Geschrieben am 15. Mai 2010 von für Bücher, Crimemag

Phil Rickman: Mittwinternacht

Schöne Schauer

Was denn nun? Obwohl Verlage immer so emsig labeln und wacker nach Warengruppen sortieren, geht so was oft schwer daneben. Wie bei Phil Rickman. Henrike Heiland spricht ein ernstes Wort …

Liiiiiiiiiiiebe Verlage. Die Gothic Novel ist doch so ein schönes Genre. Und Marketing ist wirklich was, was Ihr könnt. Probiert’s doch mal. Setzt Euch zusammen und stemmt es gemeinsam. Im Oktober, wenn Buchmesse ist, zum Beispiel. Setzt Euch alle gemütlich an einen großen runden Tisch, vielleicht im Frankfurter Hof, da könnt Ihr Euch ein Tagungszimmer mieten. Die haben gutes Essen und guten Wein.

Und dann beschließt Ihr alle zusammen, wie Ihr das den Buchhandlungen und den Lesern am schönsten verkauft. Weil: Es gibt sie ja schon überall. Es gibt sie schon viel länger als den Krimi. Und sie verkauft sich doch auch. Und jetzt, wo dieses lästige Vampirgedöns immer noch nicht vorbei ist, obwohl Ihr es schon vor drei Jahren totsagen wolltet, also jetzt, wo die Leser immer noch nach Übersinnlichem und Gruseligem lechzen und davon gar nicht genug kriegen können, jetzt ist ein total prima Zeitpunkt. Was könntet Ihr Euch noch Kohle dazuverdienen. Ganz im Ernst. Gothic Novel! Da kann man doch was draus machen. Na?

… dieser Rickman

Zum Beispiel jetzt wieder dieser Phil Rickman. Hat eine Pfarrerin, Merrily Watkins, die manchmal Gespenster sieht. Die Pfarrerin hat eine Tochter, die sich sowieso schon mindestens mal aus Trotz für das Übersinnliche außerhalb des christlich-praktizierten Wahrnehmungshorizonts interessiert. Es wimmelt nur so von vermeintlich Übersinnlichem, von dem sich am Ende nur etwa die Hälfte (oder Dreiviertel, man müsste mal durchzählen) als wissenschaftlich erklärbar herausstellt. Geht man mit Krimimaßstäben dran, müsste man das Buch in die Ecke werfen, weil einige Hundert Seiten lang kein verdächtiger Todesfall im Mittelpunkt steht und auch keiner geplant zu sein scheint. Ja, es muss ja nicht immer jemand sterben, aber ein eingeschlagenes Kirchenfenster ist jetzt nicht sooo die relevante Straftat. (Der erste und einzige wirklich von der Polizei untersuchte Mordfall ereignet sich übrigens recht früh, hat aber für Merrily erst einmal keine Relevanz.) Trotzdem ist es spannend, aber spannend allein ist kein Krimimerkmal.

Worum geht es in der Mittwinternacht? Merrily, die hübsche junge anglikanische Pfarrerin (zu der Zeit, in der die Bücher spielen, war das mit den weiblichen Pfarrern noch eine gewöhnungsbedürftige Sache und brachte so manchen alteingesessenen Anglikaner dazu, zu den Katholiken rüberzuwechseln), wird vom Bischof als „Beraterin für spirituelle Grenzfragen“ eingesetzt. Das ist nicht mehr als eine hübsche Verpackung für das hässliche Wort „Exorzist“, und Merrily wäre damit die erste weibliche Exorzistin. Was ihrem Vorgänger, dem kauzigen alten Dobbs, gar nicht passt. Der will ihr dann auch gleich mal zeigen, wer hier die Exorzistenhosen anhat, und schickt sie zu einem besonders fiesen Fall, der sie noch lange Zeit heimsuchen wird.

Kelten und Geister

Parallel dazu entwickelt sich die zarte Geschichte um die noch viel zartere Moon, die sich in den Kopf gesetzt hat, ihr Quartier auf einem Hügel zu beziehen, der Ausgangspunkt einer uralten, den Kelten schon bekannten Energielinie ist. Hier tut sich einiges mit Geistern, die aus der Vergangenheit auftauchen, und Krähen, die tot vom Himmel fallen, und nicht lang, da liegt die wunderschöne Moon mit aufgeschnittenen Pulsadern in ihrer Badewanne.

Und noch ein Subplot: Jane, das ist Merrilys Tochter, zieht mit ihrer neuen Freundin Rowenna los, lässt sich bei der Esoterikmesse die Tarotkarten legen und wird dadurch immer tiefer in etwas hineingezogen, das sie nicht mehr kontrollieren kann.

Ja und dann tauchen die Satanisten auf und schänden eine Kirche. Und der Tote, der anfangs mal in einem Nebensatz erwähnt wurde, wird immer wichtiger. Und Merrily weiß bald schon nicht mehr, wer auf wessen Seite steht. Und alles wird immer, immer, immer undurchsichtiger.

Beleuchtet wird dabei ausführlich das Verhältnis der (modernen) Kirche zum Übernatürlichen. Auch die verschiedenen übersinnlichen Spielarten, von harmlos bis gefährlich, werden zumindest gestreift. Nicht jeder, der einen Geist herbeizaubern kann, ist gleich böse, und nicht jeder, der etwas trägt, was die Übersetzerin konsequent (wenn auch zunächst etwas irritierend) mit „Hundekragen“ übertragen hat, steht gleich auf der Seite der Guten.

Gothic goes cosy

Das ist alles sehr, sehr schön gemacht, so soll es sein. Very gothic, in einer very cosy Umgebung auf dem englischen Land unweit der walisischen Grenze. Grüne Hügel, mittelalterliche Städte und Kirchen, Nebel, Schnee und durchgeknallte Engländer. Phil Rickman hat weder das Schreiben noch das Genre neu erfunden – hier und da wurde ja behauptet, er gäbe dem Krimi eine ganz neue Ausrichtung, das ist natürlich Unsinn –, aber er beschert dem Leser ein paar schön schaurige Stunden. Noch schöner wäre ja, wenn der Leser von Anfang an wüsste, wohin die Reise geht, damit nicht dauernd auf eine Leiche oder wenigstens einen Tatort gewartet wird, den Merrily zentimetergenau absucht, während sie gleichzeitig Zeugen befragt und Verdächtige verfolgt. Und was vielleicht auch mal, so rein aus Neugier, interessant wäre: Warum ist das Buch erst zehn Jahre später auf Deutsch erschienen? Weil man Ende der Neunziger den übersinnlichen Quatsch noch für völligen Blödsinn erklärte, jetzt aber die Zeit danach ist? Na, fragen kann man ja mal.

Also bitte, liebe Verlage, das ist doch nur ein Beispiel, was man so als Gothic Novel vermarkten könnte. Da gibt es noch viele andere. Und die Bandbreite ist mindestens auch so riesig wie bei den Krimis. Gute und schlechte, dünne und dicke, lustige und ernste, alles da. Ihr könntet sogar noch mal die Klassiker auferstehen lassen, das wär doch mal was.

Und denkt doch auch mal an die Filmrechte. Die wärt Ihr ruckzuck los. Und was man sich bei den Covern erst alles erlauben könnte. Und die Veranstaltungen dazu! Ganze Gothic Festivals … Genug. Wir schweifen ab.

Wäre aber doch trotzdem mal eine Überlegung wert, hm?

Spooky, light

Und noch mal zu Rickman, um den es ja eigentlich hier gehen sollte (sorry, Sir): Schöne Schnitte. Schöne kurze Szenen. Schöne Spannungsbögen. Ein bisschen nervig der Versuch, die Tochterstellen mit Jugendslang zu versehen, das ewige „cool“ stört dann doch. Es könnte auch ruhig noch ein bisschen mehr spooky sein, heutzutage sind die Leser deutlich abgebrühter als damals bei Mrs. Radcliffe. Aber insgesamt hinterlässt das Buch einen guten Eindruck.

Und es ist eine Gothic Novel. Punkt.

Henrike Heiland

Phil Rickman: Mittwinternacht: Ein Merrily-Watkins-Krimi (Midwinter of the Spirit, 1999). Roman.
Aus dem Englischen von Karolina Fell.
Reinbek bei Hamburg: rororo 2009. 608 Seiten. 9,95 Euro.