Geschrieben am 1. Juli 2022 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2022

Bloody Chops – Kurzbesprechungen Juli 2022

Kurzbesprechungen von Hanspeter Eggenberger (hpe), Joachim Feldmann (JF), Sonja Hartl (sh) und Alf Mayer (AM):

Kaśka Bryka: Die Eistaucher
S. A. Cosby: Die Rache der Väter
James Ellroy: Allgemeine Panik
Peter Farris: Letzter Aufruf für die Lebenden
Max Korn: Talberg 1935
Max Korn: Talberg 1977
Max Korn: Talberg 2022
Manfred Rebhandl: Erster Mai
Barry Windsor-Smith: Monster
… more to follow …

Rasierklingen-Tränen

(hpe) Die beiden Männer leben in verschiedenen Welten. Der Afroamerikaner Ike Randolph hat nach Jahren auf der dunklen Seite des Lebens und im Knast den Aufstieg in den Mittelstand geschafft. Er besitzt eine gut laufende Firma für Rasenpflege mit einigen Mitarbeitern, ein Haus in der Vorstadt, wo er mit seiner Frau lebt. Der Redneck Buddy Lee Jenkins dagegen ist White Trash. Er lebt in einem Trailerpark, ist geschieden, schlägt sich von Job zu Job durch, hat ein schweres Alkoholproblem. Abgesehen davon, dass beide Zeit hinter Gittern verbracht haben, verbindet nur eines die Männer: ihre Söhne. Isiah Randolph und Derek Jenkins waren ein Paar, verheiratet. Die Väter, die deswegen mit ihren Söhnen gebrochen hatten, lernen sich bei deren Begräbnis kennen. Die Söhne sind ermordet worden, regelrecht hingerichtet.

Die Rache der Väter ist der etwas platte deutsche Titel des brillanten neuen Romans des afroamerikanischen Autors S. A. Cosby, der im Original poetisch-scharf »Razorblade Tears« heisst. Cosby machte ein Jahr davor Furore mit dem spektakulären Thriller »Blacktop Wasteland« um einen afroamerikanischen Fluchtfahrer im ruralen Virginia. Mit seinem Rachethriller legt er nun noch eine Schippe drauf.

Cosby gelingt es, eine komplexe Geschichte, in der er Rassismus, Homophobie und Fremdenfeindlichkeit messerscharf seziert, in einen ebenso rasanten wie brutalen und zugleich hoch emotionalen und zutiefst menschlichen Actionreißer zu gießen. Ein perfektes Noir-Meisterwerk, das über die Südstaatenliteratur hinaus Maßstäbe setzt!

Nachdem die polizeilichen Ermittlungen zum Schwulenmord nicht vorankommen, nehmen die beiden Väter, die sich eigentlich gar nicht mögen, die Sache gemeinsam selbst an die Hand. Beiden ist klar: Die Mörder ihrer Söhne werden das nicht überleben. Hier werden keine Gefangenen gemacht. Auf ihrer Jagd nach den Mördern nehmen sie auf niemanden Rücksicht. Bald bedroht eine Motorradgang die beiden älteren Männer. Die Gewalt eskaliert.

Neben aller Brutalität und Action lebt die Geschichte auch davon, wie den beiden ursprünglich ziemlich homophoben Vätern mehr und mehr aufgeht, wie falsch sie sich gegenüber ihren Söhnen verhalten haben. Und während man längst aufgehört hat, die Leichen zu zählen, nähern sich die beiden Männer bei allen Gegensätzen, die nie verschwinden, doch ein bisschen an.

Ihre Rache ist gnadenlos. Doch Ike Randolph muss sich eingestehen, dass ihn im Grunde etwas anderes antreibt: »Leute reden immer gern von Rache, als wäre das eine gerechte Sache, aber in Wahrheit ist es einfach nur Hass, der netter verpackt ist.«

S. A. Cosby: Die Rache der Väter (Razorblade Tears, 2021). Aus dem Englischen von Jürgen Bürger. ars vivendi Verlag, Cadolzburg 2022. 352 Seiten, 24 Euro. 

Verschärftes Southern Noir

(JF) Zwölf Jahre hat Hobe Hicklin eingesessen, nun ist er frei. Prompt überfällt er eine Bank, erschießt eine Angestellte und nimmt ihren Kollegen als Geisel. Warum er ihn nicht auch umbringt, weiß er selbst nicht. Charlie Colquitt heißt der junge Mann, der eigentlich Maschinenbau studiert und nur im Nebenjob hinter dem Schalter steht. Ungelenk und weltfremd ist er so ziemlich das krasse Gegenteil zum durchtrainierten Berufskriminellen Hicklin. Und doch verbindet die beiden mehr, als ihnen im Moment ihres unfreiwilligen Aufeinandertreffens bewusst ist.

Ein aktionsträchtiger Thrillerstoff, denkt man spontan, und einschlägig bewährt. Steigern lässt sich der Effekt noch, wenn dem ungleichen Paar nicht nur die Polizei, sondern auch düpierte Komplizen auf den Fersen sind. Ist das Ganze zudem in einer halbzivilisierten, ökonomisch abgehängten Gegend angesiedelt, wo es von religiösen Fanatikern, Crystal Meth-Süchtigen und Neo-Nazis wimmelt, haben wir es mit einer verschärften Variante des Southern Noir zu tun, jenem düsteren Sub-Genre der Spannungsliteratur, das oft zur Groteske und gelegentlich zur Selbstparodie neigt. Man denke an Autoren wie David Woodrell, Donald Ray Pollock oder Harry Crews.

Vor allem der 2012 verstorbene Crews war ein maßgeblicher Einfluss, als Peter Farris seinen Debütroman  schrieb (siehe meine Crews-Besprechung hier). Und der Yale-Absolvent und Metalmusiker erwies sich als talentierter Schüler. „Letzter Aufruf für die Lebenden“ ist perfekte Gewaltprosa, eine manchmal kaum zu ertragende Exkursion zu den Abgründen menschlichen Verhaltens. Die Lektüre zwinge uns, so der Autor Jon Bassoff in seinem Nachwort, „nach dem schmalen Grat zu suchen, der das zivilisierte Handeln von etwas viel Gewaltsameren und Unmenschlichem trennt“. Sie lässt uns aber auch über den nicht weniger schmalen Abstand zwischen Kunst und literarischer Konfektion nachdenken. 

Peter Farris: Letzter Aufruf für die Lebenden (Last Call for the Living. 2012). Aus dem Amerikanischen von Sven Koch. Polar Verlag, Stuttgart 2022. 423 Seiten, 16 Euro.

Macho-Noir

(hpe) Als erster veröffentlichte der amerikanische Undergroundfilm-Pionier Kenneth Anger eine Sammlung von Skandalen aus der Frühzeit Hollywoods in Buchform: Das Kult-Sachbuch »Hollywood Babylon« erschien 1959 in Frankreich und erst 1965 in den USA, wo es sogleich verboten wurde erst 1975 wieder erscheinen durfte. Jetzt kondensiert Starautor James Ellroy(»L. A. Confidential«), inzwischen über siebzigjährig, das babylonische Hollywood der Fünfzigerjahre in seinem Roman Allgemeine Panik.

Da treten reihenweise Filmstars und auch Politiker aus jener Zeit auf. Etwa John Wayne (trägt gerne Frauenkleider), Barbara Stanwyck (»mag ihre Partnerinnen frisch und ländlich blühend«), James Dean (lässt als »menschlicher Aschenbecher« Zigaretten auf seinem Körper ausdrücken), Burt Lancaster (hat in seiner Villa eine Folterkammer) und der junge Senator John F. Kennedy (sammelt Schamhaarlocken). Vieles von dem, was da breit oder beiläufig vorkommt, ist verbürgt, anderes beruht auf Gerüchten, manches ist frei erfunden.

Der sprühende Cocktail aus Sex und Verbrechen wird aus der Sicht von Freddy Otash erzählt, der seit seinem Tod vor fast dreissig Jahren in der Hölle schmort und sich nun mit dem Gestehen seiner Missetaten daraus befreien will. Er war zunächst ein korrupter Cop, wurde dann Mitarbeiter des Skandalblattes »Confidential«, für das er halb Hollywood verwanzte, wurde dann Privatdetektiv und Spitzel des Polizeichefs von L. A.: »Ich war der Höllenhund, vor dem ganz Hollywood kuschte.« Er erpresste Stars. Männern von Frauen, die sich scheiden lassen wollten, stellte er Fallen, um dann von Abfindungen und Unterhaltszahlungen Prozente zu kassieren.

James Ellroy versammelt in diesem furiosen Alterswerk noch einmal seine bekannten Obsessionen. Voyeurismus, Perversionen, korrupte Polizisten, kommunistische Verschwörungen, Nazi-Kult, Schmuddelfilme, Sexualmorde und Skandalblätter. Zeitgerecht gibt es sexistische, rassistische, antisemitische und homophobe Sprüche. Ellroys typisches Stabreim-Stakkato, das mal brillant, mal eher läppisch ist, war eine Herausforderung für den Übersetzer. »Schicke Schwule, jammernde Junkies und Alkis am Abgrund.«

Freddy Otash, der sich selbst als »Schamane der Schande« und »schmierige Ratte« bezeichnet, hat auch eine andere Seite: Er will Jungfrauen retten und getötete Frauen rächen. Schauspieler, sagt er, seien »allesamt allzu temperamentvoll und allesamt allzu sadistisch, immer und stets auf Kosten der Frau«. Doch deswegen wird Ellroy noch lange nicht zum Feministen. »Allgemeine Panik« ist ein Macho-Noir. Und das oft nicht jugendfrei, aber meistens vergnüglich. – Siehe auch die Besprechung von Ellroys Fotobuch „LAPD 53“ in dieser Ausgabe nebenan – d. Red.

James Ellroy: Allgemeine Panik (Widespread Panic, 2021). Aus dem Englischen von Stephen Tree. Ullstein, Berlin 2022. 431 Seiten, 26 Euro.

Wenn nicht die Hölle, dann das Fegefeuer

(JF) Kurz vor Ende des dritten Bandes und nach mehr tausend Seiten ist es so weit. Der Erzähler lässt einen Hund  bellen. Und zwar „von irgendwoher“. Was den routinierten Spannungsautor Oliver Kern, dessen abgrundtief finstere Talberg-Trilogie unter dem Pseudonym Max Korn erschienen ist, bewogen haben könnte, sich dieses berüchtigten Sprachklischees zu bedienen, gibt Anlass zur Spekulation. War es reine Nachlässigkeit oder ironische Absicht? Nicht umsonst dankt der Autor in einem Nachwort seinem Publikum dafür, es so lange in Talberg ausgehalten zu haben. Glücklich könne man sich schätzen, „dass es sich nur um eine fiktives Dorf“ handle. Und was macht das besser deutlich als eine locker eingestreute papierne Wendung mit langer literarischer Tradition?

Talberg also, ein erfundener Ort im Bayrischen Wald nahe der Grenze zu Österreich, ist, wenn nicht die Hölle zumindest das Purgatorium ohne Aussicht auf Erlösung. Denn wer hier aufwächst, trägt das Böse in sich. Freundlichkeit sucht man unter den Dorfbewohnern vergebens. Stattdessen herrschen Missgunst, Neid und Niedertracht. Bis hin zum Mord. Das ist Provinzgrusel vom Feinsten, süffig präsentiert.

Die drei Romane tragen Jahreszahlen im Titel: 1935, 1977 und 2022. Doch das dient nur der grundsätzlichen zeitlichen Orientierung. Wenn es Not tut, springt die Erzählung auch bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück, obwohl die Zeitläufte in Talberg nur eine periphere Rolle spielen. Die klaustrophobisch kleine Welt der Talberger ist und bleibt schlecht, so dass man fast hoffen möchte, die Naturkatastrophe, mit der Band 3 einsetzt, würde dem Ort den Garaus bereiten. Stattdessen bringt sie ein vergessenes Verbrechen ans Tageslicht. Und wir lesen gebannt weiter. Bis der Hund bellt.

Max Korn: Talberg 1935. Heyne Verlag, München 2021. 397 Seiten, 15 Euro.
Max Korn: Talberg 1977. Heyne Verlag, München 2022. 381 Seiten, 15 Euro.
Max Korn: Talberg 2022. Heyne Verlag, München 2022. 361 Seiten, 15 Euro.

Was ist damals passiert?

(sh) Bereits in ihrem Debütroman „Roter Affe“ hat Kaśka Bryla mit Elementen der Spannungsliteratur operiert, in ihrem zweiten Roman Die Eistaucher setzt sie das fort. Er hat sich ganz gut eingerichtet auf einem Campingplatz in Polen, der Ich-Erzähler in diesem Roman. Dann passiert, worauf er seit 20 Jahren gewartet hat: Ein Fremder taucht auf, der zu wissen scheint, was damals in Deutschland passiert ist, und er will dafür an ihm rächen.

Dieses Aufeinandertreffen mitsamt weiteren geheimnisvollen Vorgängen rund um den Campingplatz machen einen Handlungsstrang in diesem sehr feinen psychologischen Spannungsroman aus. In dem anderen geht es um die Jugendliche Ida, die eines Nachts mit ihren Freund*innen etwas beobachtet, was sie nicht hinnehmen können und eine folgenreiche Entscheidung treffen.

In abwechselnden Kapiteln und damit Perspektiven laufen diese Handlungsstränge aufeinander zu. Mit jedem Wechsel erfährt man mehr über die Gegenwart und Vergangenheit, dadurch durchzieht dieses Buch ein beständiges Gefühl der Spannung, der Suspense, auf das das, was damals im Einzelnen passiert ist und die Leben der Beteiligten verändert hat. Zu dieser kunstvollen Verknüpfung bis in kleinste Motive kommt eine große Empathie für die Lebenswirklichkeit der jungen Protagonist*innen, die im Zusammenspiel einen außergewöhnlichen, originellen und überzeugenden Erzählton entstehen lassen.

Kaśka Bryla: Die Eistaucher. Residenz Verlag, Salzburg-Wien 2022. 320 Seiten, 24 Euro.

Hier leben sie noch – und du, Kapitalismus, schleich di!

(AM) „Wo ist eigentlich das verschwendete Leben geblieben, frage ich mich an diesem herrlichen Ort. Die besoffene Schwermut, die jammernde Wehleidigkeit, das genussvolle Scheitern? … Wo das Sinnlose, das nicht Zielgerichtete? Wo sind überhaupt der Tagedieb und der Taugenichts hin verschwunden?“, fragt sich Manfred Rebhandl 2015, für die „Literarische Welt“ auf Joseph Roths Spuren in die Ukraine geschickt. Während sein Bruder Bernd als akademische Fachkraft Vernünftiges macht und in der FAZ oder bei Cargo Filmkritiken schreibt, hat Manfred Rebhandl ein Herz für die Nichtsnutze, lässt sie seine Kriminalromane bevölkern und lebt angeblich „zu Zwecken der Milieustudie in Wien“. Seine Figuren gehen zum Tabledance und in den Gemeindebau, leben nah oder direkt in der Gosse, sind nostalgische Kommunisten und Rote, Kleinkriminelle, Prostituierte, Sozialhilfebezieherinnen, Dealer oder Schnüffler wie Rock Rockenschmied, im Erstberuf Privatdetektiv, im zweiten rechte Hand im Pornokino: „Häng die Plakate für die Jack-Schleck-Retrospektive in die Schaukästen!“

Mit der Bibi aus dem Wiener Tatort würde Rock („nicht Rocky die Lusche, Rock wie der harte Schwanz in deiner Hose“) sich gut verstehen. Kunst- und Ästhetikbegriffe werden in dieser Welt anders definiert als bei Michelangelo, beim „Freitag“ oder der FAZ, wobei es Rock durchaus in den Kopf kommen kann, „dass man Eunuch noch nicht als Geschlecht beim Amt eintragen lassen kann“, als er gleich am Anfang einen Balkanmafioso an den Eiern hat. Dessen „übliches Handgepäck: Messer und Schlagring“ hat er ihm abgenommen. „Wer du?“, fragte er ihn „vielleicht eine Spur zu Balkanesisch“. Woraus sich ein Schlagaustausch über Diskriminierung ergibt. Überhaupt läuft der Diskurs bei Manfred Rebhandl zielsicher stets unter die Gürtellinie der politischen Korrektheiten und eigentlich wäre Erster Mai, der nun sechste Rock-Rockenschraub-Roman in zehn Jahren, so wie die andern fünf auch schon, ein klassischer Fall für Triggerwarnung. Alarmstufe Dunkelrot.

Beim Haymon-Verlag war so etwas auch eigentlich angekündigt. Stattdessen nun die lustvolle Überschreitung, und Sätze wie: „Als sie die Pfanne mit Eiern drauf servierte, wackelten ihre Melonen vor meinen Augen…“ oder „Zwei Schnauzbärtige, Typ Rumänen auf der Durchreise …“ oder allerlei Frivoles mit der Taxifahrerin Jacky, „ihr Arsch ein süßes, glänzendes Äpfelchen“, Hammer und Sicher auf die Pobacken tätowiert. Sie kommt aus dem Kongo, „kann alles, was Jackie Chan kann“, hat sie sich aus dessen Filmen abgeschaut. („Und Klavierspielen habe ich bei einer Hexe im Dschungel gelernt. Die lebte dort mit einem alten belgischen Konzertflügel in einem Affenbrotbraum.“ – „Echt jetzt?“ – „Believe it or not.“)

Rock kooperiert mit dem Polizisten Guttmann, der ihn dafür alle zwei Monate in seiner Asservatenkammer stöbern lässt, „und wenn es darin etwas gab, das mir schmecken könnte, dann nahm ich es mit: beschlagnahmte russische Brühe, beschlagnahmte Zigaretten, beschlagnahmtes Bargeld. Meinen mintgrünen Datsun hatte ich auch von dort, er hatte früher einem Zuhälter gehört.“ Den 280ZX muss er ab und zu durchlüften, könnte doch auch Dr. Angelika Mayr aka Biene Mayr von der Spurensicherung mal Passagierin sein. Dieses Mal geht es um Bauspekulation (grandios skizziert in den ersten fünf Absätzen dieses Romans). Die Sozialdemokratie am Abgrund hat einen Auftritt, die Proletarier aller Länder sowieso, ebenso eine Stadtzeitung namens „Schmetterling“. Und dann ist es ein Champagnerkorken, der bei einem Pferderennen die Wendung bringt…

Manfred Rebhandl: Erster Mai. Rockenschaub löst auf alle Fälle alle Fälle. Haymon Verlag, Innsbruck-Wien 2022. 176 Seiten, 12,95 Euro.

Der Schlaf der Vernunft …

(AM) Vier Evangelisten, jeder mit einem dicken und wegweisenden Buch auf den Knien über dem Kirchenschiff trohnend, das hat nun auch die Comic-Kunst. Zu „Rusty Brown“ von Chris Ware (358 Seiten, 18 Jahre im Werden), „Clyde Fans“ von Seth (20 Jahre, 478 Seiten) und „Berlin“ von Jason Lute (580 Seiten, 22 Jahre) kommt nun Barry Windsor-Smith mit Monster (368 Seiten, 35 Jahre im kreativen Entstehungsprozess) als der Vierte hinzu. Mit dem Kritiker Thomas Groh bin ich mir einig: „Monster“ ist eine der beeindruckendsten Graphic Novels der letzten Jahre.

Der seit 1971 in den USA lebende Brite Windsor-Smith (Jahrgang 1949) war eigentlich schon verstummt, Ankündigungen von Größerem wurde länger schon kaum mehr geglaubt. Bekanntheit hatte er durch seine Arbeit an Marvels „Conan the Barbarian“, 1970 bis 1973, erlangt – und an der Comicfigur Wolverine. Sein Opus Magnus, an dem er dreieinhalb Dekaden saß, zwischendurch verzweifelte und sich verrannte, begann 1984 als 23-seitige „Hulk“-Geschichte, wurde letztes Jahr Ende April bei Fantagraphics als sein erstes Buch in 16 Jahren veröffentlicht. Jetzt liegt der Band bei Cross Cult auf Deutsch vor, sensibel und kantig übertragen von Jano Rohleder & Rown Rüster. Im englischsprachigen Original wird stellenweise Deutsch gesprochen. Diese Textpassagen sind markiert, wo sie dramaturgisch relevant sind.

Die Geschichte beginnt 1949 in der Providence Township, Ohio, im Haus der Baileys, setzt sich 14 Jahre später in Los Angeles fort, wo Barry, der misshandelte Junge vom Anfang, sich bei der Armee meldet. Gegenschnitt zum Haus der McFarlands, ebenfalls in L.A., wo ein schwarzer Soldat von Albträumen gepeinigt wird. Innerhalb weniger Seiten sind wir in einer Frankenstein/Faust/ Captain America & Hulk-Geschichte, einem geheimen Militärprojekt der US-Regierung, nämlich der gott- und skrupellosen Fortsetzung eines Genetik-Programms, das im Zweiten Weltkrieg in Nazi-Deutschland den Anfang nahm. Sergeant McFarland, Baileys einziger Verbündeter und Beschützer, greift ein, als eine Kettenreaktion in Gang gesetzt wird, die sich der Kontrolle aller Beteiligten entzieht. Die Monster – ob real oder metaphorisch – vermehren sich, Schuld und Angst, Kalte-Kriegs-Hysterie und Gewalt regieren, die Katharsis wird zur moralischen Abrechnung. All dies im feinen, schwarzen Strich und der flächigen Kreuzschraffur von Windsor-Smith. Ein schockierend intensives, tief moralisches Monster-Buch, buchstäblich.

Barry Windsor-Smith: Monster (2021). Graphic Novel. Ins Deutsche übertragen von Jano Rohleder & Rown Rüster. Cross Cult, Ludwigsburg 2022. Großformat, 368 Seiten, 40 Euro.

Hier die Bloody Chops der letzten Monate

Juni 2022:
Stephen Mack Jones: Princess Margarita Illegal
Eryk Pruitt: Das schnelle Leben
Jacob Ross: Die Knochenleser

Mai 2022:

Louis Bayard: Der denkwürdige Fall des Mr Poe
William Boyle: Brachland 
Manfred Ertel: Akte B. Wenn die Möwen tiefer fliegen
Herbert Genzmer: liquid
Peter Heller: Die Lodge
Katoro Isaka: Bullet Train
Nick Kolakowski: Payback is forever
Mindy McGinnis: Lost – in der Wildnis hört dich niemand 
Mary Paulson-Ellis: Die andere Mrs. Walker 
Marie Rutkoski: Real Easy
Lilja Sigurdatóttir: Betrug

April 2022:
Mathijs Deen: Der Holländer
Ellen Dunne: Boom Town Blues
Horst Eckert: Das Jahr der Gier
Wolf Haas: Müll
Chang Kuo-Li: Der grillende Killer
Martin Maurer: Der Kreis

Loraine Peck: Der zweite Sohn
Samira Sedira: Wenn unsere Welt zerspringt
Leonhard F. Seidl: Vom Untergang
Brian Selfon: Nachtarbeiter

Deb Olin Unferth: Happy Green Family
David Heska Wanbli Weiden: Winter Counts

März 2022:
Massimo Carlotto: Und es kommt ein neuer Winter
Patrick Findeis: Paradies und Römer
Thomas Hoeps und Jac Toes: Der Tallinn Twist
Riku Onda: Die Aosawa Morde
Fabio Stassi: Ich töte wen ich will

Februar 2022:
Herbert Heinrich Beckmann: Es sind Kinder
Thomas Christos: 1966
Candas Jane Dorsey: Drag Cop
Candice Fox: 606 
Zhou Haohui: 18/4. Der Hauptmann und der Mörder
Michael Jensen: Blutgold
Josef Kleindienst: Mein Leben als Serienmörder
Denise Mina: Totstück
Alan Parks: Bobby March forever
Scott Thornley: Der gute Killer

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