Geschrieben am 4. November 2018 von für News, Specials, Verlust-Special 2018, Verlust-Special UNO

Alf Mayer über das „Verzeichnis einiger Verluste“

 

v14198201Nicht zurückholen, aber erfahrbar machen

Alf Mayer über das „Verzeichnis einiger Verluste“ von Judith Schalansky

Handschmeichlerisch fühlt dieses Buch sich an, die Anmutung wie ein Stück fein bemooster Marmor oder Schiefer, doch deutlich leichter, längst nicht so schwer, die Farbe ein nach oben von Grau ins Schwarz verlaufendes Moiré, die Schrift Silber. Ein wenig wie eine Grabplatte, aber ohne deren Trauer. Tatsächlich ist es ein seltsam heiteres, ein seltsam elegisches Buch – schön oft bis an die Schmerzgrenze. Eine Gegenrezeptur fürs Zeitalter des schnellen Vergessens. Was interessiert noch etwas von Vorgestern? Aber ja! (Textauszug in diesem Verlust-Special hier nebenan.) 

Zwölf Expeditionen unternimmt Judith Schalansky in ihrem „Verzeichnis einiger Verluste“, jede im Umfang von 16 Seiten, der alten Bücher- und Zeitungsbogengröße (die FAZ ist mittlerweile im Hauptteil auf 8 Seiten geschrumpft), die Kapitel je mit einem schwarzen Nachsatzblatt beendet, das neue mit dessen Rückseite eröffnet. Schwarz in Schwarz darauf eine zum Kapitel gehörende Abbildung gedruckt, man muss die Seite ins Licht halten, muss das Buch abwinkeln, um das Bild erkennen zu können. Eine interessante Variante des Verblassens, der Verflüchtigung und der Wiedererweckung. Judith Schalansky hat ihr Buch selbst gestaltet. 

schalansky cover 42824Wir begegnen so dem Kaspischen Tiger im Jahr 1899 im Zoologischen Garten von Berlin, dem Kupferstich eines Quedlinburger Fossils, einem Aquarell über Graphitstift der Villa Sacchetti aus dem Jahr 1760, einem Bruchstück des Papyrus Oxyrhynchus XV, einer Seite aus dem koptisch-manichäischen Codex aus dem 4. Jahrhundert, Caspar David Friedrichs „Hafen von Greifswald“ oder einer Selenografie von Gottfried Adolf Kinau von der nordwestlichen Region des lunaren Südpols, im August 1883 veröffentlicht in „Sirius. Zeitschrift für populäre Astronomie“. Ein Personenverzeichnis von etwa 140 Namen gehört zum Buch, darunter die Dichterin Sappho, Giovanni Piranesi, Emanuel Swedenborg, Walt Whitman und Billy Wilder, Homer, Horaz, Caruso, Jorge Luis Borges oder Abu r-Raihan A-Biruni (973 – 1048).

Die Erde als Archiv ihrer selbst

Alexander Kluge kann sich glücklich schätzen, Forscherinnen wie Judith Schalansky am Werk zu wissen. Seine Schule der assoziativen Fundgut-Ästhetik und Bewahrung von Kultur(sch)erbe(n) findet bei dieser Schriftstellerin eigenständige und vielfältige Fortschreibung. Auch ihr ist die Erinnerung ein Tausendfüssler im Labyrinth der Menschheit, eine zärtliche Kraft. Die Erde als Archiv ihrer selbst. 49 Bände umfasst mittlerweile die von ihr bei Matthes & Seitz herausgegebene Reihe Naturkunden, einer schöner als der andere – für mich neben der Anderen Bibliothek das auf- und anregendste und wichtigste Verlagsprojekt der letzten Jahre.

„Erzählen ist etwas anderes als Information“, dieser Kluge-Satz findet bei Judith Schalansky anregende Entsprechung. Als wäre es ganz selbstverständlich führt sie uns erzählerisch und ohne jede Peinlichkeit – eben: grandios – an die Gestade einer verschwundenen südlichen Cookinsel, wo die Ureinwohner diesen seltsamen europäischen Forschern begegnen, deren Begehren unklar bleibt. Aus einem römischen Amphitheater, wo Kaiser Claudius eine Kaspische Tigerin gegen Löwen antreten lässt, geraten wir an das Ende dieser ausgerotteten Tierart „in Dioramen vor staubiger Steppe“. Wir lesen den imaginierten Abschiedsbrief des verschollenen Botanikers und Selenografen C.A. Kinau (? – 1850), der einen Posten als Beamter auf dem Grundbesitz des Fürsten Schwarzenberg in Südböhmen innehatte, 1842 zwei Arbeiten zu giftigen Pflanzen und Pilzen veröffentlichte, sich mehr als dreißig Jahre als Freizeit-Astronom mit dem Mond beschäftigte und mit seinen topografischen Zeichnungen wegen ihrer Sorgfältigkeit Anerkennung fand. Aus F. W. Murnaus erstem Film, 1919 auf der Wasserburg Vischering im Münsterland sowie im Umland von Berlin gedreht, die Hauptrequisite ein dem Gemälde „The Blue Boy“ von Thomas Gainsborough nachempfundenes Bild, entwickelt sich eine sehr schräge Begegnung mit Greta Garbo in Manhattan. „Das Schloss der Behr“ ist eine Rückkehr in die eigene DDR-Kindheit auf dem Dorf, unsentimental und genau.

giraffe 421777,6 Milliarden Menschen gegen 3000 Tiger 

Für den „Hafen von Greifswald“ (das Gemälde von Caspar David Friedrich wurde 1931 in einem Feuer zerstört) sucht sie die Quelle des im Greifswalder Bodden mündenden Flusses Ryck. Diese Erzählung einer Naturerkundung beginnt mit dem Satz: „Das Schwierige ist nicht, den Ursprung zu finden, sondern ihn zu erkennen. Ich stehe an einer Weide, in der Hand eine Landkarte, die mir nicht hilft. Vor mir liegt ein Graben, das Wasser nicht tief, sein Lauf höchstens einen halben Meter breit, die Oberfläche bedeckt von einem löchrigen Teppich gelbgrüner Wasserlinsen.“ Was hat sie erwartet? Eine Hinweistafel? Eine sprudelnde Quelle? Drei Wochen folgt sie dem Graben, eine beschwerliche Wanderung durch das Rycktal, skrupulös und bildhaft und voller Naturbezeichnungen. Thoreaus Wanderung nicht auf Kap Cod (CulturMag-Besprechung hier), sondern in Mecklenburg-Vorpommern. Jeder Schritt einer gegen das Vergessen und Verlieren – siehe dazu auch Robert Macfarlanes „Die verlorenen Wörter“, ebenfalls in diesem Verlust-Special besprochen. Judith Schalansky im Gespräch mit Meredith Haaf: „Wir haben uns da so ein tolles Wort ausgedacht: Biodiversität. Reden wir doch mal von dieser unglaublichen Vielfalt: Jeden Tag stirbt mindestens eine Tierart aus. Wir sind 7,6 Milliarden Menschen, und uns stehen etwa 3000 Tiger gegenüber.“

Wie alle Bücher sei auch das ihre „von dem Begehren getrieben, etwas überleben zu lassen, Vergangenes zu vergegenwärtigen, Vergessenes zu beschwören, Verstummtes zu Wort kommen zu lassen und Versäumtes zu betrauern“, schreibt sie in ihrem Vorwort. Sie weiß: „Nichts kann im Schreiben zurückgeholt, aber alles erfahrbar werden.“ Bei ihr, in diesem Buch, wird das unmittelbar. In vielen hundert, ja tausendfachen Facetten. Noch einmal Alexander Kluge: „Die Authentizität ist immer fragmentarisch. Der Mensch ist noch nicht entworfen als Ganzheit. Allerdings sind schon Millionen Jahre vor uns, in der Evolution, Elemente entwickelt worden, die durchaus Zusammenhänge bilden und von denen leben wir.“

Das alte Thema der Menschheit, so Judith Schalansky: Wir wissen immer erst, was uns die Dinge wirklich bedeuten, wenn sie weg sind. Das Paradies kommt nicht erst nach dem Tod. Das hier war es schon.

Wem dieses Buch beim Lesen nicht ans Herz wächst, der hat keins. Nicht einmal eins aus Stein.

 

Alf Mayer, Journalist & Literaturkritiker, Kurator dieses Verlust-Specials, Autor des Ed McBain-Readers „Cops in the City“ (zusammen mit Frank Göhre, von beiden bald auch „King of Cool. Das Elmore Leonard Lesebuch“) und Redakteur von CrimeMag, verfügt über zahlreiche Verlusterfahrungen, hat unter anderem mit Alexander Kluge gearbeitet, kommt vom Bauernhof und lebt in Bad Soden am Taunus. Seine CulturMag-Texte hier.

 
 
Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. Hardcover, Fadenheftung, Gestaltung: Judith Schalansky, mit 14 Abbildungen. 252 Seiten
, 24 Euro.  
Verlagsinformationen, Lesetermine und weitere Informationen hier.

PS.: Anlässlich dieses Buches ist im Magazin der „Süddeutschen“ ein sehr gutes Interview von Meredith Haaf erschienen, das hier ausdrücklich empfohlen wird: „Wir glauben immer, mit uns beginnt die Zeit neu.“

hoch v1024px-Straw_Hat,_Bag,_and_Umbrella_A30052Aus dem Interview: „Ich habe fünf Jahre an diesem Buch gearbeitet, während dieser Zeit starb meine Großmutter. Als meine Mutter ihr Haus ausräumte, hat sie, ohne mich zu fragen, den Großteil der Diasammlung ihrer Eltern weggeworfen. Ich bin total durchgedreht und dachte, das kann doch nicht wahr sein: Ich schreibe hier über Bilderstürme, und meine Mutter wirft einfach diese Dias weg!“ 

Frage: Warum waren Ihnen diese Dias so wichtig?

„Das waren zum Beispiel Urlaubsdias aus Sotschi. Meine Mutter meinte: Da waren doch nur Palmen drauf. Ich bin von klein auf von Palmen besessen. Ich habe lange um die Novelle getrauert, die ich über diese Bilder und meine Palmenliebe hätte schreiben können – bis mich eine Freundin darauf brachte, dass die viel interessantere Geschichte doch davon handeln müsste, warum meine Mutter diese Fotos loswerden wollte. Gegenstände können sehr mächtig sein. Es gibt diese Kartons, in denen Menschen Dinge sammeln, die eigentlich nur Referenzen der eigenen Geschichte sind. Dieser Trieb lässt mit der Digitalisierung nicht nach, im Gegenteil.“

 

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