Geschrieben am 1. Juni 2023 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2023

„Rue St. Denis“ – Zu Brigitte Tasts Diageschichten

Eine Annäherung von Alf Mayer

Brigitte Tast ist analog. Ihre Kunst ist es auch. Mit dem Medium Fotografie – bei ihr immer eine analoge Mittelformatkamera – und ihrer radikalen Subjektivität als Erzählerin und Darstellerin hat sie eine eigene mediale Form entwickelt. Sie selbst nennt es „Diageschichten“. Welch ein harmloses, eingängiges Wort für außerordentliche Erfahrungen. 

Ihre erste Diageschichte führte Brigitte Tast im Februar 1985 öffentlich vor. Mehr als 20 solcher Geschichten sind es mittlerweile geworden. Wie vielschichtig sie sind, dekonstruierte zum Beispiel im Jahr 2006 die Ausstellung „Gespiegeltes – Fotografien aus Diageschichten“ im Filmmuseum Potsdam. In der Ausstellung wurden erstmals Fotografien aus verschiedenen Geschichten als Galerie-Prints gezeigt. Sie machten offensichtlich, dass in diesen Aufnahmen mehr steckt als die Aufgabe, eine Geschichte zu transportieren.

Bereits in der Filmklasse der HBK Braunschweig veröffentlichte Brigitte Tast zusammen mit dem Publizisten Hans-Jürgen Tast erste Foto-Text-Kombinationen in der eigenen Publikations-Reihe „Kulleraugen“ (einige Ausgaben hier und hier und hier besprochen). Sie inszeniert Selbsterlebtes und Erdachtes mit Darstellern, verknüpft das immer wieder mit Wirklichem und mit Persönlichem: mit autobiographischen Erlebnissen, mit Wunsch- und Wachträumen, Phantasien und Transgressionen, mit Hinterfragung ihrer Motive und mit realem Umfeld, mit echter Beobachtung. Mit Seele. Und mit Spiegel. 

Walter Benjamin wusste: „Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht: anders vor allem so, dass an die Stelle eines vom Menschen mit Bewusstsein durchwirkten Raums ein unbewusst durchwirkter tritt … Bildwelten, welche im Kleinsten wohnen, deutbar und verborgen genug, um in Wachträumen Unterschlupf gefunden zu haben.“ (Kleine Geschichte der Photographie, 1931 in der Wochenzeitung „Die literarische Welt“ erschienen)

Brigitte Tasts Geschichten sind auch Selbsterforschungsprojekte, das macht sie zur Schwester radikaler Performanceküstlerinnen, wobei ihr Medium eher die leiseren Töne sind, das Nonverbale zwischen den Worten und die Vieldeutigkeit zwischen den Bildern. Ihre Fotografien und Geschichten sind von großer Faszination. Und die Diageschichten im Vortrag noch einmal eine Steigerung: Ihre Texte liest sie dabei selbst ein und stellt so den unmittelbaren Kontakt zum Publikum her. Unmöglich, davon nicht berührt zu werden. – Und das funktioniert sogar in absentia, nämlich auch als Buch. Exemplarisch dafür: der gerade erschienene Band „Rue St. Denis“.

Wie in den meisten Arbeiten von Brigitte Tast flossen auch in „Rue St. Denis“ auf unterschiedliche Weise authentische Elemente dabei ein. Diese Diageschichte ist dennoch keine Dokumentation, es ist die dramaturgische Bearbeitung aus Erlebtem und Ausgedachtem, eine narrative Fiktion, heißt es in der Einleitung. Die Fotografien wurden in Hildesheim, Saarbrücken, Paris, Kassel-Wilhelmhöhe, Honfleur/Normandie und in den Gorges du Gardon aufgenommen. Aufgeführt wurde die Diageschichte erstmals 1989. Sie beginnt so:

„Nicht nur diejenigen, die sich meine Geschichte ansehen,
gehen auf eine ungewisse Reise, – sondern auch ich.
Nicht nur sie wissen nicht, was sie erwartet, – auch ich.“

Noch ist Schützenfest in Hildesheim. „Mein Fotoapparat schleicht um das Rathaus“, schreibt die Erzählerin. Sie will aufbrechen. Am liebsten zwei Wochen Südfrankreich mit ihrer Freundin Mona. Der ist das zu lang. 3,4 Tage gemeinsam in Paris, wo gerade das Centre Pompidou eröffnet wurde, sind der Kompromiss. Dort „in Paris gibt es eine Straße, die mich schon immer interessierte … Rue St. Denis, fremde, lange Straße im Zick-Zack-Kurs. Und doch in Wirklichkeit nur geradeaus.“

Brigitte Tast (links) am Centre Pompidou

Sexuelle Provokation dort überall. Pin-up-Püppchen in den dunklen, engen Hausfluren. Und verlegene, verklemmte Männerblicke, die daran vorbeiziehen. 

„Süchtig und kleinlaut.
Verdrehte Welten.
Das Gute und das Böse in einem rasenden Karussell.
Würde ich mit dem Finger auf das Schlechte zeigen, wäre es längst vorbei.“


Wie Spioninnen wollen sie und Mona diese verbotene Welt erkunden. Im Mata-Hari-Rock. Die Fahrtzeit nach Paris im Auto kommt ihr wie Gefängniszeit vor. 
Es ist Montag, Wochenanfang in Paris. „Die Stadt der Liebe ist vollgestopft mit Liebeshungrigen. Eine davon bin ich.“

Für meine Geschichten zeige ich mich herum„, schreibt die Erzählerin am Mittwoch. „Meinen Körper und meine Gedanken, egal wie schwer es mir auch fällt.
Aber inzwischen weiß ich auch, wie sehr ich dies brauche.
Das ist ein Stück von mir.“

Regenbögen sollten ihre Geschichten gerne sein. Brücken nach irgendwohin. 
Sie selbst der Regenbogen. Die Brücke.

Immer wieder hat das Buch/ hat die Geschichte Leerstellen. Weiße Seiten. Pause und Verharren. Wieder Anlauf nehmen.
Erst wenn die Erzählerin wieder zuhause  ist, fängt die Geschichte an. Wird eine Geschichte daraus.
Sie wird nie fertig.

Und Mona hat viele Namen.
Regina,
Daniele,
Gabi, 
Magda, 
Nele.

Aber auch Brigitte.

Zwei Seiten Weiß. Und die Jahreszahl 1989.

Geradezu prototypisch veranschaulicht die Foto-Erzählung „Rue St. Denis“ Brigitte Tasts Kunst. Der Hardcover-Band gibt dem angemessen haptische Gestalt. Zudem spendiert das Buch noch 50 Seiten Anhang zu den Diageschichten und zur Arbeitsmethode, versammelt Pressestimmen und schließt mit einem Werkverzeichnis. Das alles mit einem für 16,80 Euro sehr günstigen Preis. Es gibt auch eine limitierte und signierte Vorzugsausgabe von 15 Exemplaren mit einer analogen Original-Fotografie in Museumsqualität auf 18×13 Barytpapier als Beilage.

Brigitte Tast: Rue St. Denis. Kulleraugen – Visuelle Kommunikation Band 56. Herausgegeben von Hans-Jürgen Tast. Kulleraugen Verlag, Schellerten 2023. Hardcover, 168 Seiten, 109 S/W-Fotos, 16,60 Euro.Internetseite des Verlags hier.

Alf Mayer

Siehe auch meine Besprechungen von:
Brigitte Tast: Rot in Schwarz-Weiß – Farbe bekennen
Brigitte Tast: Restlessness. Berlin-Aufenthalte (1995-98) – Die ruhelosen Jahre
Kulleraugen Heft 50. Rue St. Denis. Eine Diageschichte. Kritiken, Reaktionen, Resonanzen – Rue St. Denis, Essaouira und andere Orte

Und siehe auch, von Brigitte Tasts Tochter:
Isadora Tast: Hollywood Calling. Mit einem Text von Georg Seeßlen. edition FOTOHOF, Salzburg 2020. Hardcover, 176 Seiten, 110 Farb-Abbildungen. Internetseite von Isadora Tast. – Besprechung bei uns hier.

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