
Kurzbesprechungen – fiction
Kurzbesprechungen von Hanspeter Eggenberger (hpe), Joachim Feldmann (JF), Alf Mayer (AM), Frank Rumpel (rum), Thomas Wörtche (TW):
Mathijs Deen: Der Holländer
Ellen Dunne: Boom Town Blues
Horst Eckert: Das Jahr der Gier
Wolf Haas: Müll
Chang Kuo-Li: Der grillende Killer
Martin Maurer: Der Kreis
Loraine Peck: Der zweite Sohn
Samira Sedira: Wenn unsere Welt zerspringt
Leonhard F. Seidl: Vom Untergang
Brian Selfon: Nachtarbeiter
Deb Olin Unferth: Happy Green Family
David Heska Wanbli Weiden: Winter Counts

Die Frau des Mörders
(rum) Seine Schuld ist erwiesen, das Motiv hingegen scheint der Täter selbst nicht zu kennen. Dabei hat er eine fünfköpfige Familie, zwei Erwachsene und drei Kinder, ermordet. Sie lebten in der Nachbarschaft in einem Dorf der Carmarc und kannten sich. Ein Gericht versucht zu klären, was es gewesen sein könnte, das ihn zu dieser Tat trieb, doch wirkliche Antworten bekommt es nicht.
Die Gerichtsverhandlung ist ein Teil von Samira Sediras Roman, der an einen realen Fall aus dem Jahr 2003 angelehnt ist. Damals brachte ein um sein Vermögen betrogener Bauherr die Familie des Bauträgers um. Der Täter war weiß, die Mordopfer schwarz. Diese Konstellation behält die in Algerien geborene, in Frankreich lebende Schauspielerin und Autorin Samira Sedira bei, erzählt ansonsten aber eine fiktive Geschichte – die im Kern aber um das Grundproblem auch des realen Falles kreist. Damals, sagte Sedira in einem Interview, sei es auch in der Berichterstattung nur um Neid als Tatmotiv gegangen. Aber kein Journalist habe den Mut gehabt, „den zugrundeliegenden, offensichtlich rassistischen Hass zu erwähnen, der in dem Fall durchaus eine Rolle spielte (…)“. Das holt sie nun nach.
Dafür hat sie eine ungewöhnliche Perspektive gewählt. Erzählt wird diese konzentrierte Geschichte von Anna, der Frau des Mörders. Sie sitzt als Besucherin im Gericht, hört, was der ihr bereits fremd gewordene Mann Constant sagt, rekapituliert ihre gemeinsame Zeit und das Verhältnis zu den später ermordeten Nachbarn. Die wohlhabende schwarze Familie Langlois war erst einige Monate zuvor in das Bergdorf gezogen, hatte sich dort ein stattliches Chalet gebaut und zu opulenten Grillabenden eingeladen. Auch Constant hatte sich zunächst mit Bakary Langlois angefreundet. Sie verstanden sich gut, bis sich etwas grundlegend verschob. Als die Erzählerin Anna dort als Putzhilfe anfängt rutschen sie und ihr Mann plötzlich ins gesellschaftliche Abseits, weil sie eine vermeintlich festgefügte Ordnung stören, nach der Weiße eben nicht für Schwarze arbeiten. Und dann hatte ihr Mann dem späteren Opfer Bakary auch noch Geld geliehen, das der wiederum in windige Investments investierte oder schlicht unterschlug.
Ob er ein Rassist sei, will der Richter vom Angeklagten wissen. Nein, sagt der, „aber ich habe es nicht ertragen, mich von jemanden über den Tisch ziehen zu lassen, der noch nicht einmal ein Landsmann ist.“ Mit jedem Eingeständnis bricht die Persönlichkeit des Täters weiter auseinander und zeigt, wie Neid, Verbitterung und Rassismus sein Denken fluteten. Dafür reichen zwei Entscheidungen – Putzjob annehmen, Geld verleihen. Und plötzlich spielt die Hautfarbe der Nachbarn eine Rolle, brechen übelste Ressentiments auf. Sedira reduziert ihre Geschichte auf wenige Szenen, in denen Anna jene Situationen ausmacht, die für ihren Mann wie Drehtüren auf die andere Seite waren, wo kontrastreich alle Gewissheiten auf den Kopf gestellt sind, sich alle Vorurteile bestätigen und in diesem Fall in ein monströses Verbrechen münden.
Samira Sedira: Wenn unsere Welt zerspringt (Des gens comme eux, 2020). Aus dem Französischen von Alexandra Baisch. Piper-Verlag, München 2022. 176 Seiten, 20 Euro.

Erfahrungssatte, große realistische Literatur
(JF) Shecky Keenan ist ein guter Mensch. Vor zwölf Jahren hat er Henry, den früh verwaisten Sohn einer Cousine, bei sich aufgenommen. Und nun bietet er auch der frisch aus dem Gefängnis entlassenen Kerasha, ebenfalls um ein paar Ecken mit ihm verwandt, ein Zuhause an. Eine „absolut wunderbare, perfekte Brooklyner Familie“, denkt er, „eine Gemeinschaft von Außenseitern“.
Shecky Keenan ist ein schlechter Mensch. Sein Geld verdient er mit illegalen Finanzdienstleistungen. Wer Geld vor dem Staat in Sicherheit bringen will, ist bei ihm an der richtigen Adresse. Wie seine Kunden an ihre Einnahmen gekommen sind, interessiert ihn nicht. Henry arbeitet bereits für den Familienbetrieb, und auch die geschickte Diebin Kerasha bekommt etwas zu tun. Das Geschäft floriert.
Doch dann verschwindet ein Kurier mit einer Tasche voller Geld. 250.00 Dollar, die einem lokalen Gangster gehören. Und das ist nicht das einzige Problem, mit dem sich die Keenan herumschlagen muss. Einige der unter falschen Namen laufenden Bankkonten, für eine erfolgreiche Geldwäsche unerlässlich, werden gekündigt. Außerdem scheint die Polizei der Firma auf den Fersen zu sein.
Nachtarbeiter, das Romandebüt des amerikanischen Juristen Brian Selfon, ist ein ambitioniertes literarisches Kunststück, ein erfahrungssatter Versuch über die moralische Ambiguität menschlichen Handelns im Gewand eines packenden Thrillers. Als ehemaliger Mitarbeiter des Bezirksstaatsanwalts von Brooklyn weiß der Autor, wovon er schreibt. Und schreiben kann er. Scheinbar mühelos gelingt ihm ein, dem facettenreichen Plot angemessen, multiperspektivisches und stilistisch avanciertes Erzählen. In diesem Zusammenhang ist die Übersetzungsleistung von Sabine Längsfeld nicht genug zu loben. „Nacharbeiter“ ist große realistische Literatur, jenseits aller Genregrenzen.
Brian Selfon: Nachtarbeiter (Nightworkers, 2021). Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Längsfeld. Goya Verlag, Hamburg 2022. 368 Seiten, 22 Euro.

Wattwürmer & Co.
(TW) Der Holländer von Mathjis Deen spielt in einer Gegend, von der man fasziniert sein kann – oder nicht. Ich persönlich bin kein großer Freund von Schlamm und Schlick, bin aber auch nicht lernunfähig und ambiguitätstolerant sowieso. Also ab in die schwarze Brühe:
Zwei Wattwanderer, Peter und Klaus, brechen zu einer fast unmöglichen Tour auf – sie wollen zu Fuß vom ostfriesischen Festland auf die Insel Borkum gehen. Der eine, Klaus, überlebt die Tour nicht, seine Leiche wird auf einer niederländischen Sandbank gefunden. Der andere, Peter, überlebt, hat aber deutliche seelische Schäden davongetragen. Allerdings erlaubt die Strömungssituation der Nordsee es nicht, dass die Leiche da angeschwemmt wird, wo sie letztendlich landet. Zumal eigentlich noch Aaron als dritter Mann hätte dabei sein sollen. Peter, Klaus und Aaron gelten als unzertrennliches Trio, große Autoritäten und Medienstars in der Wattwanderszene. Aaron allerdings macht gerade Urlaub in England, wo er sich rührend um seine kranke Frau kümmert. Und ein Herz und eine Seele waren die drei Männer auch nicht wirklich. Was also ist passiert?
Auftritt Liewe Cupido – genannt „Der Holländer“, ein deutscher Polizist, im Moment außer Dienst, der in Holland großgeworden ist, und deshalb prädestiniert ist, als „inoffizieller“ Ermittler zwischen den niederländischen und deutschen Behörden zu vermitteln. Denn es gibt kleinlichen Zank zwischen den Ländern: Lag Klaus´ Leiche auf deutschem oder holländischem Boden – Sandbänke sind ja nicht festbetoniert? Denn das wiederum definiert die Zuständigkeit in Bezug auf die Ermittlungen.
Der eigenbrötlerische Cupido, sensibel, empathisch und wortkarg, wühlt sich buchstäblich durch den Schlick. Nicht nur durch den des Watts, sondern auch durch die zwischenmenschlichen Beziehungen der drei Watt-Cracks und ihres sozialen Umfelds. Denn klar ist bei allen Unklarheiten: Ein Unfall war das nicht.
„Der Holländer“ ist ein Kriminalroman in Zeitlupe, dessen Qualitäten nicht unbedingt in der Raffinesse des Plots liegen. Viel mehr geht es um männliche und weibliche Egos, um die Küstenlandschaft, um ihre Bio- und Soziotope, um den Raum „Watt“ mit allen seinen Dimensionen, Gefahren und Schönheiten. Deen lässt sich Zeit, schaut genau auf Menschen und Natur, hat einen netten Sinn für Komik, vor allem, wenn er die verschiedenen Behörden nicht nur metaphorisch aufeinander krachen lässt. Die detailfreudige Genre-Malerei seiner Wattbilder kollidiert mit einem reichlich artifiziellen Mord-Plot, ohne dass man dabei von einem Roman über eine toxische Provinz reden könnte. Die gleichgültige Natur überspült bei der nächsten Flut die kleinen menschlichen Tragödien, weswegen ein unaufgeregter Fatalismus den Roman durchzieht. Eher ein Heimatroman mit Mord als ein waschechter Kriminalroman. Das kann man schon einmal machen, wenn man es so gut kann wie Mathijs Deen.
Mathijs Deen: Der Holländer (De Hollander, 2022). Deutsch von Andreas Ecke. mareverlag, Hambur, 2022. 264 Seiten, 20 Euro.

Der Vollstrecker im Reservat
(hpe) »Wenn es um das Recht der Weißen geht, ziehen die Natives immer den Kürzeren«, stellt der Icherzähler in Winter Counts von David Heska Wanbli Weiden nüchtern fest. Mit den Gesetzen und ihrer Anwendung gibt es in den Reservaten der Ureinwohner in den USA viele Probleme. Die lokale Tribal Police hat keine Kompetenz, Gewaltverbrechen zu verfolgen. Dafür ist laut Gesetz das FBI zuständig. Das interessiert sich aber in vielen Fällen nicht besonders dafür. So werden beispielsweise Vergewaltigungen, aber auch Kindsmissbrauch in der Regel gar nicht verfolgt.
Deshalb gibt es in den Reservaten private Vollstrecker, die im Auftrag von Opfern oder Angehörigen Bösewichten eine Abreibung verpassen. Virgil Wounded Horse, die Hauptfigur in »Winter Counts«, ist so ein Auftragsprügler: »Wenn das Rechtssystem versagte, kamen die Leute zu mir. Für ein paar Hundert Dollar übte ich in ihrem Namen zumindest ansatzweise Rache. Mein Beitrag zur Gerechtigkeit.«
Autor Weiden weiß, wovon er schreibt. Er ist zwar nicht im Rosebud-Reservat in South Dakota, aus dem seine Mutter stammt, aufgewachsen, doch auch als »Halbblut« engagiert sich der Rechtsanwalt und Professor für Native American Studies aus Denver für die Rechte der Ureinwohner. Er tut das auch in seinem ersten Roman. Dabei doziert er aber keineswegs, sondern packt die ganzen Informationen über das prekäre Rechtssystem in den Reservaten, über die Kultur der indigenen Bevölkerung der USA, über das Leben in einem Reservat in eine durchgehend packende und actionreiche Krimistory.
Virgil bekommt es dabei mit einer Bande von Heroindealern zu tun, die ihre Geschäfte ins Reservat ausdehnen will. Da gerät auch Virgils Neffe, dessen Vormund er ist, mitten ins dramatische Geschehen. Das Ganze wird aber nie zu einer simplen Gute-Indianer-vs-böse-Weiße-Geschichte. Auch die korrupten und kriminellen Natives im Reservat kriegen ihr Fett ab.
Weidens spektakuläres Romandebüt erregte beim Erscheinen in den USA nicht nur wegen seinem politischen Subtext Aufsehen, sondern vor allem auch wegen seiner literarischen Qualität. Das mit zahlreichen Auszeichnungen bedachte Buch besticht durch einen brillanten Plot, dank dem die komplexe und tiefgründige Story mit all ihren Bezügen zur Geschichte und Gegenwart der indigenen Bevölkerung immer fesselnd bleibt und nie schwerfällig wird. Und auch immer wieder Anlass zum Schmunzeln gibt: »Er hatte sich einen dünnen Schnurrbart wachsen lassen, dessen Farbe an das Arschloch eines Hundes erinnerte.« Zurzeit arbeitet David Heska Wanbli Weiden einem zweiten Roman um Virgil Wounded Horse.
David Heska Wanbli Weiden: Winter Counts (Winter Counts, 2020). Aus dem Englischen von Harriet Fricke. Mit einem Nachwort von James Anderson und einem Essay von Thomas Jeier. Polar, Stuttgart 2022. 464 Seiten, 16 Euro

Alarm in Scheune 8
(AM) Blurbs sind so eine Sache, der hier aber ist schön: „Entweder dieser Roman ist bereits eine Revolte, oder er hat das Herz, eine in Gang zu setzen“ (Kirkus Review). Leider vermochte ich nicht, meine Jurykollegen bei der Krimibestenliste für diesen subversiven Agrar-Raubzug-Roman zu entflammen, es ist wohl zu lange her, dass Edward Abbeys (eh erst spät, nämlich 2010 übersetzte) „Monkey Wrench Gang“ von 1975 Maßstäbe setzte, wie „Ökoterroristen“ dem System einen Schraubenschlüssel ins Getriebe werfen können.
War es bei Abbey eine wilde Anarchisten-Truppe, die im Südwesten der USA die Projekte derer in Schutt und Asche legte, die im großen Stil die Natur ausbeuten und zerstören, so sind es nun bei Deb Olin Unferth und ihrer Happy Green Family eine akribische Betriebsprüferin, eine frustrierte Farmerstochter, ein arbeitsloser Viehinspektor, 421 vegane Aktivisten, 60 Lkws und 900.000 mürrische Legehennen, die ihrer Befreiung harren. „Barn 8“ heißt der bei Wagenbach erschienene, charmant durchgeknallte Öko-Thriller im Original, Vonneguts „Slaughterhouse 5“ lässt ebenso grüßen wie die Marx Brothers oder Mae West, Upton Sinclairs grimmiger Fleischfabrik-„Dschungel“ aber ebenso dabei. Der Horror der Agrarindustrie findet hier grauslig schöne Bilder, die Zustände auf der Happy Green Family Egg Farm sind der Realität entlehnt. Das Dressing aber ist Literatur.
Deb Olin Unferth war mir erstmals 2007 mit der bei McSweeny’s erschienenen Kurzgeschichten-Sammlung „Minor Robberies“ und dann wieder mit „Wait Till You See Me Dance“ (2017) aufgefallen, beides Wunderkisten des kurzen, wilden, absurden Erzählens. Über ihre Zeit als Sandinista in Nicaragua hat sie ein Erinnerungsbuch verfasst („Revolution: The Year I Fell in Love and Went to Join the War“, 2011), diese Autorin hat es faustdick hinter den Ohren. Ich freue mich, dass sie nun erstmals übersetzt ist.
Deb Olin Unferth: Happy Green Family (Barn 8, 2020). Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Schaden. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022. Klappenbroschur, 282 Seiten, 20 Euro.

Spannung auf Band Drei
(JF) Am 12. Juli 1984 wurde München von einem verheerenden Hagelsturm heimgesucht. 70.000 Gebäude wurden beschädigt und 200.000 Autos zerbeult. Die gesamte Schadenssumme belief sich auf 3 Milliarden Mark.
Am 12. Juli 1984 setzt auch die eigentliche Handlung von Martin Maurers historischem Politthriller Der Kreis ein. Und das klingt so: „Es knallte und krachte. Erst zerbarst die Heck- und kurz darauf die Frontscheibe. Faustgroße Hagelkörner hüpften, kullerten und schossen wie Granaten herein.“ Kein Wunder, dass Kriminalkommissar Gruber sich an den Krieg erinnert fühlt. Dabei galt seine größte Sorgewenig vorher noch dem neu eingeführten Bußgeld bei Verstößen gegen die Anschnallpflicht. Dass er und seine Kollegen bald mit ganz anderen Problemen zu tun haben werden, ahnt er nicht. Der zweite Weltkrieg nämlich, von dem er allein vom Alter her nichts mitbekommen haben dürfte, ist nach fast vier Jahrzehnte noch längst nicht für alle zu Ende.
Gruber spielt allerdings nur eine Nebenrolle in diesem historisch akkuraten Roman. Die Hauptfigur ist, wie schon im Vorgängerband „Die Krieger“ (2020), der psychisch labile Ermittler Nick Marzek, dem es gemeinsam mit der italienischen Putzfrau Graziella Altieri gelungen ist, die rechtsextreme Terrorgruppe LUDWIG, der eine Reihe von Anschlägen in Italien und Deutschland zu Last gelegt wird, dingfest zu machen. Zumindest scheint es so. Doch es gibt zu viele Ungereimtheiten, und interessierte einflussreiche Kreise, die an einer weiteren Aufklärung kein Interesse haben. Währenddessen halten mysteriöse Morde, von denen exilkroatische Gemeinde Münchens betroffen ist, die Kripo beschäftigt. Auch hier greift Maurer auf reale Ereignisse zurück. Der jugoslawische Geheimdienst verfolgte Gegner des Tito-Regimes ohne Skrupel auch im Ausland, während die westdeutschen Behörden aus bis heute ungeklärten Gründen bestenfalls halbherzig ermittelten.
Im Mittelpunkt der Handlung scheint allerdings die unglückliche seelische Verfassung des Ermittlers zu stehen. Psychisch angeschlagen kam er von Berlin nach München, fing sich zunächst wieder, doch inzwischen veranlassen ihn Liebe und Eifersucht zu allerhand törichten Aktionen. Dass er Anlass hat, seinem besten Freund und Kollegen nicht zu vertrauen, macht die Sache nicht besser. Da fügt es sich gut, dass Maurer sich für ein offenes Ende seines Romans entschieden hat. Wer gut recherchierte Zeitgeschichte im Verbund mit aufregender fiktionaler Melodramatik mag, wird mit Spannung erwarten, ob ein dritter Band kriminalistisch und privat Klarheit bringt.
Martin Maurer: Der Kreis. Ein Fall für Nick Marzek. Dumont, Köln 2022. 400 Seiten, 18 Euro.

Rache für den Mord am großen Bruder
(hpe) Amy und Johnny Novak scheinen eine harmonische Ehe zu führen. Zusammen mit dem 12-jährigen Sasha zeigen sie das Bild einer glücklichen Familie in einem der westlichen Vororte von Sydney. Doch Johnny gehört zu einer kriminellen Familie, die aus Kroatien nach Australien eingewandert war. Amy ist in mittelständischem Milieu aufgewachsen. Johnny kümmert sich vor allem um eine Reihe von Fischläden, welche die Familie für die Geldwäsche betreibt. Er hat es bisher »geschafft, niemanden zu töten, und dabei soll es bleiben«. Doch dann wird sein großer Bruder Ivan erschossen. Und Johnny soll nicht nur dessen Rolle in der Familiengang einnehmen, sondern seinen Bruder auch rächen. Für Vater Novak ist klar: Das können nur die Serben gewesen sein.
Der zweite Sohn heißt der Debütroman der Australierin Loraine Peck. Bevor sie sich entschloss, Krimis zu schreiben, war sie unter anderem während 25 Jahren international im Marketing im Retail- und im Immobilienbereich tätig. Inspiriert zu ihrem ersten Roman hatten sie die Erzählungen ihres Mannes aus seiner Kindheit und Jugend in einer Familie von Kriminellen aus Kroatien. Er habe sich jedoch, sagte Peck in einem Interview, »bewusst dafür entschieden, von dem scheinbar einfachen Weg in die Kriminalität abzuweichen«.
Das möchte eigentlich auch Johnny Novak, der aber schon mitten in den Verbrechen steckt. Seine Frau drängt ihn zum Ausstieg, vor allem wegen dem Kind, das nicht auf den gleichen Weg gezwungen werden soll. Doch Johnny ist unter der Knute seines Vaters, der ihn dazu ausersehen hat, die angeknackste Ehre der Familie wiederherzustellen.
Loraine Peck erzählt die spannende und actionreiche Geschichte abwechselnd aus der Sicht von Amy und von Johnny. Damit bekommt der Gang-Thriller eine für das Subgenre ungewohnte Perspektive: die einer Frau, die das ganze Macho-, Ehre- und Rachegetue der Ganoven in der Familie für einen Vorwand hält, ihre kriminelle Energie auszuleben. Doch der Ausstieg daraus erweist sich als schwierig, und dies nicht nur wegen der Familie. Als Amy und Sasha von gegnerischen Gangstern entführt werden, muss Johnny seine Zurückhaltung ablegen.
Interessant ist in dieser Vorstadtgangstergeschichte der ethnische Hintergrund. Geprägt durch die Auseinandersetzungen in Ex-Jugoslawien führen die kroatischen und serbischen Einwanderer den Krieg gegeneinander in Australien weiter. Hier zwingen sie die Umstände aber auch einmal an einen gemeinsamen Tisch. »Wenn ich sie so im höflichen Gespräch zusammensitzen sehe«, denkt Amy, »wird mir die Idiotie dieser andauernden nationalistischen Feindseligkeiten einmal mehr bewusst.«
Loraine Peck mag in ihrem Debüt teilweise etwas in Klischees abgleiten. Doch auch wenn sie nicht auf dem Niveau einer Candice Fox oder eines David Wish-Wilson steht, verfügt sie über genügend Erzähltalent, um ihr Debüt zu einem interessanten Beispiel der blühenden Down-under-Krimiszene zu machen.
Loraine Peck: Der zweite Sohn (The Second Son, 2021). Aus dem Englischen von Stefan Lux. Suhrkamp, Berlin 2022. 424 Seiten, 16,95 Euro.

Der ewige Kreislauf
(rum) Man weiß, was man bekommt, wenn man einen Brenner-Roman von Wolf Haas zur Hand nimmt und das ist keineswegs despektierlich gemeint. Sie klingen nunmal ähnlich und liefern verlässlich schräge Geschichten. Ein paar Mal schon hat der Autor sich geschworen, das sei nun der endgültig letzte Brenner. Entsprechend segnete den Ex-Polizisten und Ex-Privatdetektiv ebenso wie den fortlaufend alles kommentierenden Erzähler der Romane (der erste „Auferstehung der Toten“ erschien 1996, der bisher letzte „Brennerova“ 2014) bereits das Zeitliche, aber nach Jahren standen sie dann doch verlässlich wieder auf. Zum Glück, muss man sagen, denn enttäuscht hat Wolf Haas noch nie – vorausgesetzt man mag diesen hoch drehenden, Alltagssprache imitierenden Erzählsound und stört sich nicht an den absehbaren Volten.
Im aktuellen Roman Müll ist Simon Brenner, in bisher vier Filmen vom Kabarettisten Josef Hader so prägnant verkörpert, dass er kaum noch anders denkbar ist, wohnungslos. Er schläft als „Bettgeher“, als Geist in den verwaist daliegenden Häusern von Leuten, die im Urlaub sind oder sowieso woanders wohnen. Sein Geld verdient er inzwischen auf dem „Mistplatz“, dem Wertstoffhof, wo alles seine Ordnung hat, bis dort Leichenteile auftauchen, die im Müllkreislauf freilich nichts zu suchen haben. „Wenn du schon am Anfang das Zeug in die falsche Wanne schmeißt, alles umsonst. Knie in Wanne 4, da kannst du von einem Kreislauf nur träumen. Menschliches Knie wäre natürlich, wenn schon, Biomüll. Wanne 19. Oder zur Not, zur äußersten Not von mir aus Kompost. Wanne 12. Also abgesehen davon, dass ein menschlicher Körperteil am Mistplatz sowieso nichts zu suchen hat, das muss ich hoffentlich nicht extra sagen. Menschliche Körperteile: Magistratsabteilung 45, Friedhöfe.“
Der Müllplatz erweist sich in diesem Roman als grandioser zentraler Handlungsort, von dem aus Brenner mit reichlich Haas’schem Personal zusammentrifft, sehr unkonventionell einigen Spuren nachgeht und dabei auf einen Organhandel stößt – auch eine Art Kreislaufwirtschaft. Zum Problem können da etwa die unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen werden: Während man in Österreich der Organspende widersprechen muss, ist in Deutschland die Zustimmung nötig. Wenn nun ein Österreicher in Deutschland stirbt, fragt da der wiefe Organhändler, „gilt dann das österreichische Recht oder das deutsche für seine Organe?“. Das Ganze hat der 1960 geborene Haas in einen veritabel aberwitzigen Plot gepackt und so ideenreich und pointiert wie selten erzählt. Das muss man erstmal hinbekommen, eine Reihe, die schon einige Male auserzählt schien, im neunten Roman mit solchem Schwung wiederzubeleben.
Wolf Haas: Müll. Hoffmann und Campe, Hamburg 2022. 288 Seiten, 24 Euro.

Eindrucksvolle Aufarbeitung
(JF) Während der Pöbel es sich bei Dunkelbier und Schinkenbroten gut gehen lässt, kommt dem Geistesaristokraten beinahe sein Frühstück hoch. Mit der einfältigen Masse im selben Zugabteil sitzen zu müssen, stößt dem Philosophen Oswald Spengler sauer auf. Zum Glück beflügeln prächtige Aussichten seine Gedanken. Er ist unterwegs ins oberbayrische Isen zum Forstrat Georg Escherich, dessen Bürgerwehr dem bolschewistischen Treiben Einhalt gebieten wird. Und nicht nur das. Gemeinsam mit dem Fürther Fabrikanten Gumbrecht planen Spengler und Escherich einen Mediencoup. Und das heißt im Jahre 1922, die Macht über die Presse zu erringen. Es gilt, die öffentliche Meinung auf einen national-republikfeindlichen Kurs zu bringen, während sich auf der anderen Seite des politischen Spektrums Kommunisten, Sozialdemokraten und Anarchisten über den richtigen Weg zu einer besseren Gesellschaft streiten und die rasant steigende Inflation immer mehr Menschen ins Elend stürzt.
Leonhard F. Seidls historischer Roman Vom Untergang führt zurück in eine Zeit politischer und sozialer Unruhen. Schauplatz der Handlung ist vor allem Fürth, damals ein Zentrum der deutschen Glasindustrie. Hier treffen der Spiegelfabrikant Georg Gumbrecht und Emma Hierer, Tochter des anarchosyndikalistischen Buchhändlers und Schriftstellers Fritz Oerter, aufeinander, und schon bald wird eine Affäre daraus. Dass der Unternehmer verheiratet und die Sekretärin mit dem Sozialdemokraten Max Schmidtill, der als Eintänzer seinen Lebensunterhalt verdient, liiert ist, feuert die beiden eher an. Doch dann kommt Emma durch Zufall dem geplanten Komplott auf die Spur und muss sich entscheiden, wohin sie gehört. Als Max einem Mord zum Opfer fällt, gibt es für sie keinen Zweifel mehr.
„Vom Untergang“ ist eine eindrucksvolle literarische Aufarbeitung eines wenig bekannten Kapitels aus der Geschichte der Weimarer Republik. Dass der sprachlich regional gefärbte Erzähltext immer wieder von einmontierten historischen Dokumenten unterbrochen wird, verleiht dem Roman Authentizität. Als Babylon-Berlin-Syndrom mag man hingegen die offenbar unvermeidlichen Sex-und-Kokain-Szenen verbuchen. Historisch verbürgt ist das Romanpersonal, nicht nur der konservative Erfolgsphilosoph Spengler („Der Untergang des Abendlandes“), sondern auch viele andere handelnde Figuren haben reale Vorbilder. Max Schmidtill wurde tatsächlich von einem Nazi ermordet, allerdings erst zwei Jahre später, wie der Autor in seinem Nachwort erläutert. Der Täter blieb, wie viele andere republikfeindliche Gewalttäter von rechts unbestraft. Der unermüdliche Aktivist Fritz Oerter, dem dieser Roman ein Denkmal setzt, starb 1935 vermutlich in Folge von Misshandlungen durch die SA.
Leonhard F. Seidl: Vom Untergang. Nautilus, Hamburg 2022. 243 Seiten, 18 Euro.

Wenn die Eiterbeule platzt
(AM) Aidan, einer der Protagonisten im dritten Ausflug für die deutsch-irische LKA-Polizistin Patsy Logan, hat keine Berufung, aber eine Hypothek. Schon gleich die erste Anekdote, nebenbei erzählt, sagt viel über ihn und seine Stadt, über Boom Town Dublin in den Jahren der Gier und dem, was heute noch davon übrig und noch an Gift in der Gesellschaft ist. „Die Stadt glitzert heute Abend. Funkelt wie die Augen eines Wahnsinnigen. Auf der Baggot Street nahe St. Stephen’s Green fädelt sich der Feierabendverkehr auf, glüht Bremslicht an Bremslicht, dünstet die Stadt Abgase aus allen Poren.“ Aidan steht im Stau, die Straßen voller Fußgänger, auf dem Weg zu Weihnachtsfeiern oder zur Girl’s night out. Aidan freut sich auf Samstag, geschlossene Gesellschaft, festes Menü mit sieben Gängen, offene Bar. 400 Kröten pro Nase. Die Plätze im Cottage Garden werden sonst Monate im Voraus verlost, Aidans Kanzlei aber hat das große Los, weil der Szene-Wirt ihr Klient ist. Immer mal wieder entwickelt er eine Schwäche für seine Mitarbeiterinnen. Wenn es dann Probleme gibt, kommt die Kanzlei Hogan, Black & O’Keefe ins Spiel.
Für Geld macht man in Boom Town Dublin alles. Kein Wunder also, dass das kippt. Boom Town Blues aus allen Rohren, die Ermittlung in einem Blausäure-Anschlag auf eine 24jährige Praktikantin der österreichischen Botschaft wird zum Skalpel, das diese Eiterbeule zum Platzen bringt. Ellen Dunne, in Salzburg geboren und südlich von Dublin heimisch geworden, schreibt mit anglophoner Lakonie, liefert aufgekratzte Krimikost. „Untreue Männer sind die eifersüchtigsten“, heißt es einmal. Jurgita, die Osteuropäerin aus dem Kat Club mit dem chamäleonhaftem Lebenslauf hat eine Haut, die viel empfindlicher ist als ihre Seele. Überhaupt liest man seit dem Überfall auf die Krim osteuropäische Biographien wieder genauer, ist mir an mir selbst aufgefallen. Auch dafür ist dies kein schlechtes Buch.
Ellen Dunne: Boom Town Blues. Ein Fall für Patsy Logan. Haymon taschenbuch, Innsbruch-Wien 2022. 316 Seiten, 13,95 Euro.

Der Stoff, aus dem Wirtschaftskrimis sind
(JF) Ein ehemaliger Minister mit Adelstitel, der sich nach dem unrühmlichen Ende seiner Karriere als Lobbyist betätigt. Ein sagenhafter Entrepreneur, der eine kleine Firma mit Schmuddelimage zum global agierenden Finanzdienstleister ummodelt. Und ein hartnäckiger Journalist, dessen Recherchen zur Bonität eben dieses Unternehmens von höchster Stelle behindert werden. Das ist der Stoff, aus dem Wirtschaftskrimis gemacht werden.
Wenn also Horst Eckert, einer der profiliertesten Autoren realitätsgesättigter Politthriller hierzulande, eben solche Figuren in seinem neuen Roman Das Jahr der Gier auftreten lässt, braucht es nicht einmal mehr den fiktiven Unternehmensnamen „Worldcard“, um zu erkennen, dass sich große Teile der Handlung dem brisantesten Finanzskandal der letzten Jahre verdanken. Während es aber im „wirklichen Leben“ noch lange dauern wird, bis, sollte es überhaupt dazu kommen, die wahre Geschichte von Aufstieg und Fall der Schwindelfirma Wirecard erzählt werden kann, präsentiert Eckert seine genrekompatible, aber nicht ganz unwahrscheinliche fiktionale Version. Im Einsatz ist zum wiederholten Male bewährtes Ermittlungspersonal, der Düsseldorfer Kriminalhauptkommissar Vincent Veih und seine Chefin, Kriminalrätin Melia Adan. Um die beiden zu involvieren, braucht es allerdings ein Gewaltverbrechen, in diesem Fall die nächtliche Attacke auf einen britischen Journalisten. Was nach einem rassistisch motivierten Überfall aussehen soll, entpuppt sich rasch als gezielter Anschlag. Und dass es sich bei dem Opfer um einen Jugendfreund der leitenden Ermittlerin handelt, sorgt für die im zeitgenössischen Kriminalroman offenbar unverzichtbare persönliche Betroffenheit.
Aber nicht nur auf der Seite des Guten agieren bekannte Figuren, auch der siniste Tristan Bovert, Geheimdienst-Beauftragter der Bundesregierung mit Verschwörungsambitionen, zieht seine Fäden. Und wieder einmal darf man staunen, wie sich bewährte Handlungselemente der Spannungsliteratur zu einem rasanten Thriller fügen, den man vor seinem effektvoll inszenierten Ende nicht aus der Hand legen mag.
Horst Eckert: Das Jahr der Gier. Heyne, München 2022. 430 Seiten, 13 Euro.

Leidenschaft für Schusswaffen
(JF) Kaum hat er seinen Auftrag erledigt, wird der professionelle Killer beinahe selbst zum Opfer eines Mordanschlags. Dass es ausgerechnet ein Freund und Kollege ist, der ihn töten will, ist nur eines der Rätsel, denen Alex Li, ausgebildeter Scharfschütze und ehemaliger Fremdlegionär, im Verlauf des taiwanesischen Thrillers Der grillende Killer auf den Grund gehen will. Außerdem muss er seine Haut retten. Also flieht er aus Italien, wo er sich eine Zivilexistenz als Koch aufgebaut hat, zurück nach Taipeh. Dort sieht sich Kommissar Wu, kurz bevor er seinen Ruhestand antreten kann, mit zwei mysteriösen Todesfällen konfrontiert, die der Aufklärung harren.
Selbstredend hängen all diese Verbrechen zusammen, und die Spur führt bis in die höchsten Militärkreise des Inselstaates. Bevor in den letzten zwei Kapiteln all diese komplizierten Verwicklungen aufgedröselt werden, geht es ziemlich rasant zur Sache. Chang Kuo-Li, ein vielseitiger Autor mit einer Leidenschaft für Schusswaffen, präsentiert sein unterhaltsames und für die Beteiligten lebensgefährliches Ratespiel emotional zurückhaltend, aber nicht ohne einen schrägen Sinn für Humor. Gegrillt wird übrigens nicht in diesem Roman, Alex Lis Spezialität ist gebratener Reis aus dem Wok. Für den deutschen Titel sind mindestens drei Jahre in der Wortspielhölle fällig.
Chang Kuo-Li: Der grillende Killer (Chao fan ju ji shou – The Stir-Fry Sniper. 2019). Übersetzt nach der englischsprachigen Ausgabe von Alice Jakubeit. Droemer Verlag, München 2022. 320 Seiten, 16 Euro.