Geschrieben am 10. September 2019 von für Crimemag, CrimeMag September 2019

Werner Fuld zum neuen Roman von Andreas Pflüger

Begnadigt, aber nicht frei

Werner Fuld über „Geblendet“ von Andreas Pflüger

Vor rund fünfzig Jahren machte sich Käthe Rehbein, manchmal jovial „Rehbeinchen“ genannt, in der ZDF-Serie „Der Kommissar“ als Sekretärin unentbehrlich. Gespielt wurde sie von Helma Seitz. „Helmchen“ heißt die Sekretärin bei Andreas Pflüger, und unentbehrlich ist sie auch. Als sie schwer verletzt und im Koma im Krankenhaus liegt, sitzen die harten Kerle an ihrem Bett und erzählen sich und ihr kuriose Geschichten aus dem gemeinsamen Alltag: Erzählen gegen den Tod. Im ersten Band gab es eine ähnlich Szene des Aufbegehrens gegen die negative Passivität des Todes, und auch hier charakterisiert der hilflose Trotz die Überlebenden. Es sind nicht mehr viele: Bei dem Anschlag auf das Büro der „Abteilung“ mit 51 Toten mitten in Berlin sind fast alle ums Leben gekommen. Übrig sind sechs Männer und Jenny Aaron – sieben Samurai. Der Leser ahnt, daß die Rache gründlich sein wird, aber am Ende kommt fast alles anders.

Vor rund zehn Jahren kam der französische Film „ 22 Kugeln“ von Richard Berry in die Kinos: Eine furios komponierte Racheballade mit pointierten Dialogen und grausamen Hinrichtungen – 117 Minuten Hochspannung ohne überflüssige Szenen und Gerede. Man sieht, daß Töten, getötet werden und um das eigene Überleben kämpfen keine saubere Sache ist. Darüber reden Pflügers sieben Samurai auch manchmal, aber sie müssen ihre Arbeit tun und wieder Ordnung herstellen. Rache ist das älteste Ordnungsprinzip der Welt; das Strafrecht dient der Sozialhygiene, nicht der Gerechtigkeit. Deshalb muß der alternde Mafioso, von Jean Reno gespielt mit dem müden Blick des Mörders, der sich in seinem Beruf genauso aufgebraucht hat wie Pavlik, die Männer erledigen, die ihn aus der Welt schaffen wollten, sonst gibt es keine Ruhe. Sieben erschießt er, den achten Mann begnadigt er, weil der bei dem Attentat gezielt daneben geschossen hatte.

In einer eiskalten Nacht steht die blinde Jenny Aaron auf der Seebrücke von Binz und fühlt, daß sie nicht allein ist. Jemand hat sich lautlos genähert, steht drei Meter entfernt und beobachtet sie. Dann verschwindet er. Er hätte sie problemlos erschießen können und dafür auch einen Grund gehabt, denn Jenny und Pavlik haben seinen Vater umgebracht. Der lautlose Nachtschatten auf der Brücke ist eine Frau, Malin, ein Spiegelbild Aarons: Vom Vater schon als Jugendliche zur Killerin gedrillt, inzwischen eine skrupellose Auftragsmörderin, die mit einer Bombe dafür sorgt, daß die halbe „Abteilung“ in die Luft fliegt, obwohl sie nur Aaron und Pavlik töten wollte.

Anfangs wehrt sich Aaron gegen die Einsicht, daß ihr Vater, der legendäre Kommandant der GSG-9, sie zu seinem Ebenbild geformt und sie deshalb seit ihrer Jugend zur Tötungsmaschine ausgebildet hat. Erst als sie einen Brief Malins liest, versteht sie, was beide Väter ihren Töchtern angetan haben und kann sich von ihrem idealisierten Vaterbild lösen. Das ist dieser Roman also auch: Die Geschichte einer schmerzhaften Emanzipation.

Neun Dinge, die dieses Buch grundieren:

Kenntnisse der Medizin
der fernöstlichen Philosophie und Kampfkunst 
der Literatur
der Politik
Kenntnis von Filmen und Musik
das Wissen, wie viele Engel auf eine Nadelspitze passen
und vor allem: Menschenkenntnis.

Aber all das zusammen ergäbe noch nicht den perfekten Thriller, wenn Pflüger nicht auch über eine ausgefeilte Dramaturgie und einen ganz eigenen Stil verfügen würde. Er kann sich, so seltsam es klingen mag, in die Explosion einer Bombe einfühlen und sie mit kältester Präzision beschreiben.

Für seine Figuren entwickelt er eine Empathie, die selbst in kurzen Dialogen beim Leser ankommt. Es gibt in diesem Buch keinen überflüssigen Satz, keine redundante Szene, keine falsche Tonlage und keine verunglückte Metapher. Ich kenne keinen zeitgenössischen Romanautor, der stilistisch auf einer Höhe mit Andreas Pflüger wäre. Roquairol, Georg Letham – Pflüger hat das Böse neu erfunden und das Rettende dazu.

Aber wenn eine Geschichte gut ausgeht, ist sie nicht zu Ende erzählt. Helmchen wird wieder gesund, und Pavlik wird mit einer neuen Mannschaft Malin weiter verfolgen. 51 Tote mitten in Berlin können nicht ungerächt bleiben. Malin ist die heimliche Hauptfigur im Hintergrund, ein tragischer eiskalter Engel, der Jenny ersetzen könnte. Es bleibt spannend.

Werner Fuld

  • Andreas Pflüger: Geblendet. Thriller. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 508 Seiten, 22 Euro. Verlagsinformationen.

Siehe auch Werner Fuld über Andreas Pflügers „Niemals“: Wie man Thriller in große Literatur verwandelt, CrimeMag November 2017.

Werner Fuld hat viele Jahre als Literaturkritiker unter anderem für die FAZ und Die Zeit gearbeitet und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt von ihm erschienen: „Das Buch der verbotenen Bücher. Universalgeschichte des Verfolgten und Verfemten von der Antike bis heute“ (Galiani, Berlin 2012und„Eine Geschichte des sinnlichen Schreibens“ (Galiani, Berlin 2014).

Siehe auch: „Ich bin ja nur das Gefäß meiner Figuren“ – Alf Mayer im Gespräch mit Andreas Pflüger (CrimeMag Oktober 2017)
Alf Mayer im „strandgut“ über Andreas Pflügers „Geblendet“: Der beste Thrillerautor der Welt (S. 31)
Peter Münder über „Operation Rubikon“: Wenn die Mafia mitregieren will (CM April 2017)
Sonja Hartl über „Endgültig“: Die Professionalität von Ermittlerinnen (CM Mai 2016)
Sowie: Wer Andreas Pflüger zu seiner blinden Heldin inspirierte: Wartet, bis der Blinde ihn gesehen hat (CrimeMag, November 2017)
Und, aktuell: Von Gantenbein zu Frankenstein. Andreas Pflüger und sein Fachberater Professor Dr. Bernhard Sabel über die Liaison von Literatur und Hirnforschung, Jenny Aarons Stressfaktoren, toxische Hoffnung, Reparaturmechanismen des Nervensystems und Blindheit als anderes Sehen. 

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