Geschrieben am 1. Juni 2022 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2022

Wozu dichten (6): Günter Rinke zu Wolfdietrich Schnurre

Gedichte als Beschwörungen – Der Lyriker Wolfdietrich Schnurre

Wolfdietrich Schnurre, Jahrgang 1920. Wer ihn noch kennt, denkt wahrscheinlich an den Humoristen, der vom Berlin seiner Kindheit erzählte: Als Vaters Bart noch rot war ist sein bekanntestes Buch, bekannt vor allem deshalb, weil manche Erzählungen daraus in Lesebüchern zu finden sind. Mit seinem auf Heiteres verweisenden Namen spielte Schnurre selbst: Weihnachts-Schnurren, Schnurre heiter heißen Bücher von ihm.

Aber er hat eine ernste Seite. Seine Hauptwerke, die Aufzeichnungen Der Schattenfotograf (1978), der Roman Ein Unglücksfall (1981) und Erzählungen wie Das Begräbnis, Das Manöver, Steppenkopp und viele andere, sind dieser Seite zuzurechnen. Begleitend zu seinem Prosawerk schrieb er über Jahrzehnte Gedichte, die er keineswegs als Nebenprodukte seiner Arbeit ansah. Eher als notwendige Ergänzungen. Er verstand sich als „seismographisch arbeitenden Gedichteverfertiger“[1]. also als Dichter, der feinste Erschütterungen seiner Umgebung wahrnimmt und in lyrische Formen bringt. Seine Gedichte beruhen auf präziser Beobachtung, vor allem der Natur, und haben damit eine ausgesprochen sinnliche Qualität.

Das heißt aber nicht, dass sie Natur bebildern – dem steht Schnurres Streben nach äußerster Verdichtung entgegen. Lyrik hat für ihn „Kapsel-Charakter. Umschließt, was man meint. Preßt bis zu kristallinischen Formen zusammen.“[2]Der Wiedergabe von Natureindrücken geht ein Reflexionsvorgang voraus, der die Verschlüsselung des Wahrgenommenen und in Sprache Gebrachten, zu Versen Geformten zur Folge hat. Dass verschiedene Sinnebenen in einem Wort verschränkt und verknüpft werden (nicht selten ist das Wort eine Neuschöpfung, ein bislang nicht gehörtes Kompositum), ist sicher kein Alleinstellungsmerkmal von Schnurres Lyrik. Spezifisch sind vor allem die von ihm gewählten Bildbereiche, mit denen er uns immer wieder konfrontiert: Pflanzen, Tiere, organische Vorgänge, darunter vor allem Tod und Verwesung, diese wiederum oft als Folge kriegerischer Gewalt, aber auch das (Wieder-) Geborenwerden, Aufblühen, Wuchern und Überwuchern gehören dazu. Natur kann Zivilisation überwältigen, und sie wird es auf lange Sicht vielleicht überall tun.

Manchmal ist das ganz schlicht und lapidar ausgedrückt:

Wahrheit[3]

Ich war vierzehn, da sah ich,
im Holunder aß eine Amsel
von den Beeren der Dolde.

Gesättigt, flog sie zur Mauer
und strich sich an dem Gestein
einen Samen vom Schnabel.

Ich war vierzig, da sah ich,
auf der geborstenen Betonschicht
wuchs ein Holunder. Die Wurzeln

hatten die Mauer gesprengt;
ein Riß klaffte in ihr,
bequem zu durchschreiten.

Mit splitterndem Mörtel
schrieb ich daneben: „Die Tat
einer Amsel.“

Schnurres zentrale Erfahrungen, die er literarisch bearbeitete, waren die Kindheit mit seinem allein erziehenden Vater, einem Tierpräparator und Ornithologen, der ihm die Natur nahebrachte, und seine Teilnahme am Zweiten Weltkrieg, aus der ihm ein tief sitzendes, fundamental empfundenes Schuldgefühl erwuchs. Dieses wiederum brachte ihn dazu, sich intensiv mit dem Judentum zu beschäftigen, dessen Grundschriften zu lesen und, nach diversen Vorarbeiten, den Roman Ein Unglücksfall zu schreiben, in dem er die Frage nach der Schuld eines Deutschen gegenüber einem jüdischen Ehepaar auf unerhörte, erschütternde Weise zuspitzt. Wie im Roman zeigt Schnurre auch in lyrischer Verdichtung, dass Schuld nicht nur aus einem aktiven Tun, sondern auch aus Passivität oder Abwesenheit entstehen kann:

Epitaph[4]

Hier,
diesen Stein:
dem Brauch
der Väter folgend,
legte ich ihn dir
jetzt gern
aufs Grab, zu zeigen,
ich war da.
Jedoch,
wo war ich,
als zum Grab
der Ruß die Winde
sich erkor;
und haben Steine
Flügel?

Epitaph, für Walter Jens ein „vollkommene[s] Gedicht“ [5], stellt ein jüdisches Grabritual dar und reflektiert es. Auf Gräber legen Juden bekanntlich nicht Blumenschmuck, sondern kleine Steine. Das lyrische Ich tut dies „dem Brauch der Väter folgend“. Die Formel legt den Schluss nahe, dass es sich um eine Person jüdischen Glaubens handelt, die jemanden ehrt, der diesen Glauben teilte. Ob das angesprochene Du ein Mann oder eine Frau ist, wird nicht gesagt. Das Hinlegen des Steins ist nicht nur eine Ehrenbezeugung an jemanden, der dort begraben wurde, sondern auch ein Zeichen der Anwesenheit. Ein Mitmensch hat sich auf den Weg gemacht, um des oder der Verstorbenen zu gedenken. 

Das Gedicht ist zweigeteilt. Das Adverb „Jedoch“ markiert die Zäsur. Auf den Aussagesatz des ersten Teils folgt eine Selbstbefragung des lyrischen Ichs. Das Tempus wechselt: Das Präteritum löst das Präsens ab. Statt der schlichten Schilderung eines Vorgangs wird nun ein poetisches Bild gebraucht. Der Ruß erkor sich die Winde zum Grab. Die Ermordeten wurden in den Krematorien in Ruß verwandelt. Sie fanden ein Grab in den Lüften und können nicht mehr besucht und durch das Hinlegen eines Steins auf ihre Grabstätte geehrt werden. Steine haben keine Flügel, sie können nicht auf Luftgräber gelegt werden.

Das lyrische Ich, vielleicht doch nicht dem Judentum zugehörig, fragt sich, wo es war, als dies geschah. Es war abwesend und hat sich durch seine Abwesenheit schuldig gemacht. Hat es überhaupt das Recht, einen Stein auf das Grab zu legen? Der Blick geht zurück zur Beschreibung des Vorgangs, und plötzlich ist man sich nicht mehr sicher, was wirklich geschah. Ist „legte“ eine Vergangenheitsform, die ein tatsächliches Geschehen beschreibt, oder handelt es sich um einen Konjunktiv, eine Wunschform, die nur so klingt wie ein Präteritum? Das würde bedeuten, dass die den Epitaph sprechende Person gern einen Stein auf das Grab gelegt hätte, jedoch dazu nicht das Recht zu haben glaubte, weil sie damals, als das große Unrecht geschah, nicht da war, um einzugreifen oder mitzuleiden.

Im Schattenfotograf setzt Schnurre sich in dreizehn Thesen mit dem bekannten Diktum Adornos[6] auseinander, es sei barbarisch, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben.[7] Nicht die Lyrik als solche solle schweigen, meint Schnurre, sondern nur eine bestimmte, harmlose Erbauung versprechende und scheinbar Ewigkeitswerte vermittelnde Lyrik. In These 12 fasst er zusammen: „Was also soll der heutige, nach Auschwitz schreibende Lyriker tun? –: Mit lotender Intuition, sensibler Intelligenz und magnetischem Assoziationsmaterial, Auschwitz im Rücken, den Menschen vor Augen, Gedichte machen, die, statt die Sicht zu vernebeln, für Klarheit am Hirnhimmel sorgen.“[8] Damit ist der Lyriker in der Bonner Nachkriegsrepublik ein unbequemer Außenseiter, da er sich „in dieser Zeit der perfekten Verdrängung […] noch ein empfindsames Sensorium bewahrt hat“[9].

Schnurre plädiert zwar für Aufklärung durch Gedichte, jedoch nicht für Gedankenlyrik. Anlässe für das Schreiben von Gedichten sind für ihn überwiegend ganz konkret: „Die Mundstellung im Gesicht eines Fischs. Der Blick in ein Vogelauge. Ein Baumkeim, der einen Riß ins Pflaster gesprengt hat. Regen, der auf Rhabarberblätter trommelt. Die Viertelstunde vor einem Gewitter. Kindheitserinnerungen. Gerüche. Angst vor Träumen. Furcht vorm Tod. Zorn. Trauer. Schuldgefühl. Liebe.“[10] Erst die letzten Punkte der Aufzählung bezeichnen Gefühle und keine ganz konkreten Wahrnehmungen, die für Schnurre sehr oft zum Anlass für das Dichten werden.

Gedichte gelten auch solchen Menschen, die Literatur lesen und schätzen, als schwierig und schwer zugänglich. Gerade das Gedicht aber braucht, so meint Schnurre, „den Partner, den Erkenner, den Deuter“[11]. In „Formel und Dechiffrierung I“[12] gibt er einen Einblick in seine Arbeitsweise und zugleich Hinweise darauf, wie eines seiner Gedichte, es heißt Toter Soldat, zu deuten ist. Nach dem sinnlosen, mit Floskeln und Ehrenzeichen verbrämten Tod des Soldaten verrichtet die Natur ihre Arbeit. Das Gedicht beginnt mit den Versen: „Nur noch den Asseln pfeifen unterm Stein, / daß sie die Panzer rasseln lassen, / und im Turm aus Sand / der Feuerkäferschütze am MG.“ Wie in „Panzer“ (der Assel, Kriegsgerät) werden im ganzen Gedicht die Bedeutungsebenen Krieg / Natur enggeführt bzw. verschränkt. „Der kahle Eichenoffizier hat ausgedient, / im hohlen Stammbaum steigt der Staub […].“ Das Eichenlaub, das Kragenspiegel von Uniformen und Schulterklappen höherer Offiziersränge ziert, ist jetzt gefallen und verfault, die Eiche hohl. Am Ende lebt „nur was beinlos ist und ohne Hand“, der Wurm erledigt seine Arbeit, nachdem die Hand sich nicht mehr hochrecken oder Waffen bedienen kann. Es sei kein Gedicht, das Soldaten in den Schmutz zieht, schreibt Schnurre abschließend, sondern „ein Gedicht über einen in den Schmutz gezogenen Menschen; ein Gedicht gegen den Tod“[13].

Von bedrängender Aktualität ist das Gedicht Gefängnis Shitomir 1944[14]. In dem ukrainischen Ort soll ein Mann erschossen werden. Bis zu seinem Tod singt er ein Sehnsuchtslied von einer blauen Lagune und Möwen, von Heimweh und einer weinenden Liebsten. Das zuhörende lyrische Ich, vielleicht ein Soldat, der das Gefängnis bewacht, zieht daraus die Lehre, solche nur scheinbar kitschigen Lieder nicht mehr zu verachten. Auch sie können eine Humanität bezeugen, die sich von Macht und Gewalt nicht einschüchtern lässt. 

Schnurre fasst Gedichte als Gefäße für „Beschwörungen“[15] auf. In einem Gedicht beschwört er die Poeten, mit dem Dichten nicht aufzuhören, weil sie mit ihren Liedern für die Mächtigen unbequem sind. Vielleicht sind sie es, weil sie in poetischen Bildern an die Schwächen der Mächtigen und ihrer Gehilfen erinnern:

Aufruf[16]

Dichtet.
Der Kaiser
hat die
Liedeinsammler
geschickt.

Mühsam, die
Ehrenwerten,
gehen sie
über die Felder
und gegen 
den Wind an.

Gedenkt
ihres ungeeigneten
Schuhwerks.


[1] Wolfdietrich Schnurre: Nachwort. In: Kassiber und neue Gedichte, München 1979, S. 189-191, hier: S. 189.

[2] Ebd. S. 190.

[3] Schnurre, Kassiber, S. 88.

[4] Ebd., S. 103.

[5] Walter Jens: Nachwort zu: Wolfdietrich Schnurre: Kassiber. Neue Gedichte; Formel und Dechiffrierung, Frankfurt/M. 1964, S. 135-142, hier: S. 142.

[6] Vgl. dazu: Wolfgang Johann: Das Diktum Adornos: Adaptionen und Poetiken,  Rekonstruktion einer Debatte, Würzburg 2018.

[7] Wolfdietrich Schnurre: Der Schattenfotograf, München 1978, S. 454-457. Die Thesen sind auch abgedruckt in der Anthologie „Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter“, hg. v. Petra Kiedaisch, Stuttgart 1995.

[8] Ebd., S. 457.

[9] Wolfdietrich Schnurre: Wozu noch Gedichte? In: Gelernt ist gelernt. Gesellenstücke, Frankfurt/M.; Berlin; Wien 1984, S. 137.

[10] Schnurre, Anmerkungen zum Gedicht. In: Schreibtisch unter freiem Himmel, Olten und Freiburg i.Br. 1964, S. 207-211, hier: S. 207.

[11] Nachwort zu „Kassiber“, 1979, S. 190.

[12] Schreibtisch unter freiem Himmel, S. 212-215. Das Gedicht auch in „Kassiber“, S. 109.

[13] Schreibtisch, S. 215.

[14] Kassiber, S. 162.

[15] Nachwort zu Kassiber, S. 189.

[16] Kassiber, S. 130.

Ebenfalls in unserer Reihe „Wozu dichten?“ bisher erschienen:

Markus Pohlmeyer: Sappho: Lieder, griechisch-deutsch (2021). Eine Rezension, in CulturMag 05_2021, Zugriff am 1.5.2021

Markus Pohlmeyer: Das erst Mal Ich. Der Dichter Archilochos – Ein Essay, in CulturMag 03_2022, Zugriff am 1.3.22

Wolfgang Johann: Du mußt versuchen, den Schweigenden zu hören: Über Paul Celans Schweigen 

Markus Pohlmeyer: Hermann Broch – Noch Prosa oder schon Lyrik? Über Vergil-Variationen, lyrische Prosa und Quantenmechanik. In CulturMag 05_2022, Zugriff am 1.5.2022

Markus Pohlmeyer über Horaz; in CulturMag 06_2022

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