
Warum werden Kriminalromane von Frauen seltener besprochen?
Einige Antwortversuche – von Sonja Hartl
Die Zahlen sind bekannt: Die Studie #frauenzaehlen hat 2018 ergeben, dass bei allen rezensierten Kriminalromanen im März 2018 die Bücher von Autorinnen 24 Prozent ausmachen. Dabei besprechen Kritiker zu 82% Männer, Kritikerinnen zu 66%. In der Kriminalliteratur gab es von allen untersuchten literarischen Bereichen die größten Unterschiede. Natürlich habe ich in den zwei Jahren seit Veröffentlichung immer wieder darüber nachgedacht, wie sich diese Zahlen erklären lassen. Die Antwort habe ich nicht, aber einige Antwortversuche: Warum also werden Kriminalromane von Frauen seltener besprochen? Und was muss sich verändern?
Krimi-Kritik wird nebenbei erledigt
Voraussetzung für eine Veränderung ist ein Bewusstsein für das Problem. Mittlerweile kann niemand mehr behaupten, es sei eine gefühlte Ungerechtigkeit, dass Frauen seltener besprochen werden, das haben die Studien belegt. Tatsächlich bin ich auch sehr vorsichtig optimistisch, dass allmählich in die meisten Redaktionen und Verlage vorgedrungen ist, dass es da ein strukturelles, historisch gewachsenes Ungleichgewicht gibt. (Oder es wenigstens gerade „ein Trend“ ist, darauf zu achten.) Das heißt aber noch nicht, dass sich dieses Bewusstsein auch auf Genre-Literatur erstreckt. Kriminalliteratur ist zwar populär, aber (oder eher: deshalb?) sie spielt in allen Debatten über die Unterschiede eine klar untergeordnete Rolle.

Die Gründe dafür führen schon zu meinem ersten Erklärungsansatz: Die Auffassung, Kriminalliteratur sei keine „richtige“ und daher auch keine „relevante“ Literatur ist weiterhin sehr verbreitet. Nicht nur im Print-Feuilleton. Aber weil sie populär ist, lassen sich damit Hefte verkaufen und Aufmerksamkeit generieren, also wird sie in einer Beilage, einem Spezial oder nebenbei abgehandelt. Da sie jedoch nicht ernstgenommen werden muss, wird sie miterledigt – gerne auch von dem Praktikanten oder dem Redakteur, der zufällig Stieg Larsson gelesen hat. (Seit Thomas Wörtches Keynote über „Langeweile“ bei „Krimis machen 4“ denke ich darüber nach, ob das Feuilleton überhaupt der richtige Ort für Krimi-Kritik ist. Aber das ist eine andere Diskussion. Debatten oder gar tiefergehende Beschäftigung ist so nicht möglich: Der Blick von außen kann fraglos interessant sein; jedoch ist er immer auch begrenzt.
Nur bestimmte Kriminalliteratur ist feuilletonwürdig
Die alte U/E-Schere also bestimmt die Wahrnehmung von Kriminalliteratur, dazu kommt ein weiterer interessanter Punkt: Besprochen werden in Feuilletons nicht unbedingt die Kriminalromane und Autor*innen, die populär sind, sondern die, die sich in den vergangenen Jahren bereits als „feuilletonwürdig“ („seriös“, „ernstzunehmend“) erwiesen haben. Und das ist in der Regel eine bestimmte Art Kriminalliteratur: Sie schielt stilistisch weniger auf Gosse als auf das „Hochliterarische“. Sie handelt von Themen, die als wichtig und relevant gelten, also: klassisch männlich konnotierte politische und wirtschaftliche Themen. Konkret: Eher Außenpolitik, Krieg und Korruption als Pflege, häusliche Gewalt und Lohndumping. Diese Themen werden eher in Büchern von Autoren verhandelt, auch weil Autorinnen in Verlagen oftmals auf Skepsis stoßen, wenn sie darüber schreiben und diese Bücher deshalb gar nicht erst erscheinen. Es gibt sie – Dominique Manotti fällt mir sofort ein. Eine Autorin, die mittlerweile breite Aufmerksamkeit im Feuilleton bekommt, gerne auch von Kritikern. Aber Ausnahmen sind Einzelfälle (Stichwort: Schlumpfine-Prinzip). Deshalb gehört zu dem Willen zur Veränderung nicht nur, nach Autorinnen zu suchen, die diese unausgesprochenen Voraussetzungen erfüllen. Die Voraussetzungen an sich, die Wahrnehmung und die Bewertungen von Relevanz müssen sich ändern, damit eine größere Vielfalt an Kriminalliteratur besprochen wird. (Interessant wäre zu sehen, welche Autorinnen und welche Verlage wie häufig besprochen werden.)

Verstärkungseffekte
Die mangelnde Krimi-Kompetenz perpetuiert zudem bestehende Ungleichheiten. Zum Beispiel ist auffällig, dass Titel von der Krimibestenliste (Disclaimer: Ich bin in der Jury) häufig von Feuilletons aufgegriffen werden. Das ist eine Aufgabe dieser Liste, dadurch haben auch unbekanntere Autor*innen eine Chance, besprochen zu werden. Aber: Auch auf dieser Liste gibt es ein Ungleichgewicht zugunsten von Männern. Wie bei allen Krimi-Preisen. Und das setzt sich dann wiederum fort. (Hier wäre interessant, wie sich die Verteilung entwickelt.)
Die Geschichte des Kriminalromans begünstigt Männer
Eigentlich ist es ganz einfach. Wenn ich über ein Genre schreibe, sollte ich mich auch in dessen Geschichte auskennen. Allein das ist schon selten genug der Fall. Dazu kommt aber, dass die gängige Geschichte der Kriminalliteratur sehr, sehr männlich geprägt. Klar, es gibt Agatha Christie, Dorothy L. Sayers und Patricia Highsmith. Aber das sind drei Autorinnen, die einer Horde Autoren gegenüberstehen. Und es sind drei Autorinnen, die eine bestimmte Art von Kriminalliteratur verkörpern: Christie und Sayers eher Rätselkrimi, das wurde und wird schon immer eher als Unterhaltung gesehen.
Highsmith war mal eine „Psychothriller-Autorin“. Darunter versteht man mittlerweile aber alles, in dem es Blut, Gemetzel und nach Möglichkeit einen Serientäter gibt. Also wäre Highsmith heutzutage eher eine psychologische Spannungsautorin. Dieses Segment ist hierzulande vor allem von „Domestic Thriller“ besetzt, die kaum im Feuilleton besprochen werde. (Was ich bedauere, denn gerade weil sie so populär sind, sollten man sich zumindest mal exemplarisch mit ihnen beschäftigen.) Dazu sind nun in diesem Jahr Autorinnen wie Angie Kim und Sara Sligar gekommen, durchaus feuilletonwürdig, würde ich sagen. Aber es geht hier ja nicht um die Schlumpfines, sondern die Regel. Und Psychothriller, psychologische Spannungsromane oder wie immer man sie nennen möchte werden zwar viel verkauft und sehr häufig von Frauen geschrieben, aber selten besprochen.
Hier kommt eine Hierarchisierung von Kriminalliteratur zustande, die erst im Rückblick entstanden ist: Im Gegensatz zu Nicht-Genre-Literatur hatte Kriminalliteratur kein Distinktionsmerkmal, deshalb wird hier die Literatur von Frauen nicht wie im Nicht-Genre-Bereich als ‚vorweggenommener Sonderfall‘ gesehen. Stattdessen gibt es eine andere Unterscheidung: Frauen schreiben populäre Kriminalromane, Männer relevante. Diese Unterscheidung zeigt sich deutlich im heutigen Umgang mit „Noir“ (und hardboiled, aber das wird meist unter Noir subsummiert). Das ist die Kriminalliteratur, der die höchste Literarizität zugesprochen wird – es ist ja schließlich alles so düster und existentiell. Angesichts der Geschichte des Noir ist das ausgesprochen paradox, aber Hammetts und Chandlers bildungsbürgerliche Relevanz wird gerade durch Neuausgaben abermals bestätigt. (Über Neuausgaben müsste auch mehr gesprochen werden – Thomas Wörtche hat das in der Buchkultur getan, ich im Magazin BÜCHER). Autorinnen sind aus der Geschichte von Noir und Hardboiled weitgehend herausgefallen. Sie sind viel weniger bekannt, oftmals noch nicht einmal in Übersetzungen erhältlich. Dadurch hat sich verengt, was als Noir angesehen wird, vor allem wird dadurch völlig übersehen, wie nah psychologische Spannungsromane und Noir beieinanderliegen können. Würden Autorinnen in die Geschichte von Hardboiled und Noir integriert, würde das wertende und hierarchisierende Verständnis von Noir als Literatur und psychologischer Spannung als Unterhaltung ins Wanken geraten.

Voraussetzung für Veränderung: Hartnäckigkeit
Nun glaube ich schon, dass sich im Krimi-Bereich etwas bewegt, sehr langsam, aber es bewegt sich. Damit sich aber mehr und dauerhaft ändert, ist Hartnäckigkeit ein wichtiger Faktor. Ich muss Redaktionen immer wieder Titel von Frauen vorschlagen. Das geht natürlich leichter, wenn man Zugang und einen guten Kontakt hat. Ich muss immer darauf achten, dass ich selbst Autorinnen berücksichtige – Kritiken sind eine Textart, aber das gilt auch für Interviews, Porträts und größere Beiträge, die allerdings ohnehin weniger Platz bekommen. Damit ich das kann, muss ich natürlich Kriminalliteratur von Frauen kennen. Und das macht Arbeit, die mir niemand abnimmt. Das beginnt mit der Suche nach interessanten Titeln, die fraglos mühsam ist, und endet bei der Vermittlungsleistung, die ich erbringen muss.
Alle diese Überlegungen gelten nicht nur für Kritiker*innen und Redakteur*innen, sondern für alle am literarischen Feld Beteiligten. Jeder kann in seiner Funktion und Rolle etwas bewirken, damit Kriminalliteratur diverser wird. Natürlich ist es leichter, auf Autor*innen und Titel zurückzugreifen, die bereits bekannt, etabliert und mit Lorbeeren bedacht sind. Aber dann bleibt es bei den Ausnahmen, bei den Schlumpfinen.
Sonja Hartl
Ihre Texte bei uns. Ihr Blog Zeilenkino.