
Du mußt versuchen, den Schweigenden zu hören: Über Paul Celans Schweigen
Essay von Wolfgang Johann
I.
Paul Celans poetisches Verstummen angesichts der Shoah wurde sehr berühmt und oft besprochen. Man fragt sich manchmal, für wen eigentlich Celan geschrieben hat: Zumindest für die Menschen, die sich Gedichte vorlesen und über sie sprechen. Zu seinen Lesern gehören sicherlich auch die Akademiker:innen, die fleißig Wörter wie Steine umdrehen, um auf deren Rückseite noch etwas Verborgenes zu entdecken. An einige von ihnen wird Celan vielleicht gedacht haben, als er bekümmert feststellte, dass man seine Todesfuge bereits zu seinen Lebzeiten lesebuchreif gedroschen hatte. Das lag sicherlich auch daran, dass man Dinge in sie hinein las, die dort nicht zu finden sind. Wenn nämlich etwas ‚lesebuchreif gedroschen‘ wurde, dann ist es geteiltes, anerkanntes Kulturgut – im Falle der Todesfuge ist dies ein Gedicht über die Shoah. Der Völkermord wird zum Kulturbesitz, das Gedicht erstarrt zu Kunst. Vermutlich muss man daher Celans poetisches Verstummen in diese Richtung verstehen: Als Protest gegen eine Vereinnahmung in guter Absicht.
II.
„Wer nie mit einem Dichter umgegangen ist, weiß nicht, was Unverantwortlichkeit und Hemmungslosigkeit sind. Jedesmal wenn wir mit ihnen verkehren, spüren wir, daß alles erlaubt ist. Da sie niemandem Rechenschaft ablegen müssen (außer sich selbst), beziehen sie sich auf nichts – und wollen es auch nicht. Es ist unheilvoll, sie zu verstehen, sie haben nichts mehr zu verlieren, und genau das bringen sie uns bei.“[1] An wen hätte Emil Cioran, der Trostspender, hier eher denken können als an Celan? Ganz in diesem Sinne, meint man, übersetzt Celan dann auch einen der nachdenklichsten Texte von Cioran ins Deutsche, Die Lehre vom Zerfall. Man liest in ihr Passagen wie der folgenden, bei der man auch an die fehlgegangene Aufklärung denken wird:

„Es liegt nicht in der Macht des Menschen, nichtzugrunde zu gehen. […] Denn nur, daß wir mit Begriffen umgehen, läßt uns Herr werden über unser Entsetzen. Wir sagen: der Tod – und diese Abstraktion erspart es uns, seine Unendlichkeit und Entsetzlichkeit zu empfinden. Indem wir Dinge und Ereignisse benennen, umgehen wir das Unerklärliche: Geistestätigkeit ist eine heilsame Betrügerei, ein Taschenspielerkunststück; sie gestattet, daß wir uns in einer milderen, bequemeren und verschwommenen Realität bewegen. Mit Begriffen umgehen lernen heißt verlernen, die Dinge anzusehen… Die Reflexion wurde an einem Tage der Flucht geboren; […]. Der Gedanke liegt nahe, daß der wortmüde und zeitüberdrüssige Mensch die Dinge wieder ihrer Namen entkleidet und sie mit seinem eigenen auf einen Riesenscheiterhaufen wirft, dessen Feuer auch seine Hoffnungen verschlingt. Wir alle eilen diesem Endziel entgegen – dem stummen und nackten Menschen…“[2]
Es ist betrüblich, diese Zeilen zu paraphrasieren und zusammenzufassen, denn damit verlieren sie ihre trotzige Melancholie: Das Schweigen als Konsequenz einer erkalteten Rationalität kann den Menschen dem Menschlichen wieder nahebringen. Ein ähnlicher Gedanke findet sich in Celans Notizen:
„Ende: Man belasse dem Gedicht sein Dunkel; vielleicht – vielleicht! – spendet es, wenn jene Überhelle, die uns die exakten Wissenschaften schon heute vor Augen zu führen wissen, die Erbmasse des Menschen von Grund auf verändert hat, – vielleicht spendet es auf dem Grunde dieses Grundes den Schatten, in dem der Mensch sich auf sein Menschsein besinnt.“[3]
„Wahr spricht, wer Schatten spricht“[4]: Das ‚dunkle‘ seiner Gedichte ist keine insinuierte Unverständlichkeit, die es zu entschlüsseln – und man möchte fast sagen ‚aufzuhellen’ – gilt. Vielmehr ist es der Versuch, der Welt, der interpretierenden, zu deuten, was sie an sich selbst nicht verstehen möchte. Schreiben bedeutet Leben; es ist Anerkennung und (Wieder-)Aneignung eigener Geschichte und Geschichtlichkeit, es ist Deutungshoheit über die (eigene) Vergangenheit und manchmal auch wie ein Wegweiser aus einer vernagelten Gegenwart. Was letztlich bleiben wird, ist das, was man geschrieben hat.
III.

An Celan erinnert sich Cioran folgendermaßen: „Der Umgang mit diesem aufs äußerste geschundenen Menschen war nicht einfach. […] Alles verletzte ihn. Die geringste Taktlosigkeit, und war sie auch ungewollt, betrübte ihn unwiderruflich. Da er überaufmerksam, extrem entgegenkommend war, erwartete er Ähnliches vom Gegenüber […].“[5] Der Sensible schweigt, wenn er verletzt wurde. In der Korrespondenz mit Ingeborg Bachmann klaffen lange, nahezu stumme Jahre, und nachdem sein Freund Klaus Demus ihn verletzte, schwieg Celan für fünf. Vergeben wird der Sünder, dessen Sünde, die geerbte, niemand vergeben kann: „Sie tragen die Schuld ab, die ihren Ursprung beseelte“.[6]
IV.
„Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs“[7], heißt es im Meridian, dem bedeutendsten poetologischen Text Celans und vermutlich der gesamten deutschsprachigen Nachkriegszeit: „Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber.“[8] Celan wird sich an einem bestimmten Punkt in seinem Leben gefühlt haben wie ein Schriftsteller, der nicht schreibt, ein Dichter, dem Wirklichkeit fehlt. Wem soll man sich auch zu-schreiben in einer von Gott verlassenen Welt, an wen soll man sich in seiner Einsamkeit wenden? Wenn man Poesie nicht poetisch versteht, versteht man nicht das Poetische der Poesie. Zehn Jahre vor dem Meridian schreibt Celan an Diet Kloos: „Du mußt versuchen, auch den Schweigenden zu hören, Diet: er möchte laut sein, vernehmlich, nur kann ers noch nicht.“[9] Und in seinem letzten Brief an Ilana Schmueli, kurz vor seinem Tod, heißt es: „Dein Wort darüber, daß Wahrhaftigkeit Sehnsucht sei, hat mich ganz ergriffen. Laß mich dieses Wort Kafkas aufschreiben: ‚Die Welt ins Reine, Unabänderliche, Wahre heben.‘“[10] Wenn Wahrhaftigkeit Sehnsucht bedeutet und Sehnsucht einen Zustand des Mangels darstellt, welcher auf etwas verweist, das nicht ist, und (vielleicht) nicht sein kann, dann ist dies kein Mangel an Wahrhaftigkeit und damit ein metaphysisches Defizit, welches man beheben müsse oder könne, sondern Sehnsucht und Wahrhaftigkeit gehören zusammen und sind ähnlich voneinander geschieden wie zwei Seiten einer Münze. Wer sie wirft, muss geschickt sein, soll sie auf dem Rande liegen bleiben, damit beide Seiten die Welt betrachten. Man denkt an ein anderes Wort von Kafka: „Wer glaubt, kann keine Wunder erleben. Bei Tag sieht man keine Sterne.“[11] Deswegen die Nacht, daher auch das Dunkle.
V.
Leb die Leben, leb sie alle,
halt die Träume auseinander,
sieh, ich steige, sieh, ich falle,
bin ein andrer, bin kein andrer.[12]
„Man sollte nichts tun, was man nicht ebensogut lassen könnte. Und man sollte nur das tun, was man nicht lassen kann.“[13] Vielleicht gilt dies insbesondere für das Sprechen und das Schreiben. Das Verstummen ist der Versuch, die Stärke zu ertragen, die man erfuhr, als man schwach sich zeigte. Was bleibt, ist das, was Verschwiegen wurde, und die Melancholie zwischen den Zeilen.
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Wolfgang Johann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Germanistik der Europa-Universität Flensburg. Zuletzt von ihm erschienen: Ästhetische Transformationen der Gesellschaft. Von Hiob zu Patti Smith. Berlin 2020. Leseprobe hier.
Ebenfalls in unserer Reihe „Wozu dichten?“ erschienen:
Markus Pohlmeyer: Sappho: Lieder, griechisch-deutsch (2021). Eine Rezension, in CulturMag 05_2021, Zugriff am 1.5.2021
Markus Pohlmeyer: Das erst Mal Ich. Der Dichter Archilochos – Ein Essay, in CulturMag 03_2022, Zugriff am 1.3.22
Markus Pohlmeyer: Hermann Broch – Noch Prosa oder schon Lyrik? Über Vergil-Variationen, lyrische Prosa und Quantenmechanik. In CulturMag 05_2022, Zugriff am 1.5.2022
[1] Emil Cioran: Von Tränen und Heiligen. Berlin 2018, S. 32f.
[2] Emil Cioran: Lehre vom Zerfall. Übertragen von Paul Celan. Stuttgart 1978, S. 151-152. Hervorhebungen im Original.
[3] Paul Celan: Mikrolithen sinds, Steinchen. Die Prosa aus dem Nachlass. Kritische Ausgabe. Hg. u. kommentiert von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou. Frankfurt am Main 2005, S. 142. Hervorhebung im Original.
[4] Paul Celan: Sprich auch du. In: Ders. Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe. Hg. und kommentiert v. Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 85.
[5] Emil Cioran: Begegnungen mit Paul Celan. In: Petro Rychlo (Hg.): Mit den Augen von Zeitgenossen. Erinnerungen an Paul Celan. Berlin 2020, S. 226-229, hier S. 227.
[6] Paul Celan: Nächtlich geschürzt. In: Ders. Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe. Hg. und kommentiert v. Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 80.
[7] Paul Celan: Meridian. In: Ders.: Prosa I. Zu Lebzeiten publizierte Prosa und Reden. Historisch-Kritische Ausgabe (BCA 15.1). Hg. v. Andreas Lohr und Heino Schmull in Verbindung mit Rolf Bücher. Frankfurt am Main 2014, S. 45.
[8] Ebd.
[9] Paul Celan: „Du mußt versuchen auch den Schweigenden zu hören“. Briefe an Diet Kloos-Barendregt. Handschrift – Edition – Kommentar. Hg. v. Paul Sars unter Mitwirkung von Laurent Sprooten. Frankfurt am Main 2002, S. 78.
[10] Paul Celan/Ilana Schmueli: Briefwechsel. Hg. v. Ilana Schmueli und Thomas Sparr. Frankfurt am Main 2004, S. 140.
[11] Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. von Jost Schillemeit. Frankfurt am Main 2002, S. 49.
[12] Paul Celan: Leb die Leben. In: Ders. Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe. Hg. und kommentiert v. Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 540.
[13] Ilse Aichinger: Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt am Main 1987, S. 45.