Geschrieben am 1. Mai 2020 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2020, News

Ein Buch – zwei Stimmen: Sonja Hartl und Katja Bohnet über „Family Business“ von Lisa Sandlin

Katja Bohnet und Sonja Hartl haben zwei sehr unterschiedliche Einschätzungen – hier ihre Positionen.

Katja Bohnet: Ein bräsiges Geschäft

Das verflixte zweite Buch. Manche sprechen nur davon, anderen passiert es. Lisa Sandlin ist eine davon. Eine Autorin, die große Hoffnungen hervorrief, von der man nach „Ein Job für Delpha“ viel, vielleicht sogar alles, erwartete. Das Debüt war sprachlich intensiv, die Handlung verzweigt und überraschend, das Buch mit interessanten Figuren fast schon überlaufen. Die Beziehungsgeflechte kamen angenehm unkonventionell daher. Die siebziger Jahre in Texas schienen als Beziehungskontext immer durch. 

„Family Business“ kann diese Erwartungen nicht erfüllen. Superwoman hat eine Bruchlandung hingelegt. Der Roman braucht über zweihundert Seiten bis er auf Touren kommt. Die Handlung ist zäh, plätschert dahin. Unselig auch die Entscheidung, eine Liebesgeschichte zwischen Arbeitgeber Phelan und Delpha anzudeuten. Genau das ist Konvention. Sie steht diesen außergewöhnlichen Figuren schlecht. Vieles wirkt in diesem zweiten Band nicht organisch: wie Delpha sich nach dem Gefängnis in Freiheit fühlt, auch das Einflechten geschichtlicher Zusammenhänge. Selbst sprachlich bleibt Lisa Sandlin unter ihren Möglichkeiten. Doppelte Böden, Komplexität: Fehlanzeige. Dazu noch alte Männer, Vogelnamen, kauzig und antiquiert. Rezensent*innen lesen Bücher unterschiedlich. Befinden, Zeit und Ort sind selbst beim Anlegen gleicher Parameter maßgeblich für das Einschätzen von Literatur. Tut man der Autorin also Unrecht, wenn man ihr neuestes Werk schmäht? Diese Erklärung greift hier nicht. Man wollte, wünschte, ja ersehnte, dass dieses Buch gelingt. Ähnlich wie dem Spionageroman haftet dem Detektivroman etwas Altherrenhaftes an. Lisa Sandlin gelang es in ihrem Debüt, das angestaubte Genre neu zu interpretieren. In „Family Business“ ist Detektivarbeit wieder das, was an dieser Art von Literatur stets quälte: ein bräsiges Geschäft.

Vielleicht fehlt diesem Buch der klassische Konflikt. Etwas, woran sich die Heldin reiben kann. Der Protagonistin geht es gut. Nichts gefährdet ihren Status. Sie hat sich eingelebt, hat einen guten Job, ein Lebensziel. Hier zeigt sich, dass aus harmonischen Verhältnissen bei Figuren nur selten Spannendes resultieren kann. Die Autorin hat in „Ein Job für Delpha“ bewiesen, dass sie alles kann. In „Family Business“ blitzt erst auf den letzten hundert Seiten auf, was Spannung ist. Für die Fans von Lisa Sandlin gibt es jedoch auch gute Nachrichten: Der Roman steht auf der Krimibestenliste im April 2020 auf einem hervorragenden Platz 3. 

Sonja Hartl: Sie lässt sich Zeit – und das zahlt sich aus

Es gibt ein Kapitel in Lisa Sandlins „Family Business“ – knapp sechs Seiten lang – das zeigt, wie großartig diese Autorin ist. Privatdetektiv Tom Phelan ist rechtzeitig nach Hause gekommen, um das Baseballspiel der Atlanta Braves gegen die Houston Astros zu sehen. Er ist nicht Fan der Houston Astros, was naheliegend gewesen wäre, da er im Südosten Texas in den 1970er Jahre lebt. Das bringt ihm eine Schimpftirade von seinem Nachbarn ein, der nicht verstehen kann, wie man „für die beschissenen Braves aus diesem beschissenen Atlanta“ sein kann. Aber Phelan ist Fan der Nummer 44, Fan von Hank Aaron und der spielt für die Braves. Aber nicht nur das: Henry Lee Aaron ist kurz davor, den Home-Run-Rekord von Babe Ruth zu knacken. Damit greift ein afroamerikanischer Baseballspieler in Amerikas Lieblingssport nach dem legendären Rekord des legendärsten (weißen) Spielers. Hank Aaron wurde deshalb rassistisch angefeindet, er hat Todesdrohungen bekommen (das wurde u.a. auch von Charles M. Schultz in den „Peanuts“ aufgegriffen: Dort versucht Snoopy, den sakrosankten Rekord zu brechen und bekommt dafür Hassbriefe. Außerdem merkt Lucy an: “Hank Aaron is a great player … but you! If you break Babe Ruth’s record, it’ll be a disgrace!”). Diese ganze aufgeladene Situation schwelt nun in diesem Kapitel im Hintergrund. Sie sagt so viel über die race relations dieser Zeit aus, über den Rassismus des Nachbarn und über Tom Phelan. Aber er ist eigentlich hauptsächlich mit der Frage beschäftigt, warum er sich ausgerechnet in Delpha Wade verlieben musste.

Hank Aaron, 1974

Das ist typisch in diesem Roman, in dem bedeutende historische Ereignisse im Hintergrund schwelen – wie sie es in dem Alltag von Menschen meisten tun. Auch wenn momentan das Bewusstsein, dass wir in einer geschichtsträchtigen Zeit leben, bei manchen groß ist – oftmals ist erst hinterher klar, wie wichtig manche Ereignisse sind. In „Family Business“ gibt es die Watergate-Anhörungen, das Tennismatch von Billie Jean King gegen Bobby Riggs – sie erzählen etwas über den gesellschaftlichen Hintergrund in Beaumont im Südosten Texas 1973, über die Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen, zwischen Männern und Frauen. 

Dieses Einflechten der historischen Ereignisse fügt sich perfekt zu einem anderen wesentlichen Merkmal von Lisa Sandlins Erzählweise: Sie lässt ihren Figuren Zeit. „Family Business“ setzt nahtlos ein, wo „Ein Job für Delpha“ aufgehört hat. Dort hat Delpha Wade einen neuen Job als Sekretärin bei Tom Phelan erhalten und am Ende des Buchs einen Mann getötet. Schon wieder. Sie saß bereits 14 Jahre im Gefängnis, weil sie den Mann getötet hat, der sie vergewaltigen wollte, und bei der Verhandlung seinem Vater mehr geglaubt wurde als ihr. Dieses Mal ist es anders. Ihr Chef hat ihr einen Anwalt besorgt – das Recht auf einen Anwalt, so ist hier zu erfahren, gibt es erst seit 1963 –, und der Mann, den sie getötet hat, wurde bereits von ihnen als Serienmörder überführt. Dagegen hat die Polizei im Grunde nichts, auch ihr Bewährungshelfer ist erleichtert, als er erfährt, dass Delpha keine Waffe bei sich geführt hat, sondern mit einer Whiskeyflasche zugestochen hat, die im Büro herumlag. Delpha aber fürchtet um ihre fragile Freiheit, denn sie hat doch gerade erst begonnen, sich ein Leben aufzubauen. 

Noch macht Delpha so weiter, wie sie es im Gefängnis getan hat: sie denkt von Tag zu Tag. Deshalb arbeitet sie weiter – und ist natürlich weit mehr als eine Sekretärin. Sie ist diejenige, die mit Tom Phelan ermittelt und mit ihm nach dem zwei Jahre jüngeren Bruder von Xavier Bell sucht, der angeblich vor kurzem in der Gegend unter einem falschen Namen ein Haus gekauft hat. Schnell finden sie heraus, dass auch ihr Auftraggeber einen falschen Namen angegeben hat und sie sich gar nicht so sicher sind, wem sie glauben sollen. „Rechnen Sie nicht damit, dass einer der Gute ist und der andere der Böse. Hier geht es um Familienstreitigkeiten.“ 

Die gemeinsamen Ermittlungen sind narrativ spannend gelöst: Phelan und Wade sind kein dynamisches Duo, sondern teilen sich die Arbeit. Das führt in der Struktur dazu, dass sie über den Fall sprechen, dann trennen sich ihre Wege. In den folgenden Kapiteln ist zu lesen, was Phelan bzw. Wade herausfinden und erleben, ehe sie wieder aufeinandertreffen. Dadurch entsteht eine reizvolle Gleichzeitigkeit voller Wendungen, die zudem die Alltäglichkeit dieser Arbeit unterstreicht. Viele Nachforschungen werden mithilfe von Telefonen geführt, mit Besuchen in Bibliotheken – ein neuer Traumjob: Auskunftsbibliothekarin – und dem Lesen des beschafften Materials. Vogelnamen werde eine wichtige Rolle spielen, jedoch ist die eigentliche Auflösung wie in jedem guten Kriminalroman gar nicht so wichtig. 

Vogelbeobachter spielen ebenfalls eine wichtige Rolle.

Während der Ermittlungen setzt bei Delpha die Erkenntnis ein, dass sie sich wohl ein Ziel im Leben suchen sollte. Sie ist als 18-Jährige ins Gefängnis gekommen und sieht nun 14 Jahre später, dass Menschen in ihrem Alter Ziele haben. Ihre Überlegungen führen sie zu der wundervollen, alles anderen als neoliberalen Erkenntnis: „Für sie bedeutete vorankommen nicht, sich eine bessere Position zu verschaffen. Für sie bedeutete es, sich weiterzuentwickeln. Auf ein Ziel zu, das anderen vielleicht nichts bedeutete, aber einem selbst.“ Damit ist dieser Neuaufbau des Lebens in Freiheit ein Stück weit vorangeschritten – und dank der Entscheidung, direkt an „Ein Job für Delpha“ anzuschließen, ist dieses langsame Vorankommen möglich, das so spannend zu beobachten ist. Delpha ist nun nach einigen Wochen in Freiheit vorsichtig neugierig auf das Leben – und damit erzählt Lisa Sandlin nebenbei von der schwierigen Resozialisation. 

Mit bemerkenswerte Beiläufigkeit fügt sich das alles zusammen: die großartige Hauptfigur Delpha Wade, die Zeit, in der alles spielt, die Erzählweise und das Tempo. Dazu kommen komische Szenen – allein Phelans Beschreibung der Aufteilung eines Kaufhauses ist hinreißend, die Gründung der DEA wird folgendermaßen kommentiert wird: „Es war eine neue Behörde eingerichtet worden, die Drug Enforcement Agency. Allerdings war das eine Bundesbehörde, und das hieß, dass die Jungs sich wahrscheinlich immer noch den Hintern plattsaßen und über das Logo stritten.“ Außerdem hat alles einen unmittelbaren Bezug in die Gegenwart – nicht nur im Hinblick auf Rassismus und Sexismus: In dem Gästehaus, in dem Delpha untergekommen ist, werden weiterhin die Watergate-Anhörungen verfolgt und die Bewohnerin Mrs. Bibbo ist fassungslos, dass sich der amtierende Vizepräsident der USA als bestechlich erweist. „Wie kommt ein solcher Mann zu dem zweithöchsten Amt in diesem Land?“. Und wenn man das liest, wird einem brutal vor Augen geführt, wo die USA mittlerweile gelandet sind. 

  • Lisa Sandlin: Family Business (The Bird Boys, 2019). Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Stumpf. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 357 Seiten, 10 Euro. 

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