Geschrieben am 3. Oktober 2019 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2019, News

Tobias Gohlis über Helden

Drei Heldengeschichten

Keynote zur Tagung KRIMIS MACHEN 4 in Köln – von Tobias Gohlis

Der Urtyp 

In der ersten Heldengeschichte steigt mitten im mittelamerikanischen Nirgendwo ein Mann aus dem Zug. Das Nirgendwo hat den Namen „Mother’s Rest“, und der Mann ist wie ein Tourist aus purer Neugier ausgestiegen, um herauszufinden, welche Geschichte hinter diesem Namen steckt. Es ist Mitternacht. Ihm begegnet auf dem leeren Bahnhof eine Asiatin. Der Zugreisende fragt immer weiter nach der Bedeutung von „Mother’s Rest“, an seiner Seite die Asiatin, die sich als Privatermittlerin herausstellt, die ihren dort verschwundenen Kollegen sucht. Dem „Echsenhirn“ des Mannes, gewohnt, winzige Details wahrzunehmen, fällt die seltsame Bewegung eines Hotelrezeptionisten auf, die aus dem üblichen Rahmen ländlicher Verhaltensweisen fällt. Der Mann rätselt über „Mother’s Rest“ und stochert irritiert herum, verprügelt ein paar Bauerntölpel, die ihn mit erstaunlicher Brutalität am Stöbern hindern wollen. Einem Rüpel gelingt es, ihm eine so schwere Gehirnerschütterung zu verpassen, dass er manchmal doppelt sieht. In diesem erschütterten Zustand gelingt es dem Mann – die meisten hier werden in ihm Jack Reacher erkannt haben – mit Unterstützung der Asiatin 400 Seiten später, das dörfliche, bisher ungeknackte Sicherheitssystem zu überlisten und die Mörder von 200 Menschen zu töten. Nachdem alle Übeltäter erschossen sind, zieht der Held weiter.

Weibliche Emanzipation im männlichen Heldenkostüm

Harley, 22 Jahre alt, wächst als Tochter von Duke McKenna auf, der in den nördlichen Wäldern Kaliforniens in dritter oder vierter Generation despotischer Herrscher eines Hinterwäldler-Imperiums ist. Harley war acht Jahre alt, als sie erstmals Zeugin wurde, wie ihr Vater ein Mitglied der verfeindeten Springfieldfamilie aufschlitzte. Mit siebzehn tötet sie selbst zum ersten Mal. Sie wurde auf Gewalt dressiert wie ein Hund. Jetzt aber liegt ihr Vater todkrank darnieder und sie ergreift die Chance, selbst das Erbe der Familien-Macht anzutreten. Sie hetzt die rivalisierenden potenziellen Nachfolger ihres Vaters aufeinander und benutzt sie gleichzeitig, um die drohende Konkurrenz der Springfields auszuschalten. Das gelingt ihr durch Erpressung, Körperverletzung, Entführung, aber ohne jemanden zu töten. 

Ihr Mantra ist, „alles besser“ zu machen. 

Zur Abrundung ihres Sieges zwingt sie eine Bikerbande, auf zukunftsträchtigen „grünen“ Marihuana-Anbau umzusteigen und sich ihr unterzuordnen. Die einzige anständige Polizistin des Countys installiert sie als neuen Sheriff und Geschäftspartnerin. Sie droht, allen Männern öffentlich den Schwanz abzuschneiden, die die Sicherheitszone um das lokale Frauenhaus nicht akzeptieren und schneidet einem Frauenprügler ihr Initial H ins Gesicht. Kurz, sie errichtet anstelle der primitiven männlichen Hinterwäldlerherrschaft eine modernere, zukunftsfähige weiblich bestimmte Diktatur. Mit ihr selbst als Alleinbeschützerin nach dem Vorbild des „Shadow“, jener Comicfigur der 30er Jahre, die etlichen Superhelden Pate gestanden hat. Ihre letzten Worte sind das Versprechen für ein Sequel: „Ich werde ein vages Flüstern im Wind werden. Ein Gerücht, dem nur die Mutigsten auf die Spur zu kommen versuchen. Eine Schattengestalt die ihre Leute schützt und über das Land wacht.“ 

Mit Helden scheinbar Verständnis schaffen

Die dritte Geschichte handelt von einem syrischen Jungen. Er ist dreizehn Jahre alt und heißt Mouawiya. Er lebt in Daraa und schreibt einen Grafitto: „Du bist als nächster dran, Doktor!“ Damit gibt er der verbreiteten Stimmung im Daraa des Jahres 2011 prägnanten Ausdruck. Es ist arabischer Frühling, und alle hassen den Augenarzt Doktor Bashar al Assad. In den Augen seiner Mitbewohner ist Mouawiya ein Held. Er weiß noch nicht, dass dieses Grafitto den Geheimdienst Assads zu einem Überfall auf Deraa provozieren und damit den Bürgerkrieg in Syrien auslösen wird. 

Aus dem gefeierten Helden ist sieben Jahre später ein tragischer Held geworden; jetzt wird er verachtet als Auslöser des Kriegselends, das Assad über das Volk gebracht hat. 

Das erzählt er 2018, mitten im Geschosshagel und bedroht von Fassbomben, einem deutschen Vertrauten über WhatsApp. Danach bricht der Kontakt ab.

Dass der Kontakt bestanden hat und dass es einen Mouawiya Syasneh gegeben hat, entspricht den Tatsachen. Aber die ganze Heldengeschichte ist ein Fake. Ein Fake des berüchtigten Spiegelreporters Claas Relotius. Juan Moreno, der diesen Hochstapler unter dem persönlichen Risiko, als Journalist nie wieder einen Fuß auf den Boden zu bekommen, entlarvt hat, bezeichnet diese Heldengeschichte als Relotius‘ „Meisterstück“. 

Sniper von Lee Child

Was sind Helden in der Fiktion?

Allen drei Heldengeschichten ist gemeinsam, dass sie Fiktion sind, wenn auch mit unterschiedlichem Bezug zur Realität.

Im Schreiben und Sprechen über Bücher werden oft die Protagonisten, die Handlungsträger, als „Helden“ bezeichnet, obwohl sie im eigentlichen Sinne keine sind. 

Stark abstrahiert, kennzeichnen die Helden, von denen ich spreche, mehr oder minder ausgepägt folgende Merkmale:

– sie verfügen über außergewöhnliche physische und intellektuelle Fähigkeiten

– außergewöhnlich sind auch: Kampfeswillen, Erfahrung, Planungskompetenz, Terrain- und Gegnerkenntnis, Radikalität

– sie sind opferbereit, kämpfen unter Einsatz ihres Lebens, sind daher bereit, bis zum letzten zu gehen und damit oftmals weiter als ihre Gegner

– sie reflektieren nicht über ihre Ziele, sie haben sie

– sie erleiden Phasen der Schwäche, zweifeln aber niemals an ihrer Mission. Zielkonflikte sind ihnen unbekannt 

– sie sind Repräsentanten des Guten. Unter bestimmten Umständen macht ihr Heldentum sogar eine Sache erst zu einer guten

– sie handeln allein, bestenfalls kennen sie Gefährten

Um als Projektionsfigur dienen zu können, benötigt der Held eine bestimmte Größe. Über sich stößt er an den Superhelden mit nichtmenschlichen Über-Kräften, nach unten hin unterscheidet er sich von realen tapferen Personen durch seine Unsterblichkeit oder einfacher gesagt, durch seine fortwährende Funktionsfähigkeit als überragende Einzelkraft.


Der Jungens-Traum: Jack Reacher

Wenn es mit natürlichen Dingen zuginge, wäre Jack Reacher ein Wrack: Er hätte statt des Unterkiefers ein Loch, nur noch einen Arm, auch keine Eier mehr und würde von einer Gefährtin im Rollstuhl zum Veteranendenkmal geschoben werden.

Aber Jack Reacher ist nach 23 Romanen immer noch intakt. Lee Child hat den Ex-Militärpolizisten mit überragenden Körperkräften, hervorragenden Schießtechniken und vor allem der Sorte von Reptilienhirn ausgestattet, die ihm auch in schwierigsten Situationen erlaubt, in Bruchteilen von Sekunden die einzig richtige Entscheidung zu treffen – auch wenn Child mehrere Seiten dafür benötigt, Reachers Entscheidungsprozesse sozusagen in Superzeitlupe auf mehreren Buchseiten so lange aufzudröseln, dass man als Leser glaubt, einem Handbuch für Nahkampftaktik zu folgen, das so nachvollziehbar ist wie die Anleitung für den Zusammenbau eines Billy-Regals. 

Selten setzt Child seinen Helden schwerem Beschuss oder Giftgas aus, er schickt ihn lieber in alltagsnahe Situationen, in denen die Normalo-Leser imstande sind, mitzuzittern, weil auch er oder sie sich vorstellen können, von Muskelprotzen umzingelt zu werden und davon träumen, sie niederzumachen. 

Dieses Heldenmodell wird beflügelt vom kindlichen Geist derer, die sich, selber klein und schwach, in Übergrößen und Fähigkeiten hineinträumen. Das sind im Fall Reachers vor allem kleine Jungen, aber nicht nur. Dieser kindliche Geist steckt in jeder und jedem von uns, weil wir wissen, dass der Mensch ein sehr schwaches Tier ist. Die Lektüre eines Reacher-Romans befreit uns für ihre Dauer von der Angst zu versagen. 

Lee Childs Reacher ist eine Fortschreibung klassischer männlicher Heldenrollen – des Westernhelden, des Freibeuters, des Söldners, des Tramps – und das macht seinen Erfolg aus. Der amerikanische Kulturkritiker Robert Warshow schrieb über den Westerner: „Im Grunde verteidigt er die Reinheit seines eigenen Nimbus – also seine Ehre. Das macht ihn unverwundbar.“ 

Ich füge hinzu: Wogegen und was er bekämpft, ist sekundär, kann jedoch ausschlaggebend sein für den Reiz der Heldenezählung.

Der Mädchentraum: Harley McKenna

Im Unterschied zu Reacher, der in einer Weltauflage von mindestens 100 Millionen den alten Traum von männlicher gentlemanhafter Überlegenheit rehabilitiert, ist Tess Sharpes „River of Violence“ (im Original „Barbed Wire Heart“ – Stacheldrahtherz; CrimeMag-Kritik von Iris Tscharf hier) die Phantasie einer weiblichen Machtergreifung. Das generelle Dilemma des Heldentopos wird hier noch deutlicher: Die einzelne Aktion der Helden ändert an den Verhältnissen nichts, sie bleibt vereinzelt, ist wenn überhaupt nur im Heldenkosmos exemplarisch. Ein Rattennest wird ausgelöscht, auf zum nächsten, und immer so weiter. 

Über Harleys Kampf schwärmte eine Rezensentin: „Die weibliche Selbstermächtigung, die Harley verkörpert, diese Mischung aus Kraft, Klugheit, Entschlossenheit und Empathie – die ist klasse. Das ist das komplette Gegenteil zur althergebrachten Definition von Frauen als schwach, unselbstständig und angepasst.“ Aber auch nicht mehr als das komplette Gegenteil. Muss eine junge Frau zum Bluthund dressiert werden, um aus der weiblichen Opferrolle rauskommen zu können? Über beinahe 500 Seiten singt die Icherzählerin erregt schaudernd das Hohelied der Gewalt, die tun muss, was getan werden muss. „Das ist immer hart Baby. Aber manchmal geht’s nicht anders.“ Und hohlkopfpathetisch weiß Harley: „Leute wie wir finden echte Freiheit nur im Tod.“

Von der Tragik, die darin besteht, dass Harleys „Besseres“ kaum mehr ist als eine Modernisierung der althergebrachten Machtausübung unter weiblichem Vorzeichen – so wie die Mafia vom Massaker zum Weltmarkt übergewechselt ist – ist in diesem Krimidebüt einer Jugendbuchautorin jedenfalls nichts zu spüren. 

„River of Violence“ ist das Pendant zu der Reacher-Serie (nur schlechter geschrieben): ein Kleinmädchentraum, der Rache in Kostümen ausmalt, die aus der patriarchalen Mottenkiste stammen.

Da repräsentiert der ein Jahr früher in den USA erschienene Roman „Lola“ von Melissa Scrivner Love ein anderes Modell weiblicher Selbstermächtigung. 

Lola hat schon lange ihre kleine, nur nach außen hin von einem Boss geführte Latinogang aus dem Hintergrund dirigiert. Als sie mit dem Kartell in Konflikt gerät, muss sie sich als wahre Anführerin outen und ihr Leben riskieren. Sie muss dafür keine Schwänze abschneiden, sondern Geschäftskonkurrenten umnieten, die ihre Macho-Allüren blind gemacht haben. Im durch und durch korrupten System findet sie eine neue Verbündete in einer Staatsanwältin, mit der sie zukünftig ihre erfolgreichen kleinen kapitalistischen Ganggeschäfte betreiben wird. 

Die Figur der Lola ist tapfer, aufopferungsbereit, trägt heldenhafte Züge, Lola ist aber keine Heldin. Dazu sind ihre Ziele nicht großartig genug, sie will nur ihre Familie und ihr Geschäft beschützen. Sie will nichts Besseres. Ihr fehlt der moralistische Überbau, der Harley als Heldin erscheinen lässt und rechtfertigt.

Je lebensnäher Plot und Setting, desto weniger Heldentum ist erforderlich.

Die Tatsache, dass auch Lolas Entwicklung dem Rollenklischee der Beschützerin unterworfen ist, wirft nebenbei die Frage auf, inwieweit das Heldenhafte sich überhaupt aus dem Gefängnis des Klischees befreien kann. 

Weiter zu verfolgen, aber nicht an dieser Stelle, wäre auch die Frage, ob so hochherzige, mitreißende weibliche Heldenfiguren wie Modesty Blaise, Fiona Griffiths und Jenny Aaron vielleicht auch deshalb von Männern – Peter O’Donnell, Harry Bingham und Andreas Pflüger – erfunden wurden, weil diese glaubten, so das männliche Heldenmodell in weiblicher Gestalt modernisieren zu können.

Erfinde einen Helden

Ob der dreizehnjährige Mouawiya ein Held war, als er das Grafitto gegen Assad sprayte, sei dahingestellt. Einige Zeit jedenfalls galt er seinen Landsleuten als solcher. Für westliche Medien faszinierend war, dass in ihm vereint zu sein schien, was in der Realität sehr selten zusammenkommt: Unschuld und Radikalität. (Das trifft auch auf Greta Thunberg zu.)

Es ist eine falsch verstandene Theorie von Reportage, dass unübersichtliche Situationen am besten kolportiert werden, in dem man den zu ihnen passenden Helden (er-)findet. Angeblich soll Relotius in einem anderen Fall von genauen Regieanweisungen der Redaktion geleitet worden sein: Finde mir dieses Flüchtlingsmädchen, das das und das erlitten hat. Bezeichnend ist, wie sehr in bestimmten unübersichtlichen Situationen das Bild eines Helden her muss. Der Ohnmacht angesichts der Unübersichtlichkeit der Konflikte entspricht komplementär die Sehnsucht nach einer Figur, in der alles Mitempfinden gebündelt werden kann.

Das, was in der realen Politik der Populist verspricht – die einfache Lösung, die Identifizierung eines Hauptschuldigen, das gemeinsame Hassobjekt – all das liefert die Heldenerzählung plastisch frei Haus. Und darüber hinaus die Befriedigung einer Lösung durch Identifikation mit dem Helden, der alles Diffuse, Verstörende, Kontingente mit einem oder zwei Faustschlägen beiseite wischt. Diese tiefe Befriedigung lässt sich ebenfalls im Reptilienhirn verorten, da, wo jede abweichende Bewegung Paranoiasignale auslöst.

Helden am Ende?

Angeblich leben wir in postheroischen Zeiten.

„Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“ Trifft diese Aussage Bertolt Brechts auch auf die Kriminalliteratur zu? Unglücklich die Literatur, die Helden nötig hat?

Ja, und nein.

So lange die kindlichen Bedürfnisse, die eine Regression ins Archaische verlangen, nicht ausgelebt sind, müssen sie im Bereich der Symbole bearbeitet werden. Es hat keinen Sinn, sie zu unterdrücken. Es sind die Kindheitsträume, die in der Literatur nach neuer Gestaltung suchen. Im Unterschied zur Lebenswirklichkeit darf die Literatur spielen, darf tun als ob. Aber sie darf nicht auf dem  Niveau infantiler Träumerei verharren.

Zum Unglück der aus Kinderträumen geronnenen Heldenerzählungen gehört, dass sie mehr oder minder fest an Genrekonventionen gefesselt sind, denen Genre-Erwartungen von Leserinnen und Lesern entsprechen. Dieses Unglück hat der bereits erwähnte Robert Warshow so formuliert: „Bei einem solchen Genre besteht der Erfolg darin, dass seine Regeln in das allgemeine Bewusstsein eingehen und zu anerkannten Vehikeln bestimmter Verhaltensmuster und ästhetischer Wirkungen werden. Jedem einzelnen Beispiel eines Genres nähert man sich mit sehr genauen Erwartungen, und Originalität wird nur in dem Maße begrüßt, wie sie das erwartete Erlebnis intensiviert, ohne es grundlegend zu verändern.“

Das bezog sich auf das enge Genre des Gangsterfilms und auf den Western. In gewisser Weise sind meine beiden genannten Beispiele – Reacher und Harley – an derartige Genrefesseln gebunden. Bis zum Ersticken jeder Originalität.

Zum Glück ist die Kriminalliteratur ein fluides Medium und kennt viele andere Subgenres und Erzählstrukturen. Zum Beispiel hat Ed McBain mit seinen Cops vom 87. Revier das fatale System der Einpersonen-Show Einer gegen den Rest der Welt durchbrochen. 

Doch unbestritten – zumindest, wenn ich dem kleinen Jungen in mir zuhöre – gibt es diese Faszination durch den starken Helden, Mann oder Frau, und die reine unmittelbare Freude darüber, dass sie oder er es wieder einmal geschafft hat. 

Drei Beispiele für Heldenmodelle, die von den Genrefesseln befreit sind

Zum Schluss möchte ich daher noch auf drei Beispiele verweisen, in denen es gelungen ist, die Heldenerzählung aus den Genrefesseln zu befreien, ohne das Gebiet der Kriminalliteratur zu verlassen:

Als erstes sei hier Jerome Charyn genannt,der mit Isaac Sidel einen Helden geschaffen hat, der alles Menschliche in sich vereint, alles Böse und alles Gute und alles Kindliche. Charyn sagt zu Recht über seinen Helden. „Sidel ist so etwas wie ein Geist oder ein Gespenst, den unsere Welt hervorgebracht hat. Die Welt ist verrückt, und er hat was von ihrer Verrücktheit.“ 

Sara Gran ist es mit der besten Detektivin der Welt, Claire de Witt, drei Bände zwischen 2012 und 2018, geschafft, die radikale Unbedingtheit und den Opfermut einer Heldin mit einer Art von realer Transzendenz so zu verknüpfen, dass eine neue Heldenfigur und eine neue Heldenwelt entstehen. 

Und drittens möchte ich als modernen Antihero Jack Price, den Helden von Aidan Truhens „Fuck you very muc“h (2018) nennen. Die alten Antiheros (nachzulesen in Frank Nowatzkis Anthologie von 2001) verzerrten als üble Einmann-Spiegel das Psycho- und Soziopathische, den Menschen-, besonders Frauenhass des Nachkriegskapitalismus. Jack Price tut dies mit der heutigen Welt des digitalen Kapitalismus. Hört seinen Heldentenor: „Ich bin ein Businessplan auf zwei Beinen und Ausdruck dieses Jahrhunderts.“ 

Mit seinem gnadenlosen, technologisch aufgerüsteten Egoismus ist Aidan Truhens Jack Price der Antihero zu all den Silicon-Valley-Milliardären, die nicht nur die Welt beherrschen, sondern auch noch verbessern wollen. Und damit das Modell einer Heldenfigur, die mit den Dämonen unserer Zeit kämpft.

Was beweist, dass der Held eben doch unsterblich ist. 

Und Helden sind desto weniger langweilig, je höher die Erzählungen von ihnen auf dem Stand der gegenwärtigen Krisen sind. 

Tobias Gohlis

 Tobias Gohlis ist Krimikolumnist der Wochenzeitung DIE ZEIT, Begründer und Jurysprecher der Krimibestenliste. Sein Blog heißt „Recoil. 
Seine Texte bei CrimeMag hier, zum Beispiel eine Mailand-Fahrt auf den Spuren von Georgio Scerbanenco.

Literatur:

Lee Child: Keine Kompromisse, deutsch von Wulf Bergner, 2019, (Make Me, 2015). Reacher Band 20 – CrimeMag-Besprechung hier. Lee Child bei CrimeMag.

Tess Sharpe: River of Violence, deutsch von Beate Schäfer, 2019, (Barbed Wire Heart, 2018) – CrimeMag-Besprechung von Iris Tscharf hier.

Der Spiegel: Stellungnahme/ Dokumentation zum Fall Relotius

Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge, 2019 (Besprechung hier in dieser Ausgabe)

Robert Warshow: Die unmittlbare Erfahrung, deutsch von Thekla Dannenberg, 2014 (The immediate experience, 1962) – CrimeMag-Besprechung und Interview mit der Übersetzerin hier.

Jerome Charyn: Isaac Sidel verschieden Ausgaben, u.a. bei Rotbuch, Unionverlag, Diaphanes, verschiedene Übersetzer (original 1974 -2017), verschiedene Übersetzer – Jerome bei CrimeMag hier.

Sara Gran: Die Stadt der Toten, 2012 (Claire deWitt and the City of the Dead, 2012), Das Ende der Welt, 2013 (Claire de Witt and the Bohemian Highway, 2013), Das Ende der Lügen, 2019 (The Infinite Blacktop, 2018), alle übersetzt von Eva Bonné – Sara Gran bei CrimeMag hier.

Aidan Truhen: Fuck you very much, deutsch von Sven Koch u. Andrea Stumpf, 2018 (The Price You Pay, 2018) – Besprechung hier in dieser Ausgabe.

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