
Kurzbesprechungen von Hanspeter Eggenberger (hpe), Joachim Feldmann (JF), Alf Mayer (AM), Marcus Müntefering (MM), Frank Schorneck (FS):
Louis Bayard: Der denkwürdige Fall des Mr Poe
William Boyle: Brachland
Manfred Ertel: Akte B. Wenn die Möwen tiefer fliegen
Herbert Genzmer: liquid
Peter Heller: Die Lodge
Katoro Isaka: Bullet Train
Nick Kolakowski: Payback is forever
Mindy McGinnis: Lost – in der Wildnis hört dich niemand
Mary Paulson-Ellis: Die andere Mrs. Walker
Marie Rutkoski: Real Easy
Lilja Sigurdatóttir: Betrug

Voller Empathie erzählt
(JF) Donnie Parascandolo verliert leicht die Kontrolle. Ob der Selbstmord seines Sohnes dafür verantwortlich ist, dass er Giuseppe Baldini von einer Brücke wirft, bleibt unklar. Eigentlich sollte er dem spielsüchtigen Lehrer bloß deutlich klarmachen, dass seine Schulden bei Tony Ficalora, einem örtlichen Mafioso, nicht länger gestundet werden können, doch dann geht wieder einmal sein Temperament mit ihm durch. So könnte man beschönigend sagen. Doch William Boyle, der Parascandolo zur zentralen Figur seines Romans Brachland gemacht hat, kommentiert sein Verhalten nicht: „Donnie wartet nicht einmal, um zu sehen, wie er sich im Wasser schlägt. Er steigt wieder ins Auto und sagt Pags, er solle ihn nach Hause fahren, er sei müde.“ Wie Parascandolo ist Pags Polizist, der dritte im Bund heißt Sottile. Ihre kriminellen Nebenjobs erledigen sie ohne schlechtes Gewissen. So scheint es zumindest.
Gravesend, Brooklyn. Juli 1993. Ein Jahr nach dem Mord ist Tony Ficalora Donnies einziger Boss. Die Polizei hat ihn entlassen, als er einen Vorgesetzten angegriffen hat. Seine beiden korrupten Kumpel arbeiten weiter wie bisher. Baldinis Schulden sind noch immer nicht beglichen, seine Witwe stottert sie in kleinen Raten ab. Die Sorge um ihren Sohn Mikey macht die Sache nicht besser. Der wird 21 und hat keinen Plan. Dass Parascandolo seinen Vater umgebracht hat, weiß er nicht. Sonst wäre er vielleicht vorsichtiger, als er mit dessen geschiedener Frau anbändelt, anstatt die Beziehung zu der gleichaltrigen Antonina aufzufrischen. Und das ist nicht die einzige seltsame Beziehung in dieser komplexen Geschichte von Liebe und Gewalt, an der noch einige Figuren mehr als die beschriebenen beteiligt sind. Denn „Brachland“ ist Milieustudie, Sittenbild und Spannungsroman zugleich. Erzählt in einem sachlichen Präsens, ohne Urteil, aber voller Empathie. Prima übersetzt von Andreas Stumpf. Und manchmal auch ziemlich komisch. Dafür sorgt Nick Bifulco, ein leicht peinliches Muttersöhnchen, das von einer Karriere als Drehbuchautor träumt und in Donnie Parascandolo den idealen Protagonisten für einen Filmstoff sieht, der Martin Scorsese und Robert DeNiro begeistern müsste.
Überhaupt das Kino. In seinem Nachwort zählt William Boyle vier seiner Lieblingsfilme auf, die für die Arbeit an diesem Roman wichtig waren. Alan Rudolphs Choose Me und Trouble in Mind, John Sayles‘ Stadt der Hoffnung und Elaine Mays Mikey und Nicky. Man möchte sie sich nach der Lektüre sofort ansehen.
William Boyle: Brachland (City of Margins, 2020). Aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf. Polar Verlag. Stuttgart 2022. 356 Seiten, 25 Euro. – Siehe auch das große Interview von Ulrich Noller mit William Boyle in dieser Ausgabe.

Bilderstarke Prosa
(JF) Allan Massie, selbst erfolgreicher Autor historischer Romane, fühlte sich in seiner Rezension für den „Scotsman“ an Wilkie Collins erinnert. Tatsächlich könnte die Familiengeschichte im Zentrum von Mary Paulson-Ellis‘ Debüt Die andere Mrs. Walker aus einem viktorianische Spannungsroman stammen. Der Vater verschwindet in Amerika und die Mutter in einer Nervenklinik, während die Kinder unter die Fuchtel einer gewieften Hebamme geraten, die illegale Abtreibungen vornimmt und gemeinsam mit einem zwielichtigen Partner ein florierendes Erpressungsgeschäft betreibt. Und das ist nur ein Teil der Handlung, die sich von 1929 bis 2011 erstreckt und fast nichts auslässt, was unterprivilegierten Frauen und Mädchen im 20. Jahrhundert widerfahren konnte. Allerdings folgt die Autorin nicht den Erzählmustern des klassischen Realismus, sondern gestaltet die Lektüre als Kombinationsaufgabe.
Weihnachten 2010 kehrt die 47-jährige Margaret Penny notgedrungen nach Edinburgh zurück. In London, wo sie nach dreißig Jahre gelebt und gearbeitet hat, hinterlässt sie verbrannte Erde. Mittellos findet sie Unterschlupf bei ihrer Mutter Barbara, die über das Wiedersehen alles andere als erfreut scheint. Als sich die Chance ergibt, durch die Ermittlung von Anverwandten mittellos Verstorbener ein bisschen Geld zu verdienen, zögert sie nicht lange. Ihr erster Fall ist eine Mrs. Walker, von der nicht einmal der Vorname und das Geburtsdatum bekannt sind. Aber Margaret Penny ist hartnäckig und einfallsreich. Allmählich fügt sich Puzzlestein an Puzzlestein, und wir ahnen schon, dass hier in eigener Sache recherchiert wird. Denn lesend sind wir der Ermittlerin immer einen Schritt voraus, versorgt uns die Autorin doch mit datierten Szenen aus der Familiengeschichte der Walkers, deren Drastik sich nicht immer auf Anhieb erschließt.
Paulson-Ellis schreibt eine symbolisch aufgeladene, stark rhythmisierte und bilderstarke Prosa, die von Kathrin Bielfeldt kongenial ins Deutsche übertragen wurde. Nicht selten liest man eine Passage mehrmals, um die Ungeheuerlichkeit ihres Inhalts zu begreifen. Da geht es uns nicht anders als Margaret Penny, dieser ungewöhnliche Detektivfigur, deren Stärke und Willenskraft bei der Erforschung der eigenen Familiengeschichte noch lange im Gedächtnis bleiben.
Mary Paulson-Ellis: Die andere Mrs. Walker (The Other Mrs. Walker, 2016). Deutsch von Kathrin Bielfeldt. Ariadne, Hamburg 2022. 439 Seiten. 23 Euro.

Im Museum menschlicher Absonderlichkeiten
(hpe) Sehen darf man alles. Anfassen aber ist verboten. So sind die Regeln im Stripclub Lovely Lady in einem ländlichen Vorort von Chicago. Unter dem Künstlernamen Ruby tanzt Samantha schon seit längerem dort, sie ist der Star unter den Tänzerinnen. Dafür muss sie sich von Kunden Sprüche anhören wie: »Du bist so schön, dass ich am liebsten nach Hause fahren und meiner Frau in die Fresse schlagen würde.«
Zu Hause will Samantha der kleinen Tochter ihres eifersüchtigen Freundes eine gute Mutter sein. Doch eines Nachts kommt sie nicht nach Hause. Sie hat sich anerboten, eine neue, junge Kollegin, die von Drogen derart high ist, dass sie nicht mehr arbeiten kann, nach Hause zu fahren. Ihr Auto wird später in einem Straßengraben gefunden. Die Spuren sind eindeutig: Sie ist absichtlich abgedrängt worden. Die junge Frau liegt tot in der Nähe, erwürgt. Samantha ist offenbar entführt worden.
Der erste Roman für Erwachsene der erfolgreichen Kinder- und Jugendbuchautorin Marie Rutkowski beginnt wie ein konventioneller «Whodunnit». Die Suche nach dem Frauenmörder, der höchst wahrscheinlich zuvor schon tötete, zieht sich zwar durch die ganze Geschichte, doch «Real Easy» bietet viel mehr als diese konventionelle Ebene.
Die Geschichte zeichnet schonungslos, gleichzeitig knallhart und empathisch, das Bild einer Gesellschaft, in der Frauen der Gewalt von Männern ausgesetzt oder von ihr bedroht sind. Dabei geht es, immer schlüssig eingebettet in die Handlung und nie dozierend, nicht nur um extreme Formen wie Mord, Entführung, Körperverletzung, sondern um jede Art von männlicher Machtausübung gegenüber Frauen. Also auch um sexistische und rassistische Sprüche und Verhaltensweisen. Um häusliche Gewalt. Um Benachteiligungen bei Bildung und Arbeit. Oder um den Druck des Clubbesitzers, der zwar immerhin die Finger von seinen «Künstlerinnen», wie er sie nennt, lässt. Zumindest zu lassen scheint.
Durch geschickt eingesetzte wechselnde Perspektiven fächert Rutkoski verschiedene Lebensläufe und Schicksale auf. Vor allem die von ein paar der Tänzerinnen. Aber auch die Geschichte einer mit dem Fall befassten Polizeidetektivin, die seit dem Tod ihres Kleinkindes durch die Fahrlässigkeit ihres Ex-Mannes traumatisiert ist. Sie und ein Kollege knien sich engagiert in den Fall, daneben gibt es auch korrupte Cops in der Truppe.
So entsteht statt, wie man ob der Ausgangslage befürchten könnte, kein simpler Ermittlungskrimi, sondern ein überraschend vielschichtiger Roman, der trotz aller Brutalität immer sehr feinfühlig bleibt. Am stärksten ist die Geschichte, wenn sie bei den Tänzerinnen ist, ihrem Leben, dem Konkurrenzkampf untereinander, der wenig Raum für Freundschaften lässt. Die Autorin, die heute Professorin für englische Literatur ist, kennt diese Szene: Sie hat in jungen Jahren selbst in einem Club getanzt. Solche Erfahrungen sind harte Lehrstücke: »Ständig passiert irgendetwas. Jede einzelne Nacht ist ein Museum menschlicher Absonderlichkeiten.«
Marie Rutkoski: Real Easy (Real Easy, 2022). Aus dem Englischen von Stefan Lux. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 400 Seiten, 14,95 Euro.

Des Menschen Wolf
(MM) Im Spätsommer 2019 verglühte einer aufregendsten Romane des Jahres, als er in Deutschland veröffentlicht wurde. Vom Feuilleton und vom Lesepublikum gleichermaßen ignoriert wurde Peter Hellers „Der Fluss“ hierzulande. Warum funktioniert diese Mischung aus nature writing und Spannungsroman nicht für deutsche Leser? Vielleicht weil ihnen die Anknüpfungspunkte fehlen, sie die referenzierten Klassiker nicht kennen, die Landschaften (und ihre Beschreibungen) für das deutsche Empfinden zu monumental sind, zu wenig Thüringer Wald? Jedenfalls ereilte ein Jahr später auch den ähnlich gewaltigen und furiosen (und dabei ungeheuer witzigen) Debüt „Cloris“ des jungen Texaners Rye Curtis ein ähnliches unverdientes Schicksal wie Hellers Buch.
„Der Fluss“, nicht zuletzt Hellers Hommage an James Dickeys von John Boorman kongenial verfilmten Klassiker „Deliverance – Beim Sterben ist jeder der Erste“ (deutscher Romantitel „Flussfahrt“), erzählte von dem Kanuausflug zweier Studenten durch eine (leider nur) fast menschenleere Wildnis, die in einer Katastrophe endet. Nur einer der beiden kann sich retten, und eben jener Jack, immer noch traumatisiert von den Ereignissen, ist der Held von Hellers neuem Roman Die Lodge.
Die Ereignisse, die jetzt auf ihn warten, sind alles andere als dazu angetan, dass er seine posttraumatische Belastungsstörung schnell wieder loswird. Dabei ist er doch extra in dieses abgelegene Luxusresort für Superreiche, die sich einen persönlichen Guide zum Angeln leisten können, gekommen, um ein wenig Ruhe zu finden (und dabei ganz ordentlich zu verdienen). Doch schnell merkt er, dass hier so einiges nicht stimmt. Die meisten Gäste scheinen sich überhaupt nicht fürs Angeln zu interessieren, ignorieren die spektakuläre Landschaft, und von ihren angeblichen Wellnessbehandlungen kommen sie alles andere als entspannt zurück.
Jack, der ansonsten auf einer Ranch mit seinem Vater Pferde züchtet, ist ein echter Cowboy-Typ, aufrecht und willensstark, allerdings mit einem Hang zu romantischer japanischer Poesie. Und sein Erfinder, Peter Heller, war so nett, ihm ein Cowgirl an die Seite zu stellen, die berühmte Countrysängerin Alison, in der er bald eine Seelenverwandte erkennt. Gemeinsam machen sie sich daran, das düstere Geheimnis des Resorts aufzudecken. Und nur soviel sei verraten: Beide sind überaus versiert im Umgang mit Waffen – was sich irgendwann als verdammt nützlich erweisen wird.
Wie in dem Vorgänger „Der Fluss“ nimmt sich Heller viel Zeit, bis er die Dinge doch noch turboeskalieren lässt. Mit einem schön verhangenen Blick lässt er Jack die Natur rund das Resort erkunden und vermittelt die Faszination des Fliegenfischens (und diverser Spielarten). Dabei gelingt es ihm, dass Naturbeschreibungen und Spannungsaufbau sich nur selten ins Gehege kommen. Stattdessen wirkt die Hölle, die Jack und Alison schließlich entdecken, vor dem Hintergrund der als paradiesisch geschilderten Natur umso entsetzlicher. Der Mensch ist des Menschen Wolf, so sagt man. Nur dass der Mensch viel schlimmer ist als jede Bestie.
Zwei Bemerkungen zum Schluss: „Die Lodge“ gehört zu den ersten Romanen, die einen wirklich sinnvollen Umgang mit der Coronakrise gefunden haben. Außerdem ist dem Verlag zu danken, dass für „Die Lodge“ mit Marlene Fleißig eine neue Übersetzerin gefunden wurde, denn die wahre Grandezza von „Der Fluss“ konnte man in der deutschen Version nur erahnen.
Peter Heller: Die Lodge. Aus dem amerikanischen Englisch von Marlene Fleißig. Nagel & Kimche, Zürich 2022. 272 Seiten, 24 Euro.

Raubzug durch Gangstergefilde
(AM) „Ich bin die dritte Leiche links“ war der Titel, den man sich 1972 bei Ullstein für den Hardboiled-Roman „Slayground“ von Richard Stark ausdachte. Das Schlachtfeld jener ultraschlanken, ultraschnellen von Donald E. Westlake unter Pseudonym geschriebenen Geschichte war ein für den Winter geschlossener Vergnügungspark, in dem sich der Gangster Parker (kein Vorname) nach einem fehlgelaufenen Überfall verschanzt. Die 24 Parker-Romane gehören zu den coolsten Hits der Kriminalliteratur. Sie sind und bleiben ewige Klassiker. (Siehe auch meine Besprechung über den Sammelband„The Getaway Car“ von Donald E. Westlake: Ein Autor, trotz Fluchtauto, dingfest gemacht, Oktober 2014.)
US-Autor Nick Kolakowski, den Sie bei uns auch als Autor der Kolumne „Smoking Gun“ kennen, zollt „Slayground“ und der Figur Parker in seinem Pastiche Payback is Forever augenzwinkernden Tribut. „His Name is Miller… He’s a professional thief …. Surrounded by killers and freaks!“, tönt das Cover. Seit 15 Jahren ist Miller im Job, derart schiefgegangen aber wie der Überfall auf einen Vergnügungspark ist noch keiner seiner Raubzüge. Keine halbe Seite, und wir sind – draußen schlägt es 2022 – mitten in einem Parker-Roman von 1960. Nick Kolakowski kennt seinen Parkerheimer aus dem Effeff (siehe auch den Text bei uns in dieser Ausgabe: With Parker, Donald E. Westlake Pulled Off Crime Fiction’s Most Spectacular Magic Trick).
Parker haust in New York auf der Avenue B (es gibt das Sprichwort, Jesus kam nur bis zur Avenue A) in einem winzigen Apartment, seine Matratze das größte Möbelstück. Zusätzlich zu seiner .25er kauft er sich eine .38er Smith & Wesson. Zwei Waffen zu tragen kommt ihm absurd vor, als wäre er ein gesetzloser Western-Outlaw, aber er fühlt sich damit ein wenig sicherer. Zu seinem Revier gehören auch der Strand Book Store, Ecke 12th Street und Broadway, und der Union Square, Gelegenheit für schöne Verweise auf die Book Row im unteren Manhattan und auf Bücher & Gewalt. Ein angeschossener Clown und seltsame Gestalten sind hinter Parker her, schnell ist er in einen Fall verwickelt, in dem – ein Urban Mythos des Nachkriegsalltags in N.Y. – ein deutsches U-Boot voller Gold und Undercover-Nazis (die sich bei Kolakowski als Regierungsbeamte tarnen) eine Rolle spielen. Gelegenheit für ein nettes Zitat: Gib jemand eine Waffe und er kann vielleicht eine Bank ausrauben, gib aber jemand einen Job in einer Bank oder beim Staat, dann kann er die ganze Welt bestehlen. Vielleicht, sinniert Miller, hat er mit seiner Räuberei doch den falschen Beruf gewählt… Jedenfalls nicht für dieses schnelle, sehr süffig geschriebene Buch, das am Ende mit einer echt pfiffigen Volte aufwartet. Das Verlagsmotto von „Shotgun Honey“, so der Name des Verlags, lautet „Fiction with a kick!“ – und das wird von Kolakowski auch geliefert. Bravo!
Nick Kolakowski: Payback is forever. Shotgun Honey, Charleston WV 2022. 156 Seiten, USD 11.95.

Fiese kleine Survivalstory
(FS) Es hätte eigentlich nur ein bierseeliges Zeltlager in den Smoky Mountains werden sollen – aber als Ashley ihren Freund nachts dabei ertappt, wie er sich mit einer anderen in den Sträuchern vergnügt, belässt sie es nicht dabei, ihm mit einem kräftigen Hieb die Nase zu verschönern, sondern rennt wutentbrannt weg. Dumm nur, dass sie sturzbetrunken und barfuß ist. Der Weg durchs Unterholz hat seine Tücken und ein Felsbrocken bremst sie äußerst unsanft. Als sie aus der Ohnmacht erwacht, gibt ihr Fuß mehr von seiner inneren Struktur preis als gut ist. Zudem stellt das Mädchen fest, dass sie offenbar weiter vom gekennzeichneten Weg abgekommen ist, als sie dachte.
Mindy McGinnis schickt in ihrem Roman ein taffes Mädchen in den Kampf mit der Natur. Ashley kommt zugute, dass sie bereits bei Jugendfreizeiten das Survivaltraining geliebt hat – auch wenn ihr Idol, der Jugendbetreuer Davy Beet, vor ein paar Jahren in eben diesem Nationalpark spurlos verschwand und für tot erklärt wurde. Sie ist eine Kämpfernatur, kommt aus sozial prekären Verhältnissen und hat sich als Cross-Country-Läuferin nicht nur ein Stipendium an einem College, sondern auch eine bemerkenswerte Kondition antrainiert. Das mit dem Stipendium wird sie sich abschminken können, denn im Laufe der Tage beginnt der verletzte Fuß übel zu riechen und Ashley muss sich der Tatsache stellen, dass sie sich von dem faulenden Gewebe trennen muss…
Für die angedachte Zielgruppe ab 14 Jahren schildert McGinnis recht farbenfroh und detailliert die Qualen, die Ashley durchlaufen muss, die Leser:innen sollten keinen empfindlichen Magen haben. Die Story ist fesselnd bis zum Schluss und bietet mit Flashbacks zudem Einblick in das Aufwachsen seiner Hauptfigur im Trailerpark – eine der Schattenseiten des amerikanischen Traums. Getragen wird der Roman von der sarkastischen Erzählstimme Ashleys, die bei allem Mitfiebern auch immer wieder Schmunzeln zulässt. McGinnis ist eine tolle Figur gelungen, der man gerne durch die raue Natur folgt.
Mindy McGinnis: Lost – in der Wildnis hört dich niemand (Be Not Far From Me, 2020). Deutsch von Kattrin Stier. Rowohlt rotfuchs, Hamburg 2022. 224 Seiten, 14 Euro.

Hochgeschwindigkeitszug
(JF) Fünf Killer in einem Hochgeschwindigkeitszug. Drei sind beruflich unterwegs. Das sind die mit den merkwürdigen Decknamen: Tangerine, Zitrone, Marienkäfer. Die anderen beiden haben private Motive. Brandgefährlich sind sie alle.
Erfunden hat das explosive Figurenensemble der japanische Bestsellerautor Kotaro Isaka. Und in einen rasanten Plot verwickelt, dessen Logik genretypisch zu wünschen übrig lässt. Einen McGuffin in Gestalt eines prall gefüllten Geldkoffers gibt es natürlich auch. Für einen aktionsträchtigen Roman lässt Isaka seine Pro- und Antagonisten – die Rollen wechseln je nach Perspektive – sehr viel reden. Es geht (unter anderem) um Weltliteratur, Philosophie und die Kinderserie „Thomas, die kleine Lokomotive“. Ob diese ebenso unterhaltenden wie belehrenden Dialoge einen Platz in der groß annoncierten Verfilmung mit Sandra Bullock und Brad Pitt gefunden haben, wird man spätestens beim Kinostart im Sommer feststellen können.
PS: Zeitweise halten sich mehr als fünf mordgeübte Fahrgäste, über deren Daseinszweck hier geschwiegen werden soll, in dem Zug auf.
PPS: Der Roman heißt im Original „Maria Bītoru“ (ungefähr „Maria Käfer“) und ist 2010 erschienen. Dass er mehr als ein Jahrzehnt später in englischer, französischer und deutscher Übersetzung unter dem Filmtitel erscheint, zeigt das wunderbare Wirken der internationalen Medienindustrie. Und ist in diesem Fall auch nicht zu kritisieren.
Katoro Isaka: Bullet Train (Maria Bītoru, 2010). Aus dem Japanischen von Katja Busson. Hoffmann & Campe, Hamburg 2022. 380 Seiten, 22 Euro.

Cleveres Pastiche, prächtige Unterhaltung
(JF) Der klassische Detektiv weiß sein Gegenüber zu überraschen. Dabei deutet er schlicht die Indizien, deren Signifikanz den meisten entgehen würde. So macht es Auguste Dupin, als er dem namenlosen Erzähler in Edgar Allan Poes Geschichte von den Morden in der Rue Morgue mitteilt, an wen dieser gerade gedacht hat. Oder Sherlock Holmes, der schon bei der ersten Begegnung mit Dr. Watson von dessen Einsatz in Afghanistan weiß. Auch August Landor, einst legendärer Ermittler bei der New Yorker Polizei, kann der Versuchung nicht widerstehen, dem armen Lieutenant Meadows, der ihn in seiner Eremitage aufsucht, intellektuelle Überlegenheit zu demonstrieren. Meadows ist im Auftrag von Sylvanus Thayer, Superintendent der Militärakademie West Point, unterwegs. Es gilt einen bizarren Todesfall, der auf okkulte Praktiken hindeutet, auf diskrete Weise aufzuklären. Denn West Point ist politisch umstritten und kann keinen Skandal gebrauchen. Landor scheint der rechte Mann für die Aufgabe zu sein. Unterstützung findet er ausgerechnet bei einem Kadetten von zweifelhaftem Leumund. Alkohol, Glücksspiel und ein fataler Hang zur Poesie haben den Ruf des jungen Mannes nachhaltig ruiniert. Sein Name: Edgar Allan Poe.
Louis Bayards historischer Kriminalroman Der denkwürdige Fall des Mr Poe ist ein ausgesprochen cleveres literarisches Pastiche. Landor selbst erzählt die Geschichte in einem angenehm antiquierten Ton, unterbrochen von den ebenfalls elegant formulierten Berichten seines Gehilfen Poe. Dass der zu untersuchende Fall ungeahnte Dimensionen annimmt, von denen die beiden Ermittler auch persönlich betroffen sind, versteht sich von selbst. Weniger leuchtet zunächst ein, dass es kaum echter Detektivarbeit bedarf, um Landor und Poe auf die richtige Spur zu bringen. Doch diese Merkwürdigkeit erklärt sich, wenn der Roman mit einer großartig inszenierten Überraschungslösung schließt. Und bis dahin hat man sich prächtig unterhalten.
Louis Bayard: Der denkwürdige Fall des Mr Poe (The Pale Blue Eye, 2006) Aus dem amerikanischen Englisch von Peter Knecht. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 492 Seiten, 16 Euro.

Die Bösen schlafen gut
(JF) Es klingt wie gute, unkonventionelle Politik. Eine Entwicklungshelferin, die in Krisengebieten gearbeitet hat, wird Islands neue Innenministerin. Da die parteilose Idealistin allerdings die Hauptfigur in einem Thriller mit dem Titel Betrug ist, ahnt die krimierfahrene Leserin schon, dass ganz andere, wenig sozialverträgliche Interessen hinter dieser Entscheidung stecken, und darf nun verfolgen, wie Úrsúla Aradóttir, so heißt die sympathische Heldin, allen widrigen Umständen zum Trotz Herrin der Lage wird.
Und das dauert. Denn die isländische Autorin Lilja Sigurdatóttir versteht ihr Handwerk und kennt die Erwartungen ihres Publikums. Also bietet das Buch bis zur Auflösung knapp 400 Seiten spannender Lektüre, die sich der bewährten Mischung spannungsliterarischer Strukturelemente, starker Identifikationsfiguren und alltagsrealistischer Verssatzstücke verdankt. „Die Bösen schlafen gut“ heißt ein finsterer Filmklassiker des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa. Wer hofft, dass dies kein Naturgesetz ist, findet sich in Lilja Sigurdatóttirs Thriller zumindest zeitweise auf unterhaltsame Weise bestätigt.
Lilja Sigurdatóttir: Betrug (Svík, 2018). Aus dem Isländischen von Betty Wahl. Dumont Verlag. Köln 2022. 398 Seiten. 17 Euro.

Zur Weltherrschaft verabredet
(JF) „Ach, das Volk.“ Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank hält nicht viel von dem angeblichen Souverän. Und er verleiht dieser Meinung auf eine Art und Weise Ausdruck, die seinem Gesprächspartner, immerhin Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, zumindest kurzfristig die Sprache verschlägt. Denn im Grunde teilt er die Meinung des Bankers. Es geht um nichts Geringeres als ein Verbot des Bargelds bei gleichzeitiger Implantation liquider Chips mit Kreditkartenfunktion. Der perfekte Plan, um ein totalitäres Herrschaftssystem zu etablieren. Und eine erstklassige Verschwörungstheorie.
liquid lautet der mehrdeutige Titel des futuristischen Romans von Herbert Genzmer, in dem sich Finanzwirtschaft und Politik zur Übernahme der Weltherrschaft verabreden. Er spielt im Jahre 2029, einer Zukunft also, die nahe genug liegt, um uns mit seiner bedrohlichen dystopischen Vision gehörig Angst einzujagen. Die Handlung beginnt in der Wüste New Mexicos, wo die Biochemikerin Madeleine Alberti, ohne es zu wissen, an der Entwicklung jener flüssigen Datenträger arbeitet, die für das zukünftige bargeldlose Bezahlen eine zentrale Rolle spielen sollen. Als sie herausfindet, worum es ihrem mysteriösen Arbeitgeber Celestia Limited wirklich geht, bleibt ihr nur die Flucht, organisiert von einem Drogenboss, der aus geschäftlichen Gründen nicht auf Barzahlung verzichten kann. Ihr Ziel ist Deutschland, wo sich inzwischen der Widerstand gegen das anstehende Verbot von Scheinen und Münzen formiert.
Aus diesem Stoff ließe sich durchaus ein zünftiger Thriller mit aufklärerischem Potenzial basteln, verfügte Genzmer über das dafür notwendige Handwerkszeug. Doch leider fremdelt der frühere Suhrkamp-Autor mit dem Genre. Davon zeugen die ausgiebigen didaktischen Exkurse ebenso wie der mäandernde Plot. Immerhin ist das Buch ein erneuter Beleg dafür, dass das Kompliment „besser als Literatur“, mit dem P. J. O’Rourke einst die Romane Carl Hiaasens bedachte, noch immer seine Berechtigung hat.
Herbert Genzmer: liquid. Solibro Verlag, Münster 2022. 427 Seiten, 20 Euro.

Multiperspektivisch
(JF) Köln 2016. Eine Frau stürzt von einer Rheinbrücke. Ihr Nachlass steckt in zwei Kisten, die ihrer Tochter in Hamburg zugestellt werden. Fotoalben, Postkarten und andere Erinnerungsstücke. Aber auch ein vergilbter Zettel, der nach einem Drohbrief aussieht. Die Tochter wird neugierig. Zwar lässt sich das Verhältnis zu ihrer Mutter bestenfalls als unterkühlt bezeichnen, wissen, was passiert ist, will sie dennoch. Zumal die Todesumstände ausgesprochen mysteriös sind. Die Nachforschungen beginnen.
Das ist, kurz skizziert, die Ausgangssituation in Manfred Ertels Politthriller Akte B.. Wer etwas über die zeithistorischen Hintergründe erfahren möchte, googelt einfach die Suchbegriffkombination „Barschel Waffenhandel DDR“ und wird fündig werden. Während der Tod des zurückgetretenen schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel im Oktober 1987 noch immer Rätsel aufgibt, ist seine Verwicklung in illegale Waffengeschäfte mit der DDR seit vielen Jahren bekannt. Der frühere Spiegel-Reporter Manfred Ertel gehört zu denen, deren Recherchen diese deutsch-deutsche Affäre ans Licht gebracht haben. Mit „Akte B.“ liegt nun eine fiktionalisierte Version dieser Skandalgeschichte vor, ein politischer Krimi um Korruption, Verrat und Mord. Denn auch als die DDR längst Geschichte ist, funktionieren die alten Seilschaften noch. Und wer die Vergangenheit nicht auf sich beruhen lässt, begibt sich in Gefahr.
Ertel erzählt multiperspektivisch und flott. Bis zur Ellipse verknappte Sätze prägen seinen Stil. Da merkt man die Schreibpraxis des journalistischen Profis. Das Ergebnis ist ein spannender Zeitroman mit viel Empathie für die Opfer der Geschichte. Und Abscheu für die Täter. Dass diese auch in der Fiktion wahrscheinlich ihrer Strafe entgehen werden, ist leider nur realistisch.
Manfred Ertel: Akte B. Wenn die Möwen tiefer fliegen. Ellert & Richter Verlag, Hambur, 2022. 378 Seiten, 18 Euro.