Geschrieben am 1. Oktober 2021 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2021

Sonja Hartl zu Ivy Pochoda „Diese Frauen“

Auf den Straßen von Los Angeles

Diese Frauen, die ihre toten Töchter nicht vergessen können. Diese Frauen, die ihr Geld auf der Straße verdienen. Diese Frauen, die sich einfach nicht mit Lügen abfinden wollen. Diese Frauen, die wegschauen. Diese Frauen, die die Hoffnung auf ein besseres Leben nicht aufgeben wollen. Diese Frauen, die in Gefahr geraten, nur weil sie Frauen sind. Von diesen Frauen erzählt Ivy Pochoda in ihrem bisher besten Kriminalroman.

Sechs Frauen in Los Angeles im Jahr 2014 stehen im Mittelpunkt des Romans. Verbunden sind ihre Leben durch die Taten eines Serienmörders, der 1999 in West Adams, Los Angeles 13 Frauen ermordet hat. Dazu gehört Dorian, deren Tochter Lecia das letzte Opfer des Killers war, bevor er aufgehört. Sie war damals dem Rückweg vom Babysitten, wie immer hatte sie auf die Nachbarstochter Julianna aufgepasst. 15 Jahre später arbeitet Julianna als Stripperin. Sie fotografiert ihren Alltag, will aussteigen, dann aber wieder nicht. Sie ist genervt von Dorians Besorgtheit und erhofft sich von der Nachbarstochter Marella Einblicke in eine andere Welt. Marella ist eine Künstlerin, die sich der Auseinandersetzung mit der Zerstörung des weiblichen Körpers verschrieben hat – und ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter Anneke hat, die überfürsorglich und kontrollierend ist. Zu diesen vier Frauen kommen noch Feelia, die einzige Frau, die damals einen Angriff knapp überlebt hat und seither überzeugt ist, jemand würde sie beobachten. Außerdem Essie, die Polizistin, die seit eines Vorfalls vom Morddezernat ins Revier Southwest versetzt wurde – und erkennt, dass es zwischen drei aktuellen Todesfällen Zusammenhänge gibt. Mehr noch: sie glaubt, der Killer von damals ist wieder aktiv. Aber ihre Kolleg*innen vertrauen ihr nicht mehr.

Jeder dieser Frauen ist ein Teil in Ivy Pochodas „Diese Frauen“ gewidmet, zwischen ihnen gibt es Überschneidungen und Begegnungen. Damit bricht Pochoda das gängige Serienkillernarrativ, das sich überwiegend auf den Täter konzentriert, während die üblicherweise weiblichen Opfer oftmals nur dazu dienen, seine Taten zu erläutern. Bei Pochoda nun sind diese Frauen Individuen, sie haben Ambitionen und Träume, sie trauern, bedauern, hoffen und versuchen einfach nur zu überleben. Sie werden nicht aus der Perspektive des Mörders gesehen, sondern als die, die sie sind. Deshalb verbinden die Taten des Killers die Lebensgeschichten dieser Frauen, sie sind Opfer, Überlebende, direkt oder indirekt, körperlich oder psychologisch. Aber diese Verbindung ist nur ein Detail in ihren Leben – sie sind mehr als das. Außerdem haben sie etwas gemeinsam, was in dieser Welt schon gefährlich genug ist: Sie sind Frauen in einer Gesellschaft, die Gewalt gegen Frauen nicht nur hinnimmt, sondern ermöglicht. Dazu gehört, dass die Polizei Morde an Prostituierten nicht ernstnimmt oder erkennt, dass die Opfer weniger durch ihre Arbeit als den Tatort verbunden sind. Dazu gehört, dass eine Teenagerin von Männern belästigt wird und andere glaube, das sei ein Kompliment. Dazu gehört, dass Frauen zu Objekten gemacht werden, dass sie angestarrt und belästigt werden. Deshalb stimmt, was Dorian sagt: „Die Welt ist voller Gewalt, und man muss verrückt sein, wenn man denkt, dass man ihr entgehen kann.“ Diese Frauen wissen, wie gefährlich es ist, auf den Straßen auf Los Angeles unterwegs zu sein – aber es auch ihre Stadt, es ist auch ihr Leben. Und davon erzählt Pochoda eindrucksvoll.

Ivy Pochoda: Diese Frauen. Übersetzt von Sigrun Arenz. Ars Vivendi 2021. 360 Seiten. 23 Euro.

Über Pochodas vorherigen Kriminalromane finden Sie eine Kritik von Thomas Wörtche zu „Visitation Street“. Und von Andrea O’Brien und Katja Bohnet zu „Wonder Valley“

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