Geschrieben am 2. Mai 2023 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2023

TW: Miron Zownirs Fotoband „Istanbul“

„Fotograf der Anderswelt“ nennt Freddy Langer in seinem Nachwort Miron Zownir, der in der Tat zu den Größten seines Fachs gehört. Zownirs Straßenfotografie gilt im Allgemeinen als radikal, tabu-brechend, extrem. Wegen seiner Sujets – dem Streetlife der Freaks, der Marginalisierten, Versehrten, den Devianten und anderen Außenseitern. Zownir blickt in Ecken, in die zu blicken, weh tun kann. Ohne Glamour, ohne sensationelle Grobreize. Extrem sind dabei die Lebensschicksale, die Lebensentwürfe, die soziale Situation der Menschen, die seine Kamera abbildet. Und es sind beileibe nicht nur Opfer der Verhältnisse, sondern auch Menschen, die autonom ihren Platz außerhalb der Mainstream-Gesellschaft gefunden haben und ihn oftmals stolz behaupten. Das Bizarre, das Groteske, das Exzessive, Schmutz, Blut und Wunden – das sind alles Facetten der Realität, die man sehen kann, wenn man sie nur sehen will. Und Zownir will sehen. In striktem Schwarz/Weiß, mit eher kleinem Equipment, ohne inszenatorischen Aufwand oder gar Plan versucht er, den perfekten Moment für seine Fotos zu erwischen – seine Kunst besteht dann nicht im formalen, von vornherein festgelegten  Bildaufbau, sondern darin, aus den unzähligen geschossenen Bildern das jeweils „Richtige“ auszuwählen, das Foto, das die Sujets am besten trifft, das die Magie des Moments sichtbar macht.  

Die in dem „Istanbul“-Band versammelten Fotos, zwischen 2019 und 2020 entstanden, setzen vor allem auf Stimmung. Manche Fotos sind fast menschenleer, andere sind schlichte Streets Scenes aus einer sehr diversen Stadt, Menschen im Alltag, viele Kinder auf der Straße, Hunde auch. Natürlich gibt es auch Bilder, die die Armut in der Metropole zeigen, die Inflation wütet schließlich schon. Leute müssen auf der Straße hausen, medizinische Versorgung gibt es kaum.

Man muss nur genau hinschauen, weil Zownir keine Sozialreportagen abliefert, sondern nur Bilder von Existenzbedingungen, die sich in die Gesichter und die Körper der Menschen eingegraben haben. Nightlife gibt es natürlich auch, aber in durchaus entspanntem Modus. Die ungeheure Vielfalt der Architektur wird sichtbar – die glitzernden Türme und gleichzeitig das „alte Istanbul“, schon fast idyllischen Bilder vom Bosporus, mit Bildern von Armut und Verzweiflung gegengeschnitten. Die Spannungen innerhalb der türkischen Gesellschaft werden so sinnlich greifbar. Istanbul wird dadurch zu einem inhomogenen Ort, der – zumindest in Zownirs Bildern – als Mythos zusammengehalten wird. Man könnte paradoxerweise sagen, dass die krasse Gegensätzlichkeit der Abbildungen durch die Fotos eine Art zauberische Harmonie bekommen. 

Und immer wieder die Gesichter: Ein Verkäufer von Schusswaffen, ein Bettlerjunge, der einem Spender gegenüber misstrauisch blickt. Eine alte Dame, die, als wär´s Berlin, mit ihrer Kippe auf ein Kissen gelehnt, aus dem Fenster blickt, ein Liebespärchen am Wasser, fröhlich-schmutzige Straßenkids, ein tiefmelancholisches Mädchen. Hinter jedem Foto steckt eine Geschichte, nicht unbedingt immer eine Geschichte, die man kennen möchte, aber eine die es aber fraglos gibt.  Und somit jedes Recht hat, erzählt, beziehungsweise fotografiert zu werden. Auch wenn Zownirs Bilder manchmal brutal „authentisch“ sind, so ist er kein standpunktloser Voyeur, sondern die Fotos sind Resultate einer besonderen Art von Empathie, die sich nicht „Empathie“ als Marketing-Tool aufs Panier schreibt. Das ist schon alles sehr beeindruckend und großartig allemal.

Thomas Wörtche 

Miron Zownir: Istanbul (Begleitband zur Ausstellung „Istanbul“). Galerie Bene Taschen & PogoBooks, Köln/ Berlin 2023. 84 Seiten, 50 Euro. – Website zum Buch.

Alle Fotos © Miron Zownir

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