Geschrieben am 1. März 2022 von für Crimemag, CrimeMag März 2022

Markus Pohlmeyer: Das erste Mal Ich

Der Dichter Archilochos – Ein Essay

Für Beate Fränzle

I Fragmente

Archilochos „[…] von Paros, griech. Lyriker, ca. 680-630 v. Chr. […] Es sind etwa 300 Fragmente erhalten. 1974 kam die sog. Kölner Epode (fr. 196a), die von sexuellem Erleben berichtet, hinzu.“[1] Und nun ein weiteres Zitat, von dem ich behaupten möchte, das fast alles von dem Folgenden ebenfalls auf Archilochos zutreffen kann: „Desorientierung, Auflösung des Geläufigen, eingebüßte Ordnung, Inkohärenz, Fragmentarismus, Umkehrbarkeit, Reihungsstil, entpoetisierte Poesie, Zerstörungsblitze, schneidende Bilder, brutale Plötzlichkeit, dislozieren, astigmatische Sehweise, Verfremdung …“[2] Worum geht es? Hugo Friedrich sucht in diesem Text von 1956 Stichworte („beschreibend, nicht abwertend“[3]), um sich den schwierigen Phänomenen moderner Lyrik zu nähern.

II Ephemer – Rhythmus

Warum sich heute noch mit Archilochos beschäftigen? Oder grundsätzlicher: warum überhaupt mit antiker Dichtung? In meiner Schulzeit wurde ich mit einigen griechischen Klassikern vertraut: Homer, Platon und etwas von den Tragikern. Als ich während des Studiums in London eher aus Neugier an einem Seminar zur griechischen Lyrik teilnahm, traf es mich wie ein Schlag – Archilochos, Sappho, Pindar! Kennen Sie dieses Gefühl? (Innerer Monolog was hast du eigentlich vorher in deinem Leben so gemacht bzw. gelesen …) Zudem es war eine enorme Herausforderung für mich, das zu übersetzen. Und dann auch noch Horaz. Und auch noch ein neuer Alltag. Ich vergesse beispielsweise nie, wie mich meine herzliche Vermieterin in der ersten Londoner Woche in einen Laden schickte – mit einer Liste von einzukaufendem Obst und Gemüse. Ordne den fremden Namen die passenden Dinge im Regal zu! Bald bildet sich eine Gruppe freundlicher Menschen, die mir mit sehr viel Verständnis ausgeholfen haben. Ob ich es in diesem Laden auch mal mit einem Sappho-Gedicht versuchen sollte? Und als ich dann ein Konto eröffnen wollte, diente das durchaus der allgemeinen Erheiterung. Aber so ist eben Realität, sie lächelt dich an, beißt dich ins Bein und irgendetwas gerät aus den Fugen. Ein Jahr später hat es mir das Herz gebrochen, dass ich London wieder verlassen musste. (Nein, das lag nicht daran, dass ich mich in keinen Supermarkt mehr hineingetraut hätte, sondern schlichtweg an meinem schmalen Studentengeldbeutel. Aber die Sanskrit-Klausur werde ich nie vergessen. War wie im Supermarkt ordne diesen seltsamen Zeichen englische Wörter zu. Was kam dann? Der Verlust von Verwandten und Freunden; Promotion und Habilitation; Brexit und dazu eine Corona-Krise usw.)

„So beschaffen ist das Herz […],
den sterblichen Menschen, wie der Tag, den Zeus heraufführt,
und sie denken so, wie die Wirklichkeit ist, auf die sie treffen.“[4]

Hier entwickelt sich lyrisch eine Anthropologie, die unsere Existenzform beschreibt: „Gottes Tag verändert sogar unseren ‚Sinn‘ (noos), den Kern unseres Selbst. Der Mensch ist durch und durch ‚ephemer‘, das heißt dem: Tag unterstellt und seinem Wechsel preisgegeben.“[5] Wie sich solcher ständigen Veränderlichkeit gegenüber verhalten?

„Halte Stand! Und wenn du siegtest, rühm des Sieges dich nicht laut,
lieg zu Hause nicht am Boden, klagend, wenn man dich besiegt,
sondern freue dich des Frohen, trauere um Leidiges
nie zu sehr! Erkenn des Lebens Auf und Ab, das uns beherrscht!“[6]

Rhythmus („Auf und Ab“) steht da in der letzten Zeile (mit einer anderen Schreibung im griech. Text), ein vertrautes Wort, das ich aber etwas anders übersetzen möchte (siehe bitte weiter unten).

III Ich – Musen – Krieg – Ehre?

Das erste griechische Fragment von Archilochos, der erste Vers hebt an mit einem programmatischen Paukenschlag (in Umschrift eimi d’ egō = ich-bin aber ICH), der in der Literaturgeschichte eine mentalitätsgeschichtliche Zäsur markiert. „Wer war dieser Querkopf Archilochos? In fr. 1 [fr. = Fragment; Anm. MP] stellt er sich selbst vor:

Ich bin der Diener des Herrn Enyalios
und bin kundig des lieblichen Geschenks der Musen.

[…] Zum ersten Mal in der europäischen Literatur beschreibt sich ein Mensch. […] Und es ist nicht nur eine Selbstvorstellung, sondern eine wirklich Selbstcharakterisierung. Die Lyrik entdeckte den Einzelnen und das Ich.“[7]

Was lässt sich aus den Fragmenten über das Leben jenes Dichters noch rekonstruieren? „Ein naher Verwandter ist auf See geblieben – eine Sonnenfinsternis hat sich ereignet und die Maßstäbe verschoben[8] – man hat im ‚Kolonialkrieg‘ gegen ‚Wilde‘ seine Waffen zurücklassen müssen, um sich zu retten – menschliche Enttäuschungen in Liebes- und Freundschaftsbeziehungen sind zu verarbeiten […].“[9]

Aber Archilochos – legendarisch ein von den Musen Berufener – benutzte nicht nur seinen Speer, mit dem er sich Wein und Brot verdiente,[10] sondern auch seine Gedichte als Waffe. Der augusteische Dichter Horaz beispielsweise versteht sich als eine innovative Rezeption jenes verehrten Vorbildes – und geht dennoch (vorsichtshalber) in Distanz zu ihm: „Ich führte Archilochos’ Jamben in Latium / Erstmals ein, nur folgend des Pariers Versmaß und Wohlklang, / Nicht seinem Stoff und dem Spott, der Lykambes ins Grab getrieben.“[11] Folgende Erläuterung erklärt: Archilochos’ „[…] Spottverse sollen so giftig gewesen sein, daß sie den Lykambes, der dem Dichter seine Tochter nicht zur Frau geben wollte, und diese selbst in den Tod trieben.“[12] Raoul Schrott erinnert an das Image dieses Spötters in seinem Hörbuch „Die Erfindung der Poesie“: zwischen „Schweinehund“ und „Halbgott“.[13] Zudem ist der Kerl ein erbarmungsloser Beobachter, demaskiert, desillusioniert, um neue Perspektiven zu entwickeln. Denn: „Auch für Archilochos gilt der schöne Schein nichts; mancher durch die Tradition geheiligte Wertmaßstab wird für ihn geradezu zum Kennzeichen des Unwertes. […] Erstmals ist jetzt die Dichtung ganz von persönlichem Leben erfüllt, und indem sie kämpft und aussagt und deutet, sucht sie sich ihren Weg, der kaum zu bewältigenden Fülle Herr zu werden.“[14]

„Mit dem Schild protzt jetzt ein Saïer, den ich bei einem Gebüsch
– eine ‚tadellose Wehr‘ – zurückließ, und wollt es doch nicht.
Ich selbst aber hab mich herausgerettet. Was schert jener Schild mich?
Fahre er hin! Von Neuem werde ich mir einen erwerben, der nicht schlechter ist.“[15]

Welcher der homerischen Helden hätte, etwas verallgemeinernd, so abschätzig von seiner Ehre geverst? Der Schild da, nur ein blödes Ding, irgendeine Ware; wichtiger doch, mit heiler Haut davonzukommen. Und bitte zu beachten, grundsätzlich, äußeres Auftreten und inneres Wesen gehören keineswegs zwangsläufig zusammen – so Archilochos entlarvend: 

„Nicht liebe ich einen großen Heerführer und nicht einen, der gespreizt einherschreitet,
auch nicht einen lockenstolzen und unter der Nase ausrasierten,
sondern mir soll einer sein, der klein ist und an den Schenkeln 
krumm aussieht, aber sicher auf den Füßen geht, voll von Herz.“[16]

IV Archilochos heute?

Hermann Fränkel, zum Abschluss seines Archilochos-Kapitels – im Grunde eine Antwort darauf, warum es Rezeptionsgeschichten gibt und warum überhaupt Kunst: „Die menschliche Wirklichkeit aber zeigt der archaischen Epoche, unter dem Aspekt der Allmacht von Gottes ‚Tag‘, ein erschreckendes Gesicht. […] Die künstlerische Form läutert und verklärt das Erlebnis. Sie prägt es zur gültigen Münze mit vollem Gehalt um, die von Hand zu Hand geht, und schafft so eine Gemeinschaft zwischen den gleich Beglückten oder gleich Geschlagnen. Und wie der Gemeinbesitz des literarischen Gutes den einzelnen aus seiner Isolierung erlöst, so macht er ihm im Anblick des immer selben Prägebildes deutlich, daß immer nur Menschliches war was ihm widerfuhr.“[17]

Gewiss, zwischen uns und Archilochos liegt ein enormer Zeiten-, Sprach- und Kulturabstand. Der sich dichterisch irgendwie schließt und sich in die Moderne zu erstrecken vermag, wenn ich die suchend-tastenden Beschreibungen von Hugo Friedrich rekapituliere. Jacob Burckhardt fasst zusammen: „Und wenn wir uns nun überhaupt nach dem Grunde der großen Wirkung dieses genialen Lästerers auf Zeitgenossen und Nachwelt fragen, so mochte es im ganzen darauf hinauskommen, daß in ihm der erste scharfe Realist mit vollem Hohn unter die Poeten trat.“[18] Archilochos mag ein realer (Wer war eigentlich Homer?) und realistischer Schweinehund/Halbgott gewesen sein. Viele Dichter haben wie Schweine gehaust und haben Göttliches geschrieben, und viele Dichter waren arme Schweine und haben Göttliches geschrieben. Zu bedenken bleibt, bisweilen ist das Gedicht nicht immer identisch mit seinem Autor/seiner Autorin. Wie viel ich steckt wirklich in Archilochos’ Gedichten, wie viel ist Maskerade?

Es geht mir auch nicht um kritiklose Klassikerverehrung, sondern gerade um eine Kritik, die Klassiker, und nur Klassiker provozieren können. Gerade das Andere, so Fremde, Befremdliche, das Zerrissene, Zerreißende reizt, daran zu lernen, zu verstehen; und ich muss es ja keinesfalls akzeptieren. Ein Tag, mein Tag ohne Dichtung, ein Leben ohne Gedichte: das mag ich mir nicht mehr vorstellen. Für andere Menschen kann das Anderes sein. Aber mein Wunsch bleibt, die antike Dichtung keinesfalls zu vergessen, vor allem nicht in der Schule. Und da haben gute Übersetzungen ihre Berechtigung, wenn das Original einfach unerreichbar schwierig scheint, weil die Alten Sprachen verschwinden bzw. verschwunden worden sind. 

Corona? Wir verstehen heute wissenschaftlich weit mehr, als die Beschreibung einer zurückliegenden Sonnenfinsternis erahnen lässt. Doch die menschliche Erschütterung, daß da etwas aus den Fugen geriet …: 

„Kein Ding ist unverhofft, und verschwören kann man nichts,
noch sich wundern, seit Zeus, der Vater der Olympier,
aus dem Mittag Nacht machte, da er das Licht verbarg
der strahlenden Sonne. Feuchte Angst kam da über die Menschen.
Seither ist alles glaubhaft und alles zu erwarten
den Menschen. Keiner von euch soll sich noch wundern, wenn er sieht,
wie das Bergwild mit Delphinen tauscht den Weideplatz
im Meer und ihm die tosenden Wogen der See
lieber sind als das Festland, diese wiederum den waldigen Berg vorziehen.“[19]

Abschließend meine persönliche Zusammenfassung von Archilochos: Erkenne des Lebens Rhythmus, seine Form – wie ein fließender Strom: in diesem Augenblick so, in einem anderen so. Was bleibt? Freundschaft und Musen.

„Ich bin … ich: Diener des herrischen Kriegs – einerseits;
und in der erotischen Gabe der Dichtung geübt.“[20]

Archilochos

Vorsicht! Meine Verse wie Speere,
Doch kunstvolle Gebilde,
Gerade noch so vor dem Zerbrechen,
Verführerisch und melodisch
Zusammengefügt, bin ich
Nur ein Verseschmied.
Aber ich bin’s,
(Vielleicht war ich’s auch nicht?
Her mit dem Wein!)
Erinnert euch an mich,
Und übt, ihr heroischen
Eintagsfliegen, 
Nicht allzu traurig
Zu sein … Stolziert
Nicht im schönen Schein
Sozialer Netzwerk
Durch virtuelle Landschaften
Lern’ das Gedicht
Die fließende Form
In der Sonne Finsternis
Und Delphine durch Wälder
Schwimmen Ja mein
Herz voller Angst 
Mutig neugierig
Erhaben verführt 
Von den Musen
Gnadenlos ehrlich
Lächelnd
Frech

V Epilog 

„Wohin gehen wir, Walt Whitman? Die Türen werden in einer Stunde geschlossen. Wohin weist dein Bart heute abend? / (Ich berühre dein Buch und träume von unserer Odyssee im Supermarkt und habe ein absurdes Gefühl.) […]“[21]

Und ich möchte mich noch herzlich bei der Altphilologin Frau Dr. Beate Fränzle für die Durchsicht meines Textes bedanken. 

Markus Pohlmeyer, Dichter und Essayist, lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine weit über 100 Texte bei uns hier.

Siehe auch Markus Pohlmeyer: Sappho: Lieder, griechisch-deutsch (2021). Eine Rezension, in: http://culturmag.de/crimemag/markus-pohlmeyer-sappho-lieder-griechisch-deutsch-2021/134524, Zugriff am 1.5.2021


[1] Metzler Lexikon Antik, hg. v. K. Brodersen – B. Zimmermann, 2. Aufl., Stuttgart 2006, 51.

[2] H. Friedrich: Vorblick und Rückblick, in: Zur Lyrik-Diskussion, hg. v. R. Grimm, Darmstadt 1956, 208-217, hier 216.

[3] Friedrich: Vorblick (s. Anm. 2), 216.

[4] Archilochos: Gedichte, Griechisch/Deutsch, hg. u. übers. v. K. Steinmann, Stuttgart 2021, 27.

[5] H. Fränkel: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, 3. Aufl. 1976, 149. 

[6] Archilochos, Griech./Deut., hg. v. M. Treu, 2. Aufl., München 1979, 71 ff.

[7] K. Steinmann: Nachwort, in: Archilochos: Gedichte (s. Anm. 4), 102 f. Siehe dazu auch B. Snell: Dichtung und Gesellschaft. Studien zum Einfluß der Dichter auf das soziale Denken und Verhalten im alten Griechenland, Hamburg 1965.

[8] Siehe dazu 122 West.

[9] J. Lactacz (Hg.). Die griechische Literatur in Text und Darstellung, Bd. 1: Archaische Periode, Stuttgart 1991, 246.

[10] Siehe fr. 2 D./ 2 W.

[11] Horaz: Epistulae/Briefe. De arte poetica/Von der Dichtkunst, Lat./Deut., übers. v. G. Hermann, hg. v. G. Fink, Düsseldorf – Zürich 2003, 79 (Epistulae Liber I, epist. 19, 23-25).

[12] Erläuterungen, in: Horaz (s. Anm. 11), 179.

[13] R. Schrott: Die Erfindung der Poesie, Frankfurt 1999, Produktion: BR/hr/ORF 1997 (3 CDs).

[14] M. Treu: Der Dichter Archilochos, in: Archilochos, Griech./Deut., hg. v. M. Treu, 2. Aufl., München 1979, 160.

[15] Archilochos: Gedichte (s. Anm. 4), 9 (fr. 6 D. / 5 W.).

[16] Archilochos: Gedichte (s. Anm. 4), 15 (fr. 60 D. / 114 W.).

[17] Fränkel: Dichtung (s. Anm. 5), 169 f. Fränkel begründet seine abweichende Interpunktion: „‘Interpungiere so wie du willst daß der Text gesprochen wird‘.“ Fränkel: Dichtung (s. Anm. 5), XI. Damit wäre sein Buch also auch und vor allem zum Laut-Vor-Lesen gedacht.

[18] J. Burckhardt: Das Geschichtswerk, Bd. 2: Griechische Kulturgeschichte, Neu Isenburg/Frankfurt am Main 2007, 557.

[19] Archilochos: Gedichte (s. Anm. 4), 43 (fr. 74 D. / 122 W.). Zu beachten das Adynaton in den letzten Versen.

[20] Freie Übers. von mir (1 D./ 1 W.).

[21] A. Ginsberg: A Supermarket in California (Auszug), in: Amerikanische Lyrik. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, zweisprachig, übers. v. A. u. F. Link, 2. Aufl., Stuttgart 1984, 410-413, hier 411.

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