Geschrieben am 1. März 2022 von für Crimemag, CrimeMag März 2022

Bloody Chops – März 2022

Kurzbesprechungen – fiction

Kurzbesprechungen von Günther Grosser (gg), Frank Rumpel (rum), Thomas Wörtchen (TW):

Massimo Carlotto: Und es kommt ein neuer Winter
Patrick Findeis: Paradies und Römer
Thomas Hoeps und Jac Toes: Der Tallinn Twist
Riku Onda: Die Aosawa Morde
Fabio Stassi: Ich töte wen ich will

À la Borges

(TW) Wüsste ich nicht, dass Fabio Stassi Italiener ist, bei einem blindfold-Test hätte ich darauf gewettet, dass Ich töte wen ich will (ja, ohne Komma) ein argentinischer Roman ist. Die Geschichte von dem sanften Sonderling Vince Corso, der in seiner römischen Dachwohnung Menschen für Geld mit Lektürehinweisen therapiert, und dessen Leben aus den Fugen gerät, als bei ihm eingebrochen und sein Hund vergiftet wird, stammt deutlich aus der Borges-Tradition, dessen Lieblingsdetektiv Max Carrados (erfunden von Ernest Brahma) ebenso blind ist wie Don Isidro Parodi, der Meisterdetektiv des allmählich erblindenden Borges, erschaffen zusammen mit Adolfo Bioy Casares unter dem gemeinsamen Pseudonym H. Bustos Domecq. Blinde spielen natürlich bei Ernesto Sábato eine Rolle, in seinem Roman „Sobre Héroes y Tumbas“, wobei ich gezeichnete Version des einschlägigen Teils daraus, „Informe sobre Ciegos“  von Alberto Breccia, dann schon ein bisschen vermisse, aber man kann nicht alles haben.

Anyway, all dies und eine sowas von Ödipus-Variante (ausgestochenen Augen, Sie wissen schon) wird in Stassis Roman aufgerufen, denn der gute Vince Corso, der eigentlich am liebsten Tag und Nacht bei seinem ins künstliche Koma versetzten Hund wachen würde, wird in eine Mordserie hineingezogen, die wiederum nach literarischen Mustern verfährt, resp. literarische Morde nachbaut. Diese Morde will man ihm, dem Buchtherapeuten unterschieben, in hämischer Absicht. Und wieder trommelfeuert es aus allen Rohren der Literaturgeschichte: Kafkas Straßenbahnlinie N°3, Carlo Emilio Gaddas Via Merulana (die mit der grässlichen Bescherung, wobei „der Große Lombarde“ auch Namensgeber von Stassis Kommissar Don Ciccio ist, die Figur bei Gadda ist natürlich auch blind), Diane Arbus, Melvilles Queequeg, Tomás Eloy Martínez, Juan Carlos Onetti und Rodolfo Walsh, (man sage nicht, Stassi sei literaturdogmatisch), García Marquez, Bulgakow, Robert Louis Stevenson, Albert Camus und so weiter. Die robusten Serienmorde (Kopf ab etc.) haben dann natürlich eine keinesfalls banale, sondern wieder einmal eine höhere philosophische Bedeutung: „Denn wenn Sie die These von der Literatur als einer Form der Erfahrung konsequent bis zum Ende denken, wird es Ihnen offensichtlich erscheinen, dass jeder Leser auch der tatsächliche Vollstrecker all dessen ist, was er liest, jeder einzelnen Gewalttat, die er ausübt oder erleidet, sogar bis zu jedem Mord. Sein innerster Wunsch ist nämlich, den Platz desjenigen einzunehmen, der schreibt“, erklärt der Chef der Mordbuben. „Bücher trösten und erlösen schon lange keinen mehr … Also ist der Moment gekommen, da sie ihre zerstörerische Kraft in der Welt verbreiten werden“. 

„Soziale Palingenese“, nennt er das: „Der Tod, der sich überall als Zitat einnisten kann“.  Mehr kann ich nicht verraten, das ist schon alles hart am spoilern, aber klar sein dürfte, in welcher Tradition Stassi (bei aller Realitätstüchtigkeit, die seine Straßenszenen und Kommentare zur politischen Lage Italiens erkennen lassen) steht: In der des gewollt nicht-realistischen, philosophisch bis metaphysisch grundierten Kriminalromans à la Borges & Co., in der das Imaginäre mehr zählt als das Reale.  Eine Tradition, die womöglich sinnvoller ist, als pamphletistische Kriminalliteratur mit Botschaft. Intellektuell wollüstig ist das auf jeden Fall, nur ein bisschen too much auf die Cognoscenti und Literarii gezielt. Kriminalliteratur nicht „von unten“, sondern von ganz oben.

Fabio Stassi: Ich töte wen ich will (Uccido chi voglio, 2020). Deutsch von Annette Kopetzki. Edition Converso, Bad Herrenalb 2022. 303 Seiten, 22 Euro. Verlagsinformationen.

Die Europäische Union und ihre Feinde

(TW) Es ist ein bisschen bedauerlich, dass die kriminalliterarischen Potentiale des Politik- und Wirtschaftsraums EU relativ selten genutzt werden. Dem niederländisch-deutschen Tandem Hoeps & Toes kann man diesen Vorwurf nicht machen. Sowohl ihre Arbeitsweise – Thomas Hoeps übersetzt die niederländischen Teile von Jac. Toes -, als auch ihr Personal ist europäisch quotiert. In Der Tallinn Twist ermittelt die Holländerin Marie de Vos für die Security Abteilung der EU und hat es u.a. mit Figuren aus Deutschland, Italien, Portugal und Österreich zu tun. Und mit Esten. Die Antagonisten sind dann folgerichtig und wenig überraschend Leute, die weiter östlich wohnen und denen viel an einer instabilen EU liegt. Deswegen gibt es auch in der EU-Mission, die nach Tallinn reist, um ein vorbildliches Projekt zur Wasserversorgung aus den gierigen Klauen der Privatwirtschaft zu befreien, einen Maulwurf, der mit allen Tricks und Rankünen versucht, die Mission scheitern zu lassen.

Das ist vorbildlich paneuropäisch gedacht, mit vielen, vielen Informationen und Hintergrundstories aus dem EU-Alltag gespickt. Fiese estnische Nationalisten, brutale Russen und eben ein Verräter, der so penetrant unschuldig aufgebaut wird, dass er auf den ersten Blick als Schurke zu erkennen ist, machen Marie de Vos das Leben schwer, mit dem sie nur knapp davonkommt. Die EU-Bürokratie als Spielfeld für eine schicke Spionagegeschichte, mit Luxus-Hotels, Luxus-Autos, Sterneküche, edlen Alkoholika und angemessenem Showdown auf einer Fähre nach Helsinki. Prima Production Design, inklusive Cliffhanger.

 Thomas Hoeps und Jac Toes: Der Tallinn Twist. Unionsverlag, Zürich 2022. 311 Seiten, 18 Euro.

Die Herkunft im Nacken

(rum) Schwierige Verhältnisse allerorten in Patrick Findeis neuem Roman. Kein Entkommen vor der eigenen Herkunft, die einem im Nacken sitzt und einen jederzeit einholen kann. Frankie hat es immerhin aus der fiktiven Sozialsiedlung (Ecke Paradies/Römer) in Heidenheim nach Stuttgart geschafft, wo er als Zahntechniker (ein Beruf, den auch der Autor zunächst gelernt hat) in einem Labor arbeitet, das kaum noch Aufträge bekommt. Sein Chef ist spielsüchtig. Nicht mal die Stromrechnung zahlt er noch. Wenn Frankie nicht an Brücken, Kronen und Füllungen frickelt, sitzt er daheim bei seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn, raucht, trinkt Dinkelacker und ist damit ganz zufrieden. Das ist seiner Frau deutlich zu wenig. „Ich glaube, du willst einfach nirgendwo hin, du willst nix besser machen“, sagt sie. Stimmt schon. Bewegung bringt Frankies alter Kumpel Danilo ins Spiel. Danilo ist Geldeintreiber geworden. Das passt, hat er doch ohnehin Probleme mit der Impulskontrolle. Und weil er meint, schwer krank zu sein, hat er heimlich 350 000 zur Seite geschafft, um seiner Ex-Frau Ellen (auch sie aus der Siedlung) und den drei Töchtern ein besseres Leben zu ermöglichen. Ellen aber will das Geld nicht. Also nimmt Danilo Frankie mit, eine vertrauensbildende Maßnahme, darf er sich ihr doch nicht mehr nähern. Das allein freilich ist nicht sein einziges Problem. Da ist noch die Wettmafia, der das abgezweigte Geld eigentlich gehört.

Erzählt wird das alles von einem Toten, einem, der sie alle bestens kennt, ein schöner Dreh in dieser Geschichte. Mit Danilo unterhält er sich direkt, ansonsten beobachtet, kommentiert er, rutscht immer wieder ganz nah ran an seine ehemaligen Freunde aus der Siedlung, erzählt von deren Kindheit in der schwäbischen Provinz, aber eben auch von all den versandeten Träumen und Hoffnungen, den limitierten Möglichkeiten, mal rauszukommen. Sonnenschein ist hier eher selten, das Setting nicht eben heiter. Alle rauchen, als gäb’s kein Morgen, um nur ja nicht reden zu müssen, wo es doch sowieso nichts zu sagen gibt. „Wir schweigen und warten, bis alle Träume vorbei sind“, heißt es da einmal. Mit diesem Realismus ausgestattet waten sie durchs Leben. 

Über acht Jahre hinweg hat der 1975 in Heidenheim geborene, seit Jahren in Berlin lebende Autor, der mit seinem Debüt „Kein schöner Land“ 2008 beim Bachmann-Wettlesen ausgezeichnet wurde, an dem Roman gearbeitet. Die Tonlage, die Perspektive, sagte er in einem Interview, änderte sich immer wieder, der Fokus auf die sozial Abgehängten jedoch blieb. Nüchtern und knapp, dabei mit viel Gespür für seine Figuren und all die  Zwischentöne erzählt Findeis von ein paar Jugendlichen, die versuchen, die Sozialsiedlung und die mit ihr verknüpften Vorurteilen und Strukturen hinter sich zu lassen. Später stehen ein paar Erinnerungen im Weg, alte Verbindungen, Erfahrungen, die Hoffnungen von damals. So ganz bekommt man sie eben nie los.

Patrick Findeis: Paradies und Römer. Verlag Liebeskind, München 2022. 206 Seiten, 20 Euro.

Durch die Minenfelder des Sozialen

(gg) Massimo Carlotto war als Mitglied der linksradikalen Gruppe Lotta Continua in den 1970er und 80er Jahren in einen der spektakulärsten Kriminalfälle Italiens verwickelt, saß sechs Jahre im Gefängnis und war fünf auf der Flucht. Seit 1995 hat er zahleiche Kriminalromane geschrieben, alle mit einem knallhart-kritischen Blick auf die verlogenen Seiten der italienischen Gesellschaft. Inzwischen sind seine Geschichten bitter ironisch geworden, er jagt kauziges Personal durch die Minenfelder des Sozialen. Zuletzt, in „Die Frau am Dienstag“ (2020), waren es ein abgehalfterter Pornodarsteller und ein sanftmütiger Transvestit, die ein Mord aus der Bahn wirft.  Jetzt, in “Und es kommt ein neuer Winter“, sind es die Bewohner eines norditalienischen Dorfes, wo die untreue Intrigantin Federica eine Lawine von unkontrollierbaren Ereignissen auslöst und ungebetene Gäste anlockt. 

Der kleine Wachmann Giavazzi, auf den alle herabblicken, spielt Schicksal und verrechnet sich, denn als Federicas Kapriolen die althergebrachten Dorfstrukturen bedroht, werden die Einflussreichen unruhig. Carlotto ist gnadenloser Moralist, schreibt süffisant aus den Perspektiven aller Beteiligten, die sich mit ihrer Gier nach Anerkennung, Macht oder einfach nur Geld gegenseitig bloßstellen und uns zu glücklichen Voyeuren eines bösen Spiels machen, bei dem nicht mehr zwischen Guten und Bösen sondern zwischen Trotteln und Schlaumeiern unterschieden wird. Federica tänzelt dabei ganz selbstbewusst auf der Grenzlinie in diesem hinterhältigen Campagna Noir.

Massimo Carlotto: Und es kommt ein neuer Winter. Folio Verlag, Bozen 2022. 222 Seiten, 22 Euro.

Das Geheimnis der Kräuselmyrte

(TW) Es gibt so Bücher, die deutlich eine literarische Versuchsanordnung sind, wie man topische Themen anders erzählen kann. Riku Ondas „Die Aosawa Morde“ ist so ein Fall. Eine ganze Familie wird durch einen heimtückischen Giftanschlag ermordet. Nur eine Person überlebt: Die blinde Tochter der Aosawas, Hisako. Ein Täter wird bald gestellt, er bringt sich um – und eine Menge Fragen bleiben offen. Bis Jahrzehnte ein Sachbuch über den Fall erscheint, das aber seinerseits eine eigene Agenda zu haben scheint, und keinesfalls „die Wahrheit“ enthüllt. Aber wo steckt sie, diese absolute, sicher Wahrheit?

Seit Akutagawa Ryūnosukes Kurzgeschichte „Rashomon“ und,  viel mehr noch, dem darauf basierenden Film von Akiro Kurosawa wissen wir, dass die japanischen Kultur dieses Thema – wer hat die Wahrheit – gerne ventiliert. Die Wahrheit liegt, grob gesagt, in den verschiedenen Perspektiven auf ein bestimmtes Ereignis. „Rashomon“ ist ein Traktat über Wertesysteme, die sich in angeblich „objektiven“ Beobachtungen konkretisieren. Riku Onda transponiert dieses Problem auf die ganz technische Erzählebene. Der Roman besteht hauptsächlich aus Dialogen und Erzählungen, wobei wir nur die Erzählstimme hören. Wir wissen aber nicht, wer die Erzählerin oder der Erzähler ist, und wir wissen auch nicht, wem irgendetwas erzählt wird, mit wem gesprochen wird. Dialoge werden zu Monologen verkürzt, das Gegenüber kann sich das geneigte Lesepublikum selbst denken – was im Verlauf der Geschichte immer etwas einfacher wird, weil manche Sprecher:innen und manche Dialogpartner:innen zunehmend identifizierbarer werden.  Das ist zunächst anstrengend, dann scheint sich ein Mosaik zusammenzusetzen, aber das ist nur eine Option, weil Onda dann noch einmal die Ebenen wechselt. Realität wird am Ende durch Visionäres oder Halluziniertes verdrängt, wo bei ein Kräuselmyrtenbaum eine entscheidende Rolle spielt. Ich mag ja solche Spiele, auch wenn ich hier passen muss: Ich verstehe das Buch nicht, auf jeden Fall nicht vollständig. Das mag an meiner Indolenz gegenüber spirituellen Theoremen liegen. Aber das wiederum ist kein Grund, es für nicht spannend zu halten. Au contraire. Experimente willkommen. 

Riku Onda: Die Aosawa Morde (Eugenia, 2005/8). Aus dem Japanischen von Nora Bartels. Atrium Verlag, Zürich 2022. 368 Seiten, 22 Euro.

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