Geschrieben am 18. November 2022 von für Allgemein, News, Special Sozialberufe, Specials

Gekommen, um zu bleiben

Gekommen, um zu bleiben

Wenn auch eingeschränkt, kann die Begleitung der Ratsuchenden auch im Lockdown fortgeführt werden. Schnell werden die technischen Hürden für das mobile Arbeiten überwunden. Das ist richtig gut, nicht alle Einrichtungen haben diese Möglichkeit so schnell umgesetzt. Wir sind da ganz weit vorne mit dabei. So müssen wir die ohnehin schon belasteten Menschen nicht allein lassen. Gerade jetzt wäre dies undenkbar. Weiterhin können wir an ihrer Seite sein. Stark!

Auch die Kinderbetreuung zu Hause ist somit geregelt. Erleichterung. Bei uns zuhause befinden sich neben unserer Kernfamilie nun also auch noch Menschen in Wohnungsnot, mit Suchterkrankungen, schweren Traumata und akuten Gewalterfahrungen. Menschen mit besonderem Hilfebedarf und meist multiplen Problemlagen. Es kommen immer mehr dazu. Und jetzt sitzt auch noch das LKA an unserem Esstisch. Ich sehe und höre sie mittlerweile ständig – sie sind manchmal sogar lauter als die Kinder. Und das soll schon was heißen. Ich bin jedoch eine gute Gastgeberin und lasse sie bei mir verweilen. Bleibe engagiert und zugewandt. Wie man mich eben kennt und schätzt. Anschreien tue ich nur meine Familie.

Abends fragt mich mein Kind, ob sich die Frau, welche in ihrer Wohnung betäubt und gewürgt wurde, nun in Sicherheit befindet? Hatte ich nicht extra leise telefoniert? Verdammt, ich muss wirklich vorsichtiger werden. Aber so ist es jetzt einfach, wir machen uns eben alle Sorgen um unsere neuen Mitbewohner*innen. Und wieder hat unsere WG Zuwachs bekommen. Wie in der Supervision (über Zoom, ist ja klar) besprochen, räume ich nachmittags meinen Arbeitsplatz ein und verschließe die Sachen in meinen Schrank. Danach bitte ich die Ratsuchenden zu gehen. Aber sie bleiben. Shit. Sie gehen einfach nicht. Panik. Sie brauchen mich. Gerade jetzt. Wo sie doch sonst niemanden haben. Ohne mich wird es nicht funktionieren. Wann hört dieses verdammte Fiepen in meinem Ohr endlich auf?

Erlernte Strategien der Kompensationen aktuell nicht möglich. Was würde ich für eine durchtanzte Nacht geben? Kann mich vielleicht mal jemand in den Arm nehmen? Ach nee, stimmt ja… 

Ich sehe mich selbst, wie ich völlig lost unseren Flur auf und ab tigere, nach Luft schnappe, fast so wie damals, als die Geburtswehen einsetzten. Fremd geleitet, irgendwie. Der Beat stimmt jetzt überhaupt nicht mehr. Atmen.

Jetzt schreie ich nicht mehr ausschließlich meine Familie an.

Heute sind wir umgezogen. Alle. WGs sind einfach nicht mehr mein Ding.


Elin, Sozialarbeiterin, Hamburg

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