Geschrieben am 31. Dezember 2022 von für Highlights, Highlights 2022, News

Thomas Wörtche: Zuviel, um alles aufzuschreiben

Mein Tobevorwut-Wort des Jahres: „Klima-RAF“, damit das gleich mal gesagt ist.

Und natürlich gab es noch viel mehr Tragödien, Schändlichkeiten, Ärgernisse und Frustbeulen, aber weil ich im Grunde ein mildes, heiteres Gemüt bin, soll´s jetzt eher um erfreuliche Dinge gehen, durchaus im fröhlichen Kraut & Rüben-Mix:

Ein Kriegs-Comic in kriegerischen Zeiten? Ja, aber sicher: „Ernie Pike“ von Héctor Oesterheld & Hugo Pratt. Angelehnt an die Figur des realexistierenden Kriegsreporters Ernie Pyle inszenierten Szenarist Héctor Oesterheld (einer der ganz großen Kreativen des 20. Jahrhunderts) und Hugo Pratt (ja, der auch) seit 1957 nicht nur ein Meisterwerk des argentinischen, sondern des globalen Comics. Kriegsgeschichten, heruntergebrochen auf die ganz und gar menschliche Ebene, dort wo sich Grausamkeit, Tapferkeit und Anstand hin und wieder in einem trotzigen „dennoch“ begegnen, auch ohne „belohnt“ zu werden. Was nichts, aber gar nichts mit Hurra-Patriotismus und testosterongeschwängerten Heldenverehrung zu tun hat. Kein Anti-Kriegs-Comic, weil Kriegführen manchmal eben auch notwendig ist. Bitter und großartig.

Bitter sind auch die Erfahrungen und Erkenntnisse des Fotografen Ken Light – einer der Profiliertesten seines Fachs: der Fotodokumentation – über den Zustand der USA. In seinem Band „Course of the Empire“ dokumentiert er in präzisen s/w-Fotos (seit 2011), wie die Ungerechtigkeits-Schere immer weiter aufgeht, insbesondere seit 2016, dem Jahr, in dem der MAGA-Wahnsinn erst recht losging, wobei der allerdings eh schon bestehende Tendenzen nur fortsetzte und bestärkte. Lights lakonisch genaue Fotos von himmelschreiender Armut und irrem Reichtum, von der Gewalt, die diese Verhältnisse zu zementieren versucht, von den Fratzen der Heuchler und Profiteure des rassistisch fundierten Neoliberalismus, von White Supremacy und religiösem Wahn, speisen sich aus der Wut eines Beobachters, der selbst einmal – vor allem in den 60s und 79s – glaubte, dass ein Wandel zum Besseren möglich sei. Der dann aber nur noch mit „sadness, rage and disbelief“ zeigen kann, „what an empire in decline looks like. Course of Empire shows what happens when our country loses sight of its people, its values and its honor”, mit anderen Worten, Light enthüllt “America´s brutal underbelly”. Gerade weil seine Fotos so unsentimental sind, dringen sie bis auf die Kerne durch. Grandios.

Der Human Factor ist zentral bei Miron Zownirs radikalen Fotoarbeiten. “Apotheosis and Derision. The Living Theater of Miron Zownir” heißt der Band, der anlässlich der Ausstellung „Zeitwirdknapp“ im Centro Internazionale di Fotografia zu Palermo, Fotos von 1977 bis 2019 versammelt. Zownirs Sujets sind die konstitutiven, nicht die habituellen Außenseiter, die Kranken, Verstümmelten, Abgehängten, die Freaks und Junkies, die wahrlich Diversen außerhalb der schicken Mittelstandsblasen. Es geht um ihre Existenz, ihren Sex, ihre Verwundungen und ihre Würde. Zownirs Bilder sind roh, manchmal brutal, manchmal zärtlich, manchmal kalt-distanziert, dann wieder ganz intim nahe dran. Sie sind kunstvoll arrangiert, deswegen „The Living Theater“, aber diese Kunst versöhnt nicht, ihre Ästhetik ist schockierend, nichts für den feingeistigen Genuss, der noch das größte Elend ästhetiktheoretisch und damit verdaulich aufbereiten möchte.  Zownir operiert global – seine Locations sind die Metropolen dieser Welt, Kiew, New York, Moskau, London oder Berlin und dort immer an Stellen und Milieus, wo das genaue Hinschauen weh tun kann. Und wehtut. Zownirs Fotos können als Reality Check für die Limitationen der eigenen Wahrnehmung von Welt dienen.

In seiner schönen Laudatio auf Johannes Groschupfs „Krimi-Fuchs“ erwähnt Elmar Krekeler den Roman „Der Sandkasten“ von Christoph Peters als „literarisches Reenactment von Wolfgang Koeppens `Treibhaus`“ – und tatsächlich ist dieser brillante Text ein scharfsinniges Porträt der Berliner Polit- und Medienszene, bevölkert von Figuren, die wir alle kennen, auch wenn sie bei Peters anders heißen als in Wirklichkeit, aber soviel Fiktion darf auf der literarischen Ebene sein, wenn dadurch die politischen Verhältnisse umso scharfsinniger seziert werden. Komisch ist dieses virtuose Stück Prosa zudem, lustig eher nicht. Ganz deutlich ein literarisches Highlight des Jahres.

Das gilt mit Nachdruck auch für Jean Malaquais´ „Planet ohne Visum“. Ein leider sträflich übersehener Klassiker der Moderne von 1947 – hier in einer Fassung von 1999, über den komplizierten Entstehungsprozess und über die notwendigen Kontexte informiert das blendende Nachwort der blendend guten Übersetzerin Nadine Puschel -, der in der Joyce/ Döblin/Musil-Klasse spielt.  Malaquais, der eigentlich Wladimir Malacki (1908 – 1998) hieß, erzählt von Menschen, die 1942 in Marseille festhingen, und auf eine Möglichkeit warteten, aus Frankreich zu entkommen, stets bedrängt und drangsaliert von den Vichy-Behörden und den deutschen Häschern, kurz bevor die Wehrmacht und die SS auch in die „Freie Zone“ einmarschierten. Malaquais´ Prosa ist ein Wunder an flexibler Virtuosität, der sämtliche Register des Schriftstellens beherrscht, sämtliche Textsorten (von Drehbuch bis Slapstick, von Action bis Tragödie, von Pastiche und Melodram bis zarten Impressionismen) leichthin handhabt. Zudem ist Malaquais ein Magier des Perspektivwechsels, notfalls mitten im Satz (und insofern ein El Dorado für Interpreten, die sich ernsthaft mit Bachtins Theorien über den Stellenwert und die Funktionen  des Wortes in der Literatur beschäftigen). Dies aber immer im Dienst seiner Geschichten und Figuren, von denen einige leicht erkennbare Vorbilder haben (Walter Benjamin etwa oder Victor Serge) und deren Schicksalen. Zudem entsteht ganz nebenbei, aber natürlich intentional, ein Porträt von Marseille, dessen Vielschichtigkeit erst wieder von Jean-Claude Izzo erreicht werden sollte. Mehr zu diesem kapitalen Werk des 20. Jahrhunderts demnächst hier. Deswegen heute nur dieser knappe Hinweis – diesen Roman nicht zu kennen, wäre eine selbstverschuldete, fahrlässige Bildungslücke.

Weil wir gerade in der Zeit sind – ein Sachbuch-Highlight des Jahres ist Stephan Malinowskis „Die Hohenzollern und die Nazis. Geschichte einer Kollaboration“. Malinowskis quellengestützte Studie über die Affinität des deutschen Hochadels zu den Nazis erledigt nicht nur die verwunderlichen Restitutionsansprüche der Hohenzollern, sondern zeigt die zutiefst anti-demokratische, militaristische und antisemitische Grundhaltung der „Eliten“, die sich auch davon nicht groß beirren ließ, dass die Nazis keine Sekunde an der Wiedereinsetzung einer Monarchie interessiert waren.  Ein Exerzitium über autoritär-elitäres Denken, das einen noch lange nicht erledigten Strang „deutscher Kontinuität“ überdeutlich sichtbar macht. Zudem extrem lesbar geschrieben und derart mit Fakten unterfüttert, dass es sich auf keinen Fall um „Meinung“ handelt. Wirklich wichtig!

Endlich ist er auch bei uns in  den Buchläden: Sergio Molinos langer Essay „Leeres Spanien. Reise in ein Land, das es nie gab“ (dt. von Peter Kultzen). Das Buch, 2016 im Original erschienen, wirbelte in  Spanien viel Staub auf, auch weil es das Unübersehbare, aber Verschwiegene thematisierte: Die leeren, verödeten, kargen Landstriche (ich kenne sie gut von vielen endlosen Auto- und Zugfahrten von Barcelona oder Madrid nach Asturien), abseits der Küsten und abseits der Metropol-Region Madrid (dort wohnen 75% der spanischen Bevölkerung – und das Land ist sehr groß), die aber dennoch ein bestimmtes Spanien-Bild prägt – ein fiktive Don Quixote-Romantik, die es in der Tat nie gab.  Stattdessen gab es Landflucht, bestärkt durch Francos Industrialisierungsprogramm, und damit entvölkerte Landstriche, abgehängt im wahrsten Sinn des Wortes. Und das ist der Punkt, warum das Buch auch für uns so wichtig ist, denn abgehängte Gegenden sind keine spanische Spezialität.  Und wer synästhetische Synergien mag, schaue sich bitte daraufhin noch einmal den o.a. Band von Ken Light an.

Das nächste Highlight ist für mich allerdings ein bisschen arg frustrierend: T. J. Englishs große Studie „Dangerous Rhythms. Jazz and the Underworld“. Ein prall mit Material vollgepacktes Buch über den Zusammenhang zwischen Jazz und dem Organisierten Verbrechen, also darüber, was Adorno meinte, wenn er vom Jazz als Verbrechermusik sprach, und was dann Herden von benevolenten „Jazzliebhabern“ (Sie wissen schon, die Sorte mit Pollunder, Pfeifchen und einem Glas guten Rotwein, die den 7ten vom 12ten Take zu unterscheiden wissen und die Matrizennummer auswendig kennen) zu oft komischen Putz-und Waschaktionen trieb und treibt, um aus dem Jazz eine reputierliche Kunstform zu machen. English verfolgt penibel die Geschichte dieser nur oberflächlich verwunderlichen schwarz-italienischen Koproduktion, die keinesfalls symmetrisch war, aber ihre Wurzeln im tiefsitzenden Rassismus und dem, auch kulturellen, Überlegenheitsgefühl der „besseren weißen Gesellschaft“ hatte.  Dazu natürlich „Jazz“ als Geschäftsmodell, einzelne Stars als Asset der OK, dazu jede Menge kultureller Approbation im in der Tat ökonomischen Sinn. Auch dazu wird eine längere Besprechung folgen. Und ach ja, mein Frust: Dieses Buch hätte ich gerne selber geschrieben und habe dafür seit Jahrzehnten Material angehäuft, aber …. Man kommt ja zu nichts. Danke, Mr English.

Total durchgerutscht ist leider ein sehr bemerkenswerter Roman: Jeanette Limbecks „Die Fliegerinnen“. Keine einzige professionelle Rezension, der Roman kommt aus einer Schreibschule (oft keine gute Empfehlung) und sieht von außen eher belanglos aus. Schade, sehr schade. Denn die Geschichte von ein paar Kampf-Pilotinnen der Roten Armee (unter den ca. 800.000 Soldatinnen, die im 2. Weltkrieg für die Sowjetunion kämpften) ist nicht nur historisch spannend, sondern ein richtig guter, ja exzellenter Roman, eine Art Kriegsroman plus Polit-Thriller.  Das Faktum, das auch Frauen Jagdflugzeuge und Bomber sehr effektiv bedienen konnten, war eigentlich schon lange bekannt, allerdings spätestens seit Sevtlana Alexijewitschs grandiosem Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ voll im Diskurs angekommen. Limbecks fein recherchierter Roman erzählt aber nicht nur von den Problemen, die die Frauen dennoch in der Roten Armee hatten, über die mangelnde Anerkennung, gegen diskriminierende Vorgesetzte, die die alte Weisheit bestätigen, dass eine Frau fünfmal so gut sein muss wie ein Kerl um ernstgenommen zu werden. Limbeck greift – vielleicht noch spannender – den Umgang der stalinistischen Terrormaschinerie mit den eh schon suspekten Fliegerinnen (und Soldatinnen überhaupt, cf.  Alexijewitsch) auf, die paranoiden Schikanen des NKWD (dem Vorläufer des KGB), die sich vor allem gegen als „Verräter“ eingestufte Menschen und deren Angehörige richteten, besonders gegen „Wolgadeutsche“, Juden und überhaupt gegen alle, die zeitweise hinter den deutschen Linien leben mussten. Spitzelwesen, Willkür und Denunziantentum allenthalben schaffen eine Atmosphäre der Bedrückung, des Misstrauens und der Bedrohtheit, in der ein falsches Wort den Tod bedeuten kann, wobei auch systemisch erzwungener Hurra-Patriotismus notfalls nichts hilft (die Parallelen zu Hier und Heute muss ich wohl kaum betonen). Und mitten drin, während die Schlacht um Stalingrad tobt (zu diesem Wahnsinn liest man am besten Anthony Beevors „Stalingrad“, und/oder Wassili Grossmans Jahrhundertroman „Stalingrad“) haben sich Limbecks Fliegerinnen noch mit einer Privatintrige eines hochrangigen NKWD-Offiziers herumzuschlagen, der wiederum in Machtkämpfe innerhalb der Sowjetführung verwickelt ist. Wie Limbeck dieses vielschichtige Drama aufdröselt, aus verschiedenen Perspektiven erzählt, auch die Fliegerei plausibel rüberbringt und Atmosphäre schaffen kann, ist literarisch schon sehr beeindruckend. Diese Autorin hab ich ab jetzt auf dem Schirm.

Auch Martin Arz segelt schon lange ungerechterweise meist unterm Radar durch. Dabei ist sein neuer Roman „Ghosting Giesing“ ein schmales Wunderwerk an schrägen Figuren, nostalgischer Melancholie, viel Sprachwitz und origineller Weltsicht. Es ist vermutlich schwer, beim Schauplatz München sich irgendwo in der Lücke zwischen dem Friedrich-Ani-/Franz-Dobler-München und dem Helmut-Dietl-München zu verorten. Und Klaus Lemke gab/gibt es ja auch noch. Anyway, die Story um den buckligen Privatdetektiv Lorenz Teuffel, seinen Sidekick namens „der schöne Sascha“, ein dauervögelnder Wannabe-Influencer und um „Kotti“, ein Wesen mit Cotard, das sich also für tot hält, von sich selbst nur als „Es“ spricht und von den anderen liebevoll „Cerebro frito“ gerufen wird (wir erinnern uns natürlich an Fiona, die Serienheldin mit Cotard, erfunden von Harry Bingham), ist zunächst von banaler Alltäglichkeit. Nellie, eine Ex-Freundin von Teuffel, ist seit fünfzehn Jahren verschwunden, aber ihre Eltern wollen nicht an ihren Tod glauben. Aber natürlich ist alles nicht so, wie es scheint, sondern so, wie wir uns das mehr oder weniger denken. Auch wenn Arz ein paar bösartige Schleifen einwebt – der Roman lebt deutlich von seinen Figuren und von seinem Kolorit, wobei noch eine wunderbare Hommage an München als Disco-Hauptstadt der 1970/80er (nebst Playlist) hinzukommt. „Ghosting Giesing“ ist kein Regio-Krimi, sondern ein Lokal-Krimi, und wenn da statt „Lokal-“ „Barrio“ stehen würde, würde das die auf Grobreize fixierte  Rezeption vermutlich beeinflussen, weil Mikrosoziotope eben auch faszinierende Verbrechensräume sein können. „Lokal-Krimi“ ist hier auf jeden Fall ein dickes Kompliment.

Bei den bewegten Bildern musste ich erstmal nacharbeiten – 4 Staffeln von „The Boys“. Eine grandios geschmacklose Abrechnung mit dem Superhelden-Kult, mit den fundamental-religiösen, neo-faschistischen und ultraneoliberalen Kräften, die in MAGA-Land wüten. Und so tritt auch „The Boys“ allen offiziellen Werten mit Freude voll in die Fresse. Das ist exzessiv blutig, dabei sehr komisch (Unzucht mit Tintenfischen, z.B.), manchmal rührend, manchmal tragisch und mit viel Gespür für´s Bizarre (die Sexparty für mindere Superhelden, zb.), durchaus auch in einer kritischen Tradition von Tod Brownings „Freaks“. Seit der 3. oder 4. Staffel haben die Macher vielleicht ein bisschen zu viel Freude an ihrem Trick-Device, mit dem man Leute explodieren lassen kann, aber naja, manchmal sind die Boys auch ein bisschen arg boyish.

Und dann war da ja auch noch „Kleo“. Eine deutsche Netflix-Produktion über eine Stasi-Killerin die nach „der Wende“ auf Rachefeldzug an Menschen geht, die sie und ihre Ideale als aufrechte Tschekistin verraten haben. In Kleos Mangel geraten nicht nur ihre Feind:innen, die sie fröhlich ausrottet, sondern auch die „reale“ Geschichte. Endlich mal ein historischer Stoff, an dem das fragwürdige Argument abprallt, man könne mittels krimi/thriller-afiner Narrative so etwas wie „historisches Wissen oder Interesse“ vermitteln. „Kleo“ baut sich die reale Geschichte so um, wie sie die Serie für ihr Feuerwerk an Ideen, Gags und Twists braucht, anarchisch, schrill, bunt, komisch und auch berührend. Und mit Jella Haase als Kleo betörend gut besetzt. Highlight, ganz klar.

Was man von „Avatar – Der Weg des Wassers“ nicht unbedingt sagen kann. Immerhin weiß ich jetzt, warum Popcorn-Kino Popcorn-Kino heißt, nachdem zwei liebste Menschen neben mir gefühlt fünf Kilo von dem Zeug weggemümmelt haben – hinterher unwohl. Natürlich sind die digitalen Wasser-Effekte in 3D überwältigend gut, und natürlich steht der Film zurecht als „White Savior“-Erzählung in der Kritik – böse Menschlinge wollen den Planeten Pandora ausplündern, die Indigenen wehren sich, unter der Führung eines konvertierten Menschen, viel mehr ist da nicht an Plot. Man kann sich natürlich darüber freuen, dass auch Blockbuster „woke“ sein können, Naturschutz, Diversität etc., aber wir möchten bitte bedenken, dass Blockbuster in erster Linie Produkte zur Profitmaximierung sind und kein Beitrag zu irgendeinem „Diskurs“. „Avatar II“ ist einer dieser Filme, die so großartig gemacht sind, dass man mit durchaus wachem Bewusstsein leicht infantil werden kann: Ich habe mich an den allerliebsten beweglichen Öhrchen der Na´vi ergötzt und mich auch gefreut, wenn sie so niedlich fauchen. Und ich mag Gigasuper-Wale, die Symphonien komponieren und mit ihrer Schwanzflosse Bösewichte plattpatschen und fiese Schiffe versenken. Die Manipulation funktioniert, solange ich das zulasse. Aber wie heißt es so schön: Ein Riesenspaß für die ganze Familie. Die Popcorn-Tonne ist am Ende leer – hinterher unwohl.

Ein anderes Kaliber ist dann schon „Triangle of Sadness“. Eine sehr schwarzhumorige Herr-und-Knecht-Geschichte, die von Superreichen erzählt, und von den Dienstboten, die die Machtverhältnisse umkehren, wenn die Machtbasis der Reichen wegbricht, wie in Ruben Östlunds Film die Luxusyacht, die versinkt. Und weil Superreichtum obszön und eklig ist, suhlt sich „Triangle of Sadness“ auch in Ekelkram (wow, Sunnyi Melles, diese Performance hat echt Mut erfordert), in fröhlichem Zynismus – Woody Harrelson als dauerbesoffener kommunistischer Kapitän der Yacht ist unschlagbar gut – und jeder Menge seelischer Grausamkeit.  Wenn die überlebenden Reichen und Armen dann auf der Insel stranden, werden sie nicht etwa zu besseren Menschen, au contraire. Der Film bietet eine Menge Spielraum für Interpretationen, aber keine dieser Auslegungen könnte in Kitsch, Sentimentalität oder Versöhnlichkeit schlüssig enden. Immerhin. 

In eine ähnliche Richtung geht „The Menu“, wobei ich die werbliche Ankündigung als „Horrorfilm“ nicht ganz verstehe. Ein paar kleinere Schockmomentchen (nur für arg sensible Gemüter welche) und das furiose Finale, das einen Marshmellows fortan mit anderen Augen sehen lässt, machen aus einer bösartigen Satire noch kein Genre-Film. Egal, „The Menu“ geißelt stoisch wie Oberkellnerin Elsa (brillant: Hong Chau) die Irrungen und Wirrungen der Spitzeneventgastronomie, die der tyrannische Chief Julian Slowik (top-sinister: Ralph Fiennes) an seinen Gästen auslässt, an der Gastrokritikerin und ihrem schleimigen Verleger, an den verständnislosen Fressern, die einem solchen Event nur beiwohnen um ihm beigewohnt zu haben, an dem skrupellosen „Foodie“, einer üblen, miesen Nervensäge sondersgleichen, der selbst nicht einmal ein schlichtes Lammkottelet hinbekommt und dafür zurecht final büßen muss, und an anderen Gestalten, die sich diese Art von Essen leisten können, bzw. das glauben. Nur das Escort-Girl Margot (anbetungswürdig: Anya Taylor-Joy) kann den Koch schlagen: Mit einem lebensrettenden Hamburger. Das ist alles sehr komisch, sehr strukturiert, sehr streng gebaut, was irgendwie an Peter Greenaway erinnert. Wie, deswegen, komme ich auf Greenaway, auch „The Menu“ letztendlich enigmatisch bleibt, was ich für eine gute Idee von Regisseur Mark Mylod halte. Aber das Schöne an Satiren ist ja, dass sie ohne Gegenbildlichkeit auskommen – der Hamburger am Schluss ist keineswegs das „bessere“ Essen, sondern ein perfekter Gag.

Bemerkenswert bei „Triangle of Sadness“ und „The Menu” finde ich, dass der alte Topos von der Dekadenz und der moralischen Verwerflichkeit von Spitzengastronomie oder Haute Cuisine oder wie auch immer wir das nennen wollen, letztendlich doch wieder, zumindest metaphorisch, aufscheint. Nicht die Produktionsexzesse der Lebensmittelindustrie, der ganze chemisch aufbereitete Dreck, den nicht nur die Kids in sich hineinstopfen, nicht nur die Illusion, „Ernährung“ könnte systemisch „unschuldig“ sein im zusammenklappenden Spätkapitalismus, nein, ausgerechnet elaborierter Genuss verfällt wie Luxuria und Gula (aus dem an diesen Punkten zutiefst unsympathischen Katalog der „Todsünden“) der eifernden Verurteilung aus dem Geiste des Strebens nach Tugendhaftigkeit.  Gastrokritiker Jürgen Dollase hat sich in dem hübschen Essay-Bändchen „Völlerei. Das grosse Fressen“ dieses Topos´ angenommen und immerhin zur „kontrollierten Völlerei“ aufgerufen, durchaus wissend, dass „wer Genuss immer moderieren will“, „auf eine ganze Reihe der schönsten Dinge verzichtet, die man sich als Mensch gönnen kann“, und dass auch „jedes Konzept scheitern muss, das dem Menschen eine spezielle Form des Genießens austreiben will, nämlich das Essen bis zur genüsslichen `Füllung`.“

Aber das nur nebenbei – und als Überleitung zu zwei weiteren Highlight-Bänden des Jahres: Die von Jim Heimann edierte Sammlung „Menu Design in Europe. A Visual and Culinary History of Graphic Styles and Design 1800-2000” präsentiert Speisekarten und Gastro-Werbung aus drei Jahrhunderten, was nicht nur einen Gang durch die Kunstgeschichte ergibt, sondern auch die kulinarischen Präferenzen der Epochen sichtbar macht. Die Kreativität dieser Art von Gebrauchsgrafik ist stupend, oft überschäumend, oft albern, aber oft vermutlich interessanter als die angepriesenen Gerichte und ebenso vermutlich oft spannender als die Dinners und Events, zu denen geladen wird.

Blättert man durch den Prachtband – und das tut man sehe gerne und sehr ausführlich – , fällt all at all doch auf, wie oft Austern quer und längs durch die Zeiten im Angebot sind. Das ist schön, und befreit auch historisch gesehen von dem Verdacht, man sei eine kleine perverse Minderheit, die sich an diesem Schlabberkram labt. Abgesehen davon, dass ich keinesfalls etwas dagegen habe, diese kleine perverse Minderheit zu repräsentieren … aber es stimmt eben nicht: Austern waren und sind sehr beliebt bei den Menschen, wenn auch aus historisch verschiedenen Gründen. Warum und wie das so ist mit den Schalentieren: Andreas Ammers „Austern. Ein Porträt“ in der gar nicht genug zu lobenden, von Judith Schalansky herausgegebenen „Naturkunden“-Reihe, erzählt uns alles, was wir über Austern wissen wollen: Erdgeschichtlich, biologisch, taxinomisch, physiologisch, psychologisch, ideologisch, kulturgeschichtlich, philosophisch und kulinarisch auch. Ein unterhaltsames und sehr intelligentes Vademecum für Austern-Fans und vielleicht sogar als Bekehrungsbüchlein für Leute, die immer noch iiiibäää machen. Gerade höre ich, dass in der Kreuzberger Marheineke-Markthalle eine Austern-Bar neu eröffnet hat. Das ist günstig, weil dort auch meine Lieblings-Fleischquelle siedelt. Nix wie hin …

Und was war sonst noch, im Jahr? Zuviel, um es alles hier aufzuschreiben – fruchtbare Kongresse und endlich mal wieder live Auftritte in Słubice, Köln, Unna, Leipzig, Nettetal etc. Sonja Hartl hat einen spannenden Podcast gestartet: „Abweichendes Verhalten – Gespräche über Crime Fiction“, bei dem man sich wirklich mit genügend Zeit über Bücher oder Filme unterhalten kann. Extrem empfehlenswert.

Zum Schluss noch eine CD – „Instant Stories“ von Uwe Kropinski und Dieter Köhnlein, 18 Miniaturen für Gitarre und Piano, unkategorisierbar, Musik pur halt. In verschiedenen Stimmungen und Klangfarben, virtuos sich durch verschiedene musikalische Grammatiken von Impressionismus bis Free Jazz und Neue Musik bewegend, Kommunikation anstatt Ego-Trip, von wuchtig bis subtil. Und, wichtig, keinesfalls „schwierig“, ein Dumpfbackenkriterium, das mich zunehmend nervt.

Na dann, 2023, come on!

© Thomas Wörtche. Seine Texte bei uns hier.

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