Secret Service, lesen, und dazu unbedingt als Seitenstück die Novelle „The Drop“. Wer auf die deutsche Übersetzung warten muss, braucht allerdings Geduld. Der Diogenes Verlag ist erst beim zweiten Band der Serie, „Dead Lions“ angelangt, und wenn es in dem Tempo weitergeht, ist der Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union vielleicht schon Geschichte, wenn „Joe Country“ auf Deutsch erscheint. Oder auch nicht, wer weiß …

  • Mick Herron: Joe Country. John Murray, London 2019. 344 Seiten, 13.99 Pfund.

Weise und gleichzeitig tricky

(TW) Die Welt (und insbesondere Berlin) ist eine recht inkonsistente Gegend. Diesen Umstand vergnüglich zu inszenieren, ist die Spezialität von Gerd Zahner, wie sein zweiter Roman um den, milde gesagt, exzentrischen Kommissar Goster zeigt: Keiner verliert allein.  Gegen die Mysterien, mit denen Goster zu tun hat, hat Realismus keine Chance, deswegen kommen sie vermutlich so realistisch rüber. Es explodieren Meth-Küchen en masse, Drogen aus dem Rezeptbuch der Nazis („Führer“, „Panzerschokolade“) überschwemmen den Markt, Tote sind plötzlich wieder da, Blutströme können auch Kunst sein, und Entmietungsstrategien sind nun mal perfide. Mitten drin Goster, in philosophische Gespräche mit seiner Putzfrau Ayse versponnen und hoffnungslos verliebt in seine Kollegin H., der seiner sehr eigenen Auffassung von Polizeiarbeit nachgeht.

Zahner arbeitet mit schnellen Schnitten, mit Vignetten und Miniaturen, mit eigenwillig, originellen Dialogen und durchweg leicht bizarrem Personal. 142 Seiten hochkonzentrierte Prosa, die diesen Namen auch verdient, sperrig gegen kuschelig-gefühlige Identifikationslektüre, aber mit intellektuellem Identifikationspotential. Das ist klug und weise, sehr humanistisch und gleichzeitig sehr, sehr tricky. 

  •  Gerd Zahner: Keiner verliert allein. :transit, Berlin 2019. 142 Seiten, Hardcover, 16 Euro.

Gekonnt auf sehr sehr dünnem Eis

(gg) Da legt eine los, redet sich in Rage, packt alles aus, und uns beschleicht das Gefühl, dass wir besser nur wenig davon eins zu eins nehmen sollten. Sie spricht zu uns, aber da stimmt doch was nicht? Mit dieser Figur, mit der unzuverlässigen Erzählerin, hat man im angelsächsischen Kriminalroman in den vergangenen Jahren ausgiebig gespielt, weil sie eine ganze Reihe von erzählerischen Möglichkeiten bietet: Sie ist wankelmütig und unberechenbar, hat dabei jedoch eine sehr persönliche, meist delikat prekäre Sicht auf die Lage der jeweiligen Dinge. Sie führt den Leser am Gängelband durch das Reich ihrer Wünsche und Projektionen, nie kann er sicher sein, dass dem Erzählten irgendeine Form von Wahrheit entspricht, nur die Wirklichkeit des intensiv Geglaubten, und am Ende muss er sich eingestehen, dass er einen Großteil für bare Münze genommen hatte, bei dem es sich um nichts weiter als Falschgeld und Vortäuschung falscher Tatsachen handelte. Berühmt und wohlhabend wurden mit dieser Erzählvariante Autoren wie Paula Hawkins („Girl on the Train“), Gillian Flynn („Gone Girl“) oder A. J. Finn („The Woman in the Window“) .

Hierzulande führt uns nun eine gewisse Nile emphatisch und vibrierend durch ihre ganz persönliche Variante der Welterfassung, und von Anfang an ahnen wir in Judith Merchants brillant exerziertem Thriller Atme!, dass wir hier auf sehr dünnem Eis an ganz langer Nase herumgeführt werden. Da hier eins konsequent zum anderen führt und daraus die ganze Spannung erwächst, muss jedoch über den Verlauf des Plots hier geschwiegen werden: Jedes Puzzleteil trägt genauso viel zur Enthüllung wie zur weiteren Verwirrung bei. Nur so viel: Niles große Liebe Ben ist von jetzt auf nachher verschwunden, sie holt sich Hilfe für die Suche bei seiner Noch-Ehefrau, Freunde und Feinde werden in die Sache mit hineingezogen, und so nehmen die Dinge ihren mäandernden Verlauf. Was hier Wahrheit und was Lüge, was Wunsch und was Ausfluss der „schwarzen, klebrigen Eifersucht“, und was reine, glasklare Paranoia ist, entscheidet sich auf Seite 375, der allerletzten.

Und so muss man auf dem Quivive sein und gut aufpassen in diesem Buch, denn Judith Merchant ist eine erfahrene Handwerkerin im Steinbruch der Spannungsmacherei; sie wirbelt virtuos mit den passenden Werkzeugen wie `Falsche Fährte´ oder `Weitere neue Figur´ und lockt uns ohne Bedenken in die absurdesten Möglichkeiten, die das Verschwinden des armen Ben erklären könnten. Und für all die Arbeit hat sie eine Sprache, mit der sie ihre Erzählerin ständig das Feld zwischen Hysterie und Eiseskälte abtasten lässt, jenen holprigen Acker, wo plötzliche Überraschungen, die bei uns Lesern die Alarmglocken aktivieren, mit kühler Souveränität wegerklärt werden. Etwas vibriert in diesem Roman unaufhörlich, und wir können ihn nicht weglegen, weil wir glauben, Ahnungen zu haben, worauf das Ganze hinausläuft und es dann natürlich wissen wollen, nein: müssen. Große Spannungskunst – Atmen nicht vergessen!

  • Judith Merchant: Atme! Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 380 Seiten, 15 Euro.

Lückenhafte Übertragung

(rum) Spionin? Warum nicht, denkt sich im Jahr 1940 die 18-jährige Julia Armstrong, als sie vom MI5 rekrutiert wird. Was sich für die junge Frau zunächst aufregend anhört, entpuppt sich jedoch als öder Schreibtischjob. Ein Kollege hat eine Gruppe britischer Nazisympathisanten infiltriert. Er trifft sie in einer vom Geheimdienst angemieteten Wohnung. Sie sitzt nebenan und transkribiert die Gespräche – die sich als Farce erweisen. Die Übertragungstechnik ist miserabel, die Transkriptionen sind lückenhaft, die Gespräche belanglos und auch Julia selbst nimmt sich bei der Übertragung ein paar Freiheiten. Schließlich soll sie selbst eine bereits von diversen Agentinnen durchsetzten Gruppe britischer Antisemitinnen aufsuchen, die im Right Club organisiert sind. 

Zehn Jahre später arbeitet Julia für die BBC, macht Kindersendungen für den Hörfunk, hat den Geheimdienst hinter sich gelassen und ist ihn doch nicht losgeworden. Sie erhält Drohungen, weiß aber nicht, von wem. Der MI5 meldet sich. Sie soll für einen Nacht einen Mann bei sich verstecken, der Flamingo genannt wird und auf dem Weg nach Los Alamos ist. Doch wie sich herausstellt, spielen einige im Dienst mindestens ein doppeltes Spiel. So muss sie schließlich aus England fliehen, kommt erst Jahre später zurück und wird dennoch von der nachtragenden Vergangenheit eingeholt. 

Die britische Autorin Kate Atkinson macht daraus eine wunderbar verwinkelte Geschichte, indem sie elegant zwischen den Zeitebenen hin und her springt, erschütternd nichtssagende Protokolle einfügt, dabei stets nah an ihrer Protagonistin ist, die permanent Gespräche und Beobachtungen – sie hat es in dieser Branche ja vor allem mit Männern zu tun – für sich selbstbewusst und bissig kommentiert. So fängt Atkinson auch die Atmosphäre der Kriegs- und Nachkriegszeit in London gut ein. Sie erzählt gewohnt pointiert und mit feiner Ironie, entlarvt präzise die mit enormem Aufwand und reichlich Ernsthaftigkeit betriebenen Winkelzüge und Täuschungen, die hier noch einen bitteren Beigeschmack dadurch erhalten, dass sich die Autorin für ihre Geschichte von Archivunterlagen inspirieren ließ. Atkinson betreibt hier ein raffiniertes Spiel mit dem Genre und hat doch einen großartigen Agentinnenroman geschrieben.

  • Kate Atkinson: Deckname Flamingo (Transcription, 2018.) Aus dem Englischen von Anette Grube. Droemer-Verlag, München 2019. 331 Seiten, 19,99 Euro.

Adenauers Bungalow und andere Perlen

(AM) Ein ganz außergewöhnliches Preis-Leistungsverhältnis hält die Literatur-Zeitschrift Am Erker vor, die 1977 von Joachim Feldmann und Michael Kofort gegründet wurde, halbjährlich im Münsteraner Daedalus Verlag erscheint und inzwischen wohlbehalten den 42. Jahrgang erreicht hat. „Seit ihren Gründungsjahren favorisiert (sie) einen Typus von Literatur, der einen ironischen Realismus mit einem ausgeprägten Sinn für Komik verbindet“, gab  Michael Braun einmal zu Protokoll. Die aktuelle Ausgabe Nr. 77 ist von Joachim Feldmann als verantwortlichem Redakteur organisiert – ja, richtig, Sie kennen ihn auch als Rezensent hier bei CrimeMag. Detektive, Cowboys, Sternenkrieger heißt das Heft im Groß-Oktavformat, Cover: Claudia Seibert. Der Inhalt: Geschichten, Essays, Rezensionen, Lobgesang & Krittelei, Cartoons von VerstAnd, Anzahl der Autorinnen und Autoren: über 40.

Sophie Andresky thematisiert „Gesellschaftsgenderpolitische Metapher. Und Schleim. Über das Leben als Porno-Autorin“, Walter Gödden heißt „Aliens welcome!“ und ist auf den Spuren von Science-Fiction-Literatur aus Westfalen, RO Willaschek schreibt über „Trümmer, Comics und Kino“, Andreas Heckmann über „Sport-Spiel-Spannung“, ich habe etwas über den BND-Agenten Bob Urban, Code 18, alias Mister Dynamit beigesteuert.
Dazu kommen Geschichten von H.P. Karr, Wolfgang Timmler, Volker Kaminski, Georg Klein, Michael Kanofsky, Eric Manussen, Thomas Kade, Berthold Eberhardt, Thomas Glatz, Rudolf Gier, Lars Hanning, Tessa Schwartz, Markus Grundtner, Matthias Fallenstein, Anke Glasmacher, Stefan Nienhaus, Fritz Müller-Zech und anderen. Schönster Titel: „Aortenklappeninsuffizienz“. Es ist eine sehr schöne Ausgabe geworden. Lohnt sich.

  • Fiktiver Alltag e.V. (Hg.): Am Erker 77. Detektive, Cowboys, Sternenkrieger. Daedalus Verlag, Münster 2019. Verantwortlicher Redakteur: Joachim Feldmann. Groß-Oktav broschiert 16 x 24 cm, 144 Seiten, 9 Euro.

Die Welt von ihrer brutalen Seite

(JF) Wer siegen will, muss leiden. Daniel, erst Boxer, dann Mixed-Martial-Arts-Kämpfer, wird halb tot geprügelt, lässt sich Finger, Zehen und Oberkiefer brechen und spuckt „einen Monat lang Blut“, aber k.o. geht er nicht. Dabei möchte er eigentlich nur ein friedliches Familienleben mit Frau und Kind führen. Aber die Verhältnisse, die sind nicht so.

Der kanadische Schriftsteller Kevin Hardcastle, dem die Tücken und Reize des Kampfsports nicht nur vom Anschauen bekannt sind, zeigt in seinem ersten Roman Im Käfig die Welt von ihrer brutalen Seite. Schauplatz ist die kanadische Provinz Ontario. Daniel ist zurück in der Heimat, nachdem eine schwere Augenverletzung seine Karriere als Profikämpfer beendet hat. Aber außer Hilfsarbeiten gibt es hier nicht viel für ihn zu tun, es sei denn, er ließe sich auf das Angebot des lokalen Gangsterbosses Clayton ein. Der braucht immer Leute, die für ihn zuschlagen, und zahlt gut. Eine Versuchung, die zu groß für Daniel ist. Dass er auch sein Training wieder aufnimmt, versteht sich ebenso von selbst wie das düstere Ende des Romans. Schließlich haben wir es mit einem beinahe klassischen Noir-Plot zu tun. Und da Hardcastle dessen inhärente Sentimentalität durch seinen sachlich-taffen Erzählstil perfekt  camoufliert, lohnt sich die Lektüre.

  • Kevin Hardcastle: Im Käfig. Kriminalroman (In the Cage, 2017). Aus dem kanadischen Englisch von Harriet Fricke. Polar Verlag, Stuttgart 2019. 286 Seiten, 20 Uhr.

Großartiges Exerzitium

(TW) Es hat ja schon was von „ceterum censeo …“: Ross-Thomas-Romane sind immer noch prächtig funktionierende Korrektive zu sehr vielem, was gerade so gehypt wird im Sumpf der bestsellernden Belanglosigkeiten. Selbst wenn Der Fall in Singapur aus dem Jahr 1969 stammt. Die Geschichte vom Ex-Stuntman Cauthorne, der vielleicht versehentlich einen Kollegen umgebracht hat, und dessen schlechtes Gewissen von einer fiesen Herde von Mafiosi und anderen Gangstern funktionalisiert werden soll, ist ein großartiges Exerzitium in tückischem Denken, scharfsinnigem Blick auf Welt (vor allem, was die Dialektik von Organisiertem Verbrechen und Politik angeht) und exzentrischen Figuren, die so plausibel erscheinen. Dazu die Lakonik der Dialoge, die von Thomas perfektionierte „Ästhetik der Beschreibung“ und die böse Komik auf allen Ebenen setzten Standards. Und sollten es weiterhin tun.

  • Ross Thomas: Der Fall in Singapur (The Singapore Wink, 1969) . Deutsch von Wilm W. Elwenspoek, bearb. von Jana Frey und Gisbert Haefs. Alexander Verlag, Berlin 2019. 319 Seiten, 16 Euro.

„Blut röchelt aus ihrem Hals“

(JF) „Ohne zu ahnen, mit welch schrecklichen Ereignissen Helen konfrontiert ist, steht Edgar Pfeiffer mit Kommissar Vogt in gebührendem Abstand vor der Villa.“ Ja, so ist das im Thriller – die einen erleben Furchtbares, während die anderen ahnungslos in der Gegend herumstehen. Aber will man das so deutlich gesagt bekommen? Zumal Su Turhan in seinem dystopischen Spannungsepos Die Siedlung ansonsten gerne mittels Parataxe Tempo macht. 

Helen ist übrigens gemeinsam mit Pfeifer undercover unterwegs, um dem Biochemiker Adam Heise, einem mad scientist von ganz besonders üblem Format, auf die Schliche zu kommen. Heise kontrolliert die von ihm gegründete futuristische Siedlung „Himmelhof“, wo Informationstechnologie und Medizin in unheilvoller Allianz an der Optimierung des Menschen arbeiten. Allerdings ist, als der anfangs zitierte Satz das 64. der 66 Kapitel des Romans einleitet, die Tarnung des Ermittlerduos längst aufgeflogen. Ein Duell ist im Gange, das unerwartet endet. Und hätte Turhan auf bürokratische Wendungen („informierte Helen ihn im Gegenzug“) und merkwürdige Sätze („Blut röchelt aus ihrem Hals“) verzichtet, könnte man „Die Siedlung“ durchaus empfehlen.

  • Su Turhan: Die Siedlung. Thriller. Piper Verlag, München 2019. Klappenbroschur, 320 Seiten, 15 Euro.

Welch ein Niveau

(TW) Mit Der pflichtbewusste Mörder ist der letzte Band der Neuedition von Giorgio Scerbanencos (1911 – 1969) grandiosem Duca-Lamberti-Quartett erschienen, seinem letzten Buch überhaupt.  Grausam, wie alle Romane um den wegen Sterbehilfe verurteilten und vom Gefängnis direkt in den Polizeidienst übernommenen Arzt Lamberti. Eine riesengroße, wunderschöne, geistig behinderte junge Frau fällt einem ekelhaften Zuhälterring in die Hände. Sie wird als Exotikum prostituiert und, als sich der Reiz des Bizarren verschlissen hat, brutal „entsorgt“. Der vor eiskaltem Zorn glühende Lamberti will dringend die Täter dingfest machen und unterschätzt die vigilanten Qualitäten eines unscheinbaren Menschen.  Das ist hardboiled, und Lamberti ein emphatischer law & order-Mann mit prekärem Legalitätsverständnis. Eine faszinierend paradoxe Figur, idealistisch, romantisch, abgekocht, zynisch und desillusioniert.

Scerbanencos Erzählökonomie braucht für dieses komplexe Buch gerade mal 196 Seiten. Die eigenwillig zwischen sensibler Reflexion und brutalem Sarkasmus oszillierende Prosa macht deutlich, welches Niveau avancierte Kriminalliteratur schon immer erreichen konnte.

  • Giorgio Scerbanenco: Ein pflichtbewusster Mörder ( I milanesi ammazzano al sabato, 1969). Dt. von Christiane Rhein. Folio, 256 Seiten, 18 Euro.

Grandioses Rätselvergnügen

(TW) Charles-Édouard Jeanneret-Gris alias Le Corbusier, umstrittener Großguru moderner Architektur steht für kühn-avantgardistische Funktionalität, mit leicht totalitären Zügen. Ihn mit einem undurchsichtigen Mordrätsel in Verbindung zu bringen, ist zumindest verblüffend. Der Schweizer Architekt und Comic-Macher Andreas Müller-Weiss (aka „Sambal Oelek“) verknotet in Der Pavillon. Mord an der Promenade Le Corbusier einen geheimnisvollen Mord in einem südfranzösischen Pavillon, der nicht von Le Corbusier stammt, und den Rechten an Le Corbusier-Bildern nach dessen Tod, zu einem quasi-dokumentarischen biographischen Exkurs über Le Corbusier, gezeichnet in Bildern, deren kunsthistorische Anspielungen und Zitate wiederum in einem ausführlichen Anhang einerseits erläutert, andererseits noch mehr verrätselt werden, weil die aufgerufenen Kontexte autonom werden – der Mord aber immer weiter an die Peripherie rückt. Ein gigantischer Rubik-Würfel, wie das Cover ihn verspricht. Eine graphic novel cum crimen, deren Bild-Qualität die „was-solls-Frage“ fröhlich übertäubt. Grandios anzuschauen.

  • Andreas Müller-Weiss: Der Pavillon. Mord an der Promenade Le Corbusier. Edition Moderne, Zürich 2019. 72 Seiten, 29 Euro.

Zuwenig Mut zum Schund

(JF) Ron Harriman, ehemals Botschafter der USA in Berlin, will Kongressabgeordneter werden und seine Chancen sind gut. Als aber kurz vor dem Wahlgang ein sechzehnjähriger Junge tot in einem Motelzimmer aufgefunden wird, dessen mutmaßlicher Suizid in einem Zusammenhang mit Harriman zu stehen scheint, ist es um seinen Ruf geschehen. Harriman vermutet ein übles Spiel seiner Gegenkandidatin und ruft einen alten Kumpel zur Hilfe: Clive Berner, früher einmal  den hohes Tier bei der CIA und jetzt für eine große Sicherheitsfirma tätig, soll ihm aus der Patsche helfen. Selbst aktiv werden kann Berner, genannt GT, nicht, aber er kennt jemanden, der solche Probleme lösen kann. Und der kommt ausgerechnet aus Deutschland. Auftritt Ludwig Licht, Alkoholiker, tablettensüchtig und einstiger Doppelagent für Stasi und CIA.

Dies ist der Auftakt zum zweiten Band der (mit Wotan Wilke Möhring für das ZDF verfilmten) Reihe des schwedischen Autors Thomas Engström um den notorisch verkaterten Superspion, zwei weitere werden noch folgen. Und es wäre übertrieben zu sagen, dass ihr Erscheinen mit Ungeduld erwartet würde. Denn mit South of Hell liegt ein weiterer Beleg dafür vor, dass auch das Thriller-Genre gelegentlich rechtschaffen langweilige Bücher hervorbringen kann. Der Grund dafür ist nicht allein die ziemlich hausbacken formulierende deutsche Übersetzung, sondern auch der vorhersehbare Plot. Für einen Tagessatz von 2000 Dollar findet Licht nicht nur rasch heraus, dass eine sinistre Organisation amerikanischer Neo-Nazis hinter der Wahlkampfsabotage steckt, sondern vermag es auch, sich in deren Führungsriege einzuschmuggeln und einen geplanten Bombenanschlag zu verhindern. Ein Autor mit mehr Mut zum Schund hätte daraus vielleicht ein treffliches Kolportagestückchen basteln können. Doch da Engström lieber beschreibt und erklärt, als dass er erzählt, wird es auch damit nichts.

  • Thomas Engström: South of Hell. Ein Ludwig-Licht-Thriller (Söder um helvetet, 2014). Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt. C. Bertelsmann, München 2019. 380 Seiten, 15 Euro.

Berlin als Theme Park

(TW) Voll auf der Volker-Kutsche-Berlin-Babylon-Welle surft auch Kerstin Ehmers zweiter Roman um Kommissar Ariel Spiro: Die schwarze Fee. Immer wieder die gleichen Papp-Kulissen des 20er Jahre Berlins, Bild für Bild bekannt – von Zille, von Filmen wie „Kuhle Wampe“ und „Menschen am Sonntag“ und allen anderen einschlägigen Narrativen der Zeit. Alles tipptopp erklärt, wie im Schulfunk. Geschichtsunterricht, verpackt in Surrogate, Berlin als Theme Park. Dabei ist Kerstin Ehmers möglicherweise sogar die bessere Schriftstellerin als Kutscher, zumindest ihre Dialoge und ein paar kleinen Szenen haben originellen Witz.

Die Story vom Rachefeldzug der Kommunisten gegen die Reste der Machno-Anhänger ist eher durchschaubar (so unbekannt sind Nestor Machno und seine ukrainischen Anarchisten nun auch nicht, dass man da groß „oh, Überraschung“ rufen würde), aber wirklich unverzeihlich sind Situationen wie diese: Ein junger Mann wird gefoltert, tagelang geschlagen, getreten, an Seilen aufgehängt. Und was tut er, wenn er mal kurz wach wird? In fehlerfreien, ganzen Sätzen hält er Vorlesungen über das Verhältnis von Kommunismus und Anarchismus, steif und lehrbuchtauglich. Ähnliche Rhetorik bringt ein von der Syphilis im Endstadium verwesender Tschekist fertig, der ansonsten eher röchelt. Was um Himmels Willen will uns da wer erzählen? Wenn das das berühmte „den Leser abholen ist“, möchte ich bitte stehengelassen werden.

  • Kerstin Ehmer: Die schwarze Fee. Pendragon Verlag, Bielefeld 2019. 400 Seiten, 18 Euro.

Schwelende Erinnerungen

(rum) In einer ungemütlichen Gegend hat Tawni O’Dell ihre ungemütliche Geschichte Wenn Engel brennen angesiedelt. Das fiktive Städtchen Buchanan in Pennsylvanias Bergbauregion liegt in direkter Nachbarschaft zu den seit 50 Jahren schwelenden Kohleflözen, die ganze Landstriche unbewohnbar machten. 

Tawni O’Dells zupackende Protagonistin und Ich-Erzählerin Dove Carnahan – die vermutet, dass ihre Mutter sie nach ihrer Lieblingsseife benannt hat – ist Polizeichefin von Buchanan und versteht es, sich in einem männerdominierten Beruf durchzusetzen. „Ich habe sämtliche Spielarten von Ablehnung, Sabotage und Schikanen erlebt, die das Y-Chromosom aufzubieten hat.“ Sie ist 50, hat sich irgendwann gegen eine Laufbahn bei der Kriminalpolizei und für einen meist ruhigen Posten auf dem Land entschieden. Das ändert sich, als in einer qualmenden Erdspalte die Leiche einer 22-Jährigen aus der Gegend gefunden wird. Sie stammt aus einer polizeibekannten Familie. Die Ermittlungen treten auf der Stelle. Doch spült der Fall alte Erinnerungen hoch. Carnahans Mutter wurde ermordet, als sie und ihre Schwester noch Jugendliche waren. Beide sagten sie damals gegen einen Freund der Mutter aus, der daraufhin für 35 Jahre einsaß. Nun ist er draußen und will endlich die Wahrheit wissen. 

Souverän schiebt die 55-jährige O’Dell diese Geschichten ineinander und macht daraus einen klug geplotteten Whodunit. Die Autorin hat bereits sechs Romane (ihr Debüt „Back Roads“ wurde voriges Jahr verfilmt) veröffentlicht, ist hier aber erstmals in deutscher Übersetzung zu lesen. Pointiert erzählt sie von einem heruntergewirtschafteten Landstrich und dessen Bewohnern, einer ganzen Reihe lebendiger, messerscharf charakterisierter Figuren, in deren Alltag es auf allen Ebenen um schwierige Beziehungen geht. Die Familie als eingeschworene Gemeinschaft macht O’Dell dabei als jenen Ort aus, an dem die meisten Tragödien und widersinnigen Zwänge zuhause sind. Es geht um Schuldgefühle, desaströse Fehlentscheidungen und fein nuancierte Machtverhältnisse, die ihre lebenskluge und pragmatische Protagonistin mit kantigem Humor auf Distanz zu halten versucht, zumal sie selbst nur zu gut weiß, dass vieles nicht so ist, wie es zu sein scheint. Zum Glück schreibt O’Dell schon an der Fortsetzung.

  • Tawni O’Dell: Wenn Engel brennen (Angels burning, 2016). Aus dem Englischen von Daisy Dunkel. Argument-Verlag, Hamburg 2019. 352 Seiten, 21 Euro. Das eBook ist bei Culturbooks erschienen.

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