
Zur Einleitung: Zusammen mit unserem Essayisten Markus Pohlmeyer (seine Texte bei uns hier) haben wir die Idee zu einer neuen Reihe entwickelt. Hier seine Skizze: Hölderlins Frage: „… wozu Dichter in dürftiger Zeit?“ (aus „Brot und Wein“) behält für mich in tragischer Weise – zeitgebunden-zeitlos – ihre Berechtigung und ist zugleich auch schon ihre eigene Antwort. Gerade in dürftiger Zeit dichten, als Widerstand (gegen Krieg, Diktatoren, Massenmörder etc. ad infinitum) und als Erinnerung (an das Schöne, Tröstende, Geheimnisvolle, an das Humanum im Menschlichen). Ich erinnerte mich an meine ersten Begegnungen mit Sappho und Archilochos. Kosmische Einsamkeit, schmerzliche Sehnsucht, beißende Ironie, trotziges „Ich“-Sagen, verliebtes Dahinschmelzen … Alf Mayer war begeistert, ich möge daraus eine Reihe gestalten. Nun, Markus im Alleingang durch die Weltliteratur? Meine (mich rettende) Idee war, Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen zu fragen, welche Dichterin, welcher Dichter sie begeistert, beeindruckt, nachdenklich gestimmt habe und warum. Kriterien: Leidenschaft und Enthusiasmus für das dichterische Wort, das bezaubert, tröstet, irritiert, aus dem Gewohnten herausreißt und von dem wir lernen können, selbst „ich“ zu sagen – jenseits vorgegebener Muster, Märkte und Meinungen –, von dem wir lernen können, unsere Welt neu zu entdecken, in eigenen Worten.
Dichten bedeutet für mich: anders denken und mit Schönheit verzaubern. Das kann auch durchaus ironisch geschehen.
In dieser CulturMag-Ausgabe erscheinen ein Beitrag von Wolfang Johann zu Paul Celan sowie der hier publizierte Essay zu Hermann Broch mit Blick auf seine Auseinandersetzung mit Vergil. Geplant sind beispielsweise noch Essays zur Römischen Satire, zu mittelalterlicher Dichtung, zu einem dänischen Nobelpreisträger undundund. Lassen Sie sich überraschen; auch ich bin gespannt, was sich aus der Idee entwickeln kann. Bisher erschienen:
Markus Pohlmeyer: Sappho: Lieder, griechisch-deutsch (2021). Eine Rezension, in CulturMag 05_2021, Zugriff am 1.5.2021
Markus Pohlmeyer: Das erst Mal Ich. Der Dichter Archilochos – Ein Essay, in CulturMag 03_2022, Zugriff am 1.3.2022
Wolfgang Johann: Paul Celan – Du mußt versuchen, den Schweigenden zu hören. Ein Essay, In CulturMag 05_2022, Zugriff am 1.5.2022

Noch Prosa oder schon Lyrik?
Markus Pohlmeyer über Vergil-Variationen, lyrische Prosa und Quantenmechanik – Ein Essay
Hermann Broch näherte sich Vergil in Gedicht, Novelle und Roman.[1] Der römische Dichter Vergil (70-19 v. Chr.) wurde berühmt durch seine Werke Eklogen, Georgica und Aeneis. Wie Vergils Georgica Lehrgedichte über den Landbau sind (und so vieles mehr), so wäre Brochs Roman „Der Tod des Vergil“ als ein Lehrgedicht über Kunst und Dichtung (im Verhältnis zum Tod und Absoluten) zu bezeichnen – in Gestalt eines romanlangen Gedichts.
„Nein, hier ist etwas durchaus Neues versucht, etwas, das man einen lyrischen Selbstkommentar nennen könnte: beginnend mit der äußersten Realitätsebene wird Schicht um Schicht tiefer gegangen, wobei jede Schicht den Inhalt der vorigen als Material, als lyrisches Material behandelt und nun ihrerseits wieder lyrisch verarbeitet. [… N]immt man dieses 550 Seiten starke Buch als ein einziges Gedicht, so sieht man, daß es musikalisch ‚durchkomponiert‘ ist, daß die Methode des ‚lyrischen Kommentars‘ eben nichts anderes ist als die der musikalischen Motiv-Variation […].“[2]
Im Vergleich dazu umfasst die Erzählung/Novelle „Die Heimkehr des Vergil“[3], Ausgangspunkt des späteren Romans, in meiner Ausgabe nicht einmal 14 Seiten. Es wäre so, als würde man quantitativ ein Hirtengedicht Vergils mit der Aeneis vergleichen wollen. Wolf Schneider gibt in einer Tabelle die durchschnittliche Anzahl der „Wörter pro Satz“ für den „Tod des Vergil“ mit 92 an.[4] Die bisweilen überbordenden Satzlängen in der Novelle wie auch im Roman erinnern an den Periodenbau eines Cicero – mit einer starken Rhythmisierung; deswegen wäre es angemessener, die Broch-Texte laut vorzulesen und zu hören (anstelle eines stillen Lesens).
„Der Modus seelischer Reflexion führt zu einer ‚Lyrisierung‘ des Stils, deren psychologisches Kompositionsprinzip sich in der Erzählung bereits ausprägt. Bedingt durch die Kontraststruktur der Daseinserfahrung avanciert die ‚Kontrapunktik‘ zur Bauform der lyrisierten Prosa. Indem sie die Gegenstandsbereiche durch Komposita oder Iterationen dualistisch konstelliert […] und diesen Dualismus zugleich in der parataktisch gestalteten Dynamik des seelischen Erlebens zum Ausgleich bringt, wird die Sprache zum Sinnbild für den Prozess der Selbstwerdung.“[5]
Dies mag am Beispiel der Einfahrt der Flotte in Brundisium erläutert werden: „Wie weich war die Luft, Bad des Innen und Außen, Bad der Seele, fließend aus dem Ewigen ins Irdische, Wissen vom Kommenden im Diesseitigen und im Jenseitigen! Am Bug des Schiffes sang ein Musikantensklave, und Lied wie Saitenspiel, Menschenwerk beides, waren in sich beschlossen, menschenentfernt, menschenentlöst, Sphärenluft, die sich selber singt. Die Töne in sich eintrinkend, atmete Vergil, die Brust schmerzte ihn, und er hustete.“[6]
Der Satz beginnt mit der Alliteration „Wie weich war“. Dann: „Bad des Innen und Außen, Bad der Seele“ – hier wird „Bad“ wiederholt; dabei verschiebt sich der Kontrast „Innen und Außen“ ins Psychische. Das Partizip Präsens Aktiv, zur Beschreibung eines andauernden Zustands, eröffnet ein neues Kontrastpaar: „fließend aus dem Ewigen ins Irdische“. Diese Empfindungen werden transformiert, von einer Ahnung hin zu einem „Wissen vom Kommenden im Diesseitigen und im Jenseitigen!“ Und es liegt auch ein Chiasmus vor: „aus dem Ewigen (A) ins Irdische (B)“ / „im Diesseitigen (B) und im Jenseitigen (A)“. Die ambige Form „vom Kommenden“ kann sowohl Neutrum als auch Maskulinum sein. Wäre eine Person oder ein Etwas gemeint? Es folgt eine Variation: „Am Bug des Schiffes sang ein Musikantensklave, und Lied wie Saitenspiel“, das zuerst als das, was es auch ist, als „Menschenwerk“ charakterisiert wird, um sogleich in Antithesen überführt zu werden, und zwar durch Komposita, deren erster Bestandteil menschen– aufweisen: „menschenentfernt, menschenentlöst“. Interessant klingt – zwei Choriamben – die beinahe vollständige Homophonie der Kompositionsfuge und der folgenden Präfixe ent-. „Sphärenluft“ verbindet eine kosmologische Perspektive inklusorisch, zyklisch mit der „Luft“ aus dem Beginn des Zitats. Als Kontrast zum „Menschenwerk“ folgt eine Personifikation: „Sphärenluft, die sich selber singt.“ In diesem Singen gibt es keine menschlichen Urheber mehr. Vergil trinke diese Töne – eine Synästhesie. Doch jene mystische, transzendente Erfahrung wird jäh unterbrochen, erbarmungslos ins Irdische zurückgebogen, in den todesnahen Zustand des Dichters: „die Brust schmerzte ihn, und er hustete.“ Fast ein Absturz ins Banale, wenn es nicht so ernst um den Dichter stünde.
Die Sprache von Novelle und Roman beschreibt nicht eine Selbstwerdung, sondern ist diese in autopoetisch-performativer Reflexion, die sich in einer konsequent durchgehaltenen Lyrisierung entwickelt. Und Lyra als etymologischer Kern verweist ja schon auf die Musikalität von Dichtung überhaupt. Brochs schreibende Aneignung des Dichters Vergil über-schreibt, über-schreitet die Prosa ins Dichterische. Und in diese neu entstehenden Imaginationsräume schreiben sich Selbstreflexionen des Autors Hermann Broch mit ein.[7] Dabei stellt sich die Frage, ob es sich überhaupt je um Prosa gehandelt hat, sondern immer schon um Dichtung, was ja auch Brochs Selbstkommentar nahe legen würde (s. oben). Oder doch nur um eine besondere Form der Prosa? Oder ob beide Bereiche, Prosa und Poesie, verschränkt und vereinzelt, vereinzelt oder verschränkt, je nach Beobachtungsperspektive, nebeneinander und/oder doch ineinander bestünden? Und: verlöre ich das eine, betrachtete ich das andere genauer?
Der Tod des Vergil von Hermann Broch
Künstlerische Absage an die Kunst
„[… U]nd es war der Augenblick, den das dumpf brütende Massentier erwartet hatte, um sein Jubelgeheul ausstoßen zu können, endlos, erschütternd, sich selbst anbetend in der Person des Einen.“[8] Wie der fiktive Vergil eine Poetodizee im Angesichte der Augustus zujubelnden Menge entwickelt, so entwickelt Broch eine Poetodizee im Angesichte des Faschismus: eine Rechtfertigung dichterischer Existenz auf dem Forum der Verantwortung. Die poetische Sprache der Novelle/Erzählung in ihrer formalen Schönheit wird immer wieder gebrochen durch den Horror des Tatsächlichen, so dass der sterbende Dichter sein Ethos reflektiert, das Ethos des Einzelnen im Angesichte der Masse.
„In der 1937, genau ein Jahr vor dem Exil, entstandenen Erzählung ‚Die Heimkehr des Vergil‘ wird die Problematik der Dichtung bereits thematisiert. […] Schon diese Urfassung vom Tod des Vergil ist konzipiert als ‚Dichtung des Gerichtes über die Dichtung‘, genauer, als Absage des verantwortungsbewussten Schriftstellers an das Ästhetentum […]. Im März 1937 las Broch den ersten Teil dieser Erzählung im Wiener Rundfunk. Wie aus dem Originalmanuskript hervorgeht, beendete er seine Lesung an der Stelle: ‚Auf der Gasse schrien sie Augustus Retter und Augustus Vater – wird er es nicht büßen müssen? Schlaf? wer wollte schlafen, da Troja brennt!‘[9] Die zeitkritischen Implikationen dieser in ein historisches Gewand gekleideten Erzählung dürften auch damals dem Zuhörer nicht entgangen sein.“[10]
Broch erweitert seine Vergil-Rezeption durch christliche Motive und mystische Visionen. Der augusteische Dichter wird so zu einer Portalfigur zwischen antiker und christlicher Welt, zwischen dem Retter Augustus und dem christlichen Messias. Dies ist zum Teil auch der Wirkungsgeschichte der 4. Ekloge geschuldet.[11] Ich selbst lese bei Broch aber alles andere als eine naive Vergil-Rezeption. Gerade auch die Novelle rückt sehr in die Nähe der sogenannten Theorie der Two-Voices[12], einer Vergil-Exegese, die in der Aeneis – neben der imperialen Perspektive – die Stimme der Opfer im Aufstieg Roms reflektiert sieht. Die unglaublich harten, geisterhaften Bilder von Barry Moser illustrieren dies eindrücklich.[13]
Was wäre das Novum in der Novelle „Die Heimkehr des Vergil“? Es wäre eher als ein Tremendum zu beschreiben, nämlich Vergils radikaler Abschied von seinem Werk: „Nun war der Maecenas gegangen, froh, zu seinen Bildwerken heimkehren zu dürfen, zurück in die irdische Schönheit seines Palastes, ledig eines Mahners, der von solcher Schönheit nichts mehr wissen wollte […].“[14] Worum ging es? Um die Aeneis. Dazu ein biographischer Hintergrund:
„An diesem Nationalgedicht arbeitete Vergil im letzten Jahrzehnt seines Lebens […]. Eine abschließende Revision wollte er in Griechenland vornehmen, wohin er den Princeps begleitete. Unterwegs erkrankte er, brach die Reise ab und starb auf dem Rückweg in Brundisium (19. v. Chr.). Die Erhaltung der Aeneis ist Augustus zu verdanken, der Vergils testamentarische Anordnung, nichts Unveröffentlichtes herauszugeben, umging. So edierten Vergils Freunde Varius und Tucca die Aeneis. Sie gingen dabei sehr pietätvoll zu Werke, wie die unvollständig stehen gelassenen Halbverse zeigen.“[15]

Ethik und Poetik
Brochs literarische Umsetzung einer transzendentalen Poetik in Form einer Novelle und später eines Romans, dieses Nachspüren der Bedingungen der Möglichkeit von Poesie (in einer Exilsituation) führt zu einem Überschritt ins Ethische.
„In welchem anderen Roman der Exilzeit sind die Erfahrungen der Relativität von Dichtung in Zeiten der Gewaltherrschaft, der Missachtung der Menschenrechte und der neuen Versklavung so direkt zur Sprache gebracht worden? […] Nirgendwo sonst ist in der Exilliteratur die Ambivalenz gegenüber der Dichtung, ist sowohl ihre Schwäche wie ihre Stärke herausgestellt worden.“[16]
Ein anderer Bruch in der Moderne, der auch Auswirkung auf die Literatur haben sollte, entlädt sich in dem Aufkommen zweier revolutionärer wissenschaftlicher Theorien. So entdeckte Broch eine Nähe zwischen Relativitätstheorie[17] und dem ästhetischen Verfahren von James Joyce:
„Es ist keine Beleidigung für die Relativitätstheorie, wenn wir eine Parallele zur Dichtung ziehen: der klassische Roman begnügte sich mit der Beobachtung von realen und psychischen Lebensumständen, begnügte sich, diese mit den Mitteln der Sprache zu beschreiben. […] Man stellte dar und benützte dazu die Sprache als fix und fertig gegebenes Instrument. Was Joyce tut, ist wesentlich komplizierter. Immer schwingt bei ihm die Erkenntnis mit, daß man das Objekt nicht einfach in den Beobachtungskegel stellen und einfach beschreiben dürfe, sondern daß das Darstellungssubjekt, also der ‚Erzähler als Idee‘ und nicht minder die Sprache, mit der er das Darstellungsobjekt beschreibt, als Darstellungsmedien hineingehören.“[18]

Also wäre nicht nur Vergil Thema des Romans (und der Novelle), sondern auch Broch selbst, sein eigenes Schreiben als Form der Selbstreflexion und als Abschied von einem bestimmten ästhetischen Konzept. Im folgenden Kommentar von Werner Heisenberg erscheint aber nun auch Relativitätstheorie nur noch als Zwischenschritt, den die Quantenmechanik dann radikal überschreitet, transzendiert:
„Die relativistische Beschreibung ist aber doch insofern objektiv, als ja jeder Beobachter durch Umrechnung ermitteln kann, was der andere Beobachter wahrnehmen wird oder wahrgenommen hat. Immerhin, vom Ideal einer objektiven Beschreibung im Sinne der alten klassischen Physik hat man sich doch schon ein Stück weit entfernt. In der Quantenmechanik wird die Abkehr von diesem Ideal noch viel radikaler vollzogen. Was wir mit einer objektivierenden Sprache im Sinne der früheren Physik übertragen können, das sind nur noch Aussagen über das Faktische. Etwa: Hier ist die photographische Platte geschwärzt, oder: Hier haben sich Nebeltröpfchen gebildet. Über die Atome wird dabei nicht geredet. Aber was sich aus dieser Feststellung für die Zukunft schließen läßt, hängt ab von der experimentellen Fragestellung, über die der Beobachter frei entscheidet. […] Aber die Prognose über das zukünftige Geschehen kann nicht ohne Bezugnahme auf den Beobachter oder das Beobachtungsmittel ausgesprochen werden. Insofern enthält in der heutigen Naturwissenschaft jeder physikalische Sachverhalt objektive und subjektive Züge.“[19]

Broch hätte also problemlos in seinem Joyce-Aufsatz Relativitätstheorie durch Quantenmechanik ersetzten können. Und deren Aspekte, wie eben von Heisenberg kurz beschrieben wurden, finden sich lyrisch in der Novelle Brochs angelegt und dann in dem großen Vergil-Roman entfaltet. Wie sich Realität konstituiert, ist abhängig von dem sie Beschreibenden, der eben auch den Akt des Schreibens mit in sein Werk einbeziehen muss. Diese ästhetische Selbst-Verhältnisbestimmung in der Klarheit und Unschärfe des Prosaischen und Lyrischen kann eine ethische werden. Der ethische Aspekt ist ein Weg der künstlerischen Selbstwerdung des Vergil und des Hermann Broch in der paradoxen oder ikonoklastischen Bewegung des Abschiedes von der Kunst, ausgehend von Realia (Der historische Vergil will seine Aeneis vernichtet wissen.) über politischen Bedrohungen (Masse und Faschismus[20]) hin zu einer mystischen Selbstfindung in der Bewegung einer Selbstentgrenzung[21]:
„[…] das Wort schwebte über dem All, schwebte über dem Nichts, schwebte jenseits von Ausdrückbarem und Nicht-Ausdrückbarem, und er [Vergil; Anm. MP], von dem Worte überbraust und von dem Brausen eingeschlossen, er schwebte mit dem Worte, indes, je mehr es ihn einhüllte, je mehr er in den flutenden Klang eindrang und von ihm durchdrungen wurde, desto unerreichbarer und größer, desto gewichtiger und entschwebender wurde das Wort, ein schwebendes Meer, ein schwebendes Feuer, meeresschwer und meeresleicht, trotzdem immer noch Wort: er konnte es nicht festhalten, und er durfte es nicht festhalten; unerfaßlich unaussprechbar war es für ihn, denn es war jenseits der Sprache.“[22]
Paradoxien und Antithesen zeichnen den Schluss des Vergil-Romans aus, diesen wortgewaltigen Abschied von der Sprache – mit vielen Bezügen zur Mystik und Bibel: zur Schöpfungsgeschichte, zum Logos des Johannes-Prologs, aber auch zur Begegnung des Auferstandenen mit Maria Magdalena, die er auffordert, ihn nicht festzuhalten. [23] Vielleicht nur ein fern liegender Verglich zum Abschluss, wie Heisenberg seine Erfahrung bei der Entdeckung der Unschärferelation beschrieb:
„Im ersten Augenblick war ich zutiefst erschrocken. Ich hatte das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen, und es wurde mir fast schwindelig bei dem Gedanken, daß ich nun dieser Fülle von mathematischen Strukturen nachgehen sollte, die die Natur dort unten vor mir ausgebreitet hatte.“[24]
Darum könnte es auch heißen Die Heimkehr des Hermann Broch und Der Tod des Hermann Broch – zwei literarische Umsetzungen moderner Naturwissenschaft oder (was ein und wäre) zwei Beiträge zur Mystik. Möglicherweise war Hermann Broch näher an einer literarischen Umsetzung der Quantenmechanik, als er ahnte. Spuren dafür bieten seine Vergil-Variationen.
Epilog I
Warum, d.h. weshalb und wozu wendet sich der Künstler Vergil von seiner Kunst ab? Woher dieses Moment des Ethischen? Es ist eine besondere Empathie, die den von Broch erzählten Vergil auszeichnet:
„[… M]ochten auch die Schlachtfelder des Reiches nun ferne sein, in Britannien, in Germanien, in Asien, es waren doch Menschen, die sich dort abschlachteten, und mochten die kaiserlichen Gerichte auch gerecht aburteilen, mochten es auch Verbrecher sein, die allenthalben auf den Richtstätten an den Kreuzen hingen und in ihren Schmerzen sich wanden, es waren doch Menschen, und Menschen waren es, die in den Arenen gehetzt wurden, zerstückelt, zerfleischt, Menschen, die einander töteten, blutvergießend, Blut, Blut, Blut, zum Ergötzen der Masse, Opfer, sinnlose Opfer zum Ergötzen des Massentiers […]. Was aber war all dem Blute, all den vielen Opfern, all den Qualen entgegenzuwerfen? Verse? waren Verse zu wenig und doch zu viel? vermochten Verse eine solche Welt zu ändern? vermag der Mann, der die Folterungen begafft und sich ihrer freut, überhaupt noch Verse zu hören?“[25]
Epilog II
„Europa, die Nekropole einer von Mengele und den Handlangern des schwarzen Totenkopf-Ordens vernichteten Zivilisation, die vergiftete Spitze eines Pfeils, der 1914 abgeschossen worden war. Mengele, der Musterangestellte der Todesfabriken, der Mörder Roms, Athens und Jerusalems, glaubte seiner Strafe zu entkommen.“[26]
Epilog III
„Die Poesie ist sozusagen die Quantenphysik der Sprache.“[27]
Markus Pohlmeyer, Dichter und Essayist, lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine weit über 100 Texte bei uns hier.
[1] Siehe dazu das Gedicht von H. Broch: Vergilsche Landschaft , in: Ders.: Gedichte, hg. v. P. M. Lützeler, Frankfurt am Main 1980, 63.
[2] Aus: „Hermann Brochs Kommentare“, in: Ders.: Der Tod des Vergil. Roman, hg. v. P. M. Lützeler, 8. Aufl., Frankfurt am Main 2017, 474 f. Die langen Zitate in meinem Text sind den Satzlängen bei H. Broch geschuldet und auch einer Kohärenz der Gedanken, wie z.B. in den Textauszügen von W. Heisenberg.
[3] H. Broch: Die Heimkehr des Vergil, in: Ders.: Barbara und andere Novellen, hg. v. P. M. Lützeler, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2016, 236-249.
[4] S. dazu W. Schneider: Deutsch für Kenner. Eine neue Stilkunde, 6. Aufl., München 2001, 198. Vergleichend dazu Schneider, ebd., 198: „7 Prozent der Sätze in der ‚Bildzeitung‘ haben 4 Wörter oder weniger“ oder „31 Durchschnitt im ‚Dr. Faustus‘ (Th. Mann)“.
[5] M. Ritzer, in: Hermann-Broch-Handbuch, hg. v. M. Kessler – P. M. Lützeler, Berlin – Boston 2018, 271.
[6] Broch: Heimkehr (s. Anm. 3), hier 238.
[7] Ich unterlasse eine Analyse der Erzählperspektiven, die eine hier aus heuristischen Gründen (flankiert durch Brochs Kommentare) vorgenommene Ineinssetzung von Autor und Erzählstimmen verkomplizieren würde.
[8] Broch: Heimkehr (s. Anm. 3), hier 238.
[9] Siehe dazu Broch: Heimkehr (s. Anm. 3), hier 242: „Oh, überflüssig sind die Kunstwerke, überflüssig all die Schönheit, die der Augustus und der Maecenas um sich angesammelt haben, und sie sind dem Untergang geweiht. Auf der Gasse schrien sie Augustus Retter und Augustus Vater – wird er es nicht büßen müssen? Schlaf? wer wollte schlafen, da Troja brennt!“
[10] P. M. Lützeler: Nachwort, in: H. Broch: Barbara und andere Novellen, hg. v. P. M. Lützeler, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2016, 319-355, hier 345 f.
[11] Vergils 4. Ekloge Vergils bot mit der Geburtsankündigung eines messianischen Kindes großes Anschlusspotential für eine christliche Um-/Fehldeutung, eine Ekloge, deren griech. „[…] Übersetzung […] Kaiser Constantin auf dem Konzil zu Nicaea mit einer christlichen Deutung verband […]“, vgl. M. v. Albrecht, in: P. Vergilius Maro: Leben auf dem Lande. Bucolica. Georgica, lat./dt. übers. u. hg. M. v. Albrecht – O. Schönberger, Stuttgart 2013, 290.
[12] Siehe dazu: Vergil: Aeneis, lat./dt., hg. u. übers. v. E. u. G. Binder, Stuttgart 2012, 1047 f. (Nachwort)
[13] Abgedruckt in The Aeneid of Virgil. A Verse Translation by A. Mandelbaum. With Thirteen Drawings by Barry Moser, University of California Press, Second Paperback Printing 2007.
[14] Broch: Heimkehr (s. Anm. 3), hier 246.
[15] M. v. Albrecht: Große römische Autoren. Texte und Themen, Bd. 2: Horaz, Vergil und seine Nachfolger, Heidelberg 2013, 98.
[16] P. M. Lützeler: Hermann Broch und die Moderne. Roman, Menschenrecht, Biografie, München 2011, 17.
[17] Siehe dazu auch A. Einstein: „Ich bin fasziniert von Ihrem ‚Vergil‘. (…) Das Wesentliche bleibt immer mysteriös und wird es immer bleiben, kann nur erfühlt, aber nicht erfaßt werden. Brief an Broch, undatiert.“, zitiert nach M. Durzak: Hermann Broch, Hamburg 2001, 180.
[18] H. Broch: James Joyce und die Gegenwart (1935), in: Ders.: Geist und Zeitgeist. Essays zur Kultur der Moderne, hg. v. P. M. Lützeler, Frankfurt am Main 1997, 66-93, hier 80.
[19] W. Heisenberg: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, 13. Aufl., München 1993, 108.
[20] Zum Aktualitätsbezug siehe auch H. Detering: Was heißt „wir“? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten, Stuttgart 2019 und N. Frei u.a. (Hrsg.): Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus, Berlin 2019.
[21] Dazu Th. Mann (1951) über Broch: „[…] und ich halte seinen ‚Vergil‘ für eines der ungewöhnlichsten Experimente, das je mit dem flexiblen Medium des Romans unternommen wurde.“ Zitiert nach M. Durzak: Hermann Broch, Hamburg 2001, 180.
[22] H. Broch: Der Tod des Vergil. Roman, hg. v. P. M. Lützeler, 8. Aufl., Frankfurt am Main 2017, 454.
[23] Siehe dazu Heisenberg: Teil (s. Anm. 19), 107: „Wenn in den Religionen aller Zeiten in Bildern und Gleichnissen und Paradoxien gesprochen wird, so kann das kaum etwas anderes bedeuten, als daß es eben keine anderen Möglichkeiten gibt, die Wirklichkeit, die hier gemeint ist, zu ergreifen. Aber es heißt nicht, daß sie keine echte Wirklichkeit sei.“
[24] Heisenberg: Teil (s. Anm. 19), 78. Siehe dazu auch W. Heisenberg: Die Bedeutung des Schönen in der exakten Naturwissenschaft, in: Ders.: Quantentheorie und Philosophie, Vorlesungen und Aufsätze, hg. v. J. Busche, Stuttgart 1987, 91-114. Siehe dazu auch vor allem das Kapitel „Physik und Poesie“, in E. P. Fischer: Das große Buch der Physik, Köln 2019, 271-286. Und C. Rovelli: Helgoland. Wie die Quantentheorie unsere Welt verändert, übes. v. E. Heinemann, Hamburg 2021.
[25] Broch: Heimkehr (s. Anm. 3), hier 246 f. Siehe dazu auch die Kreuzigungsszene im Markus-Evangelium, Seneca: Epistulae Morales VII und Tertullian: De spectaculis. Rhetorische Figuren in dieser Broch-Stelle: mehrfach Trikolon, Homoioteleuton, Repetitio, Figura Etymologica, Klimax, Asyndeton, Alliteration, rhetorische Fragen.
[26] O. Guez: Das Verschwinden des Josef Mengele. Roman, übers. v. N. Denis, 3. Aufl., Berlin 2018, 110 f.
[27] N. Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott, München 2022, 75.