Geschrieben am 1. Juli 2020 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2020

Alf Mayer: Ein neues Fotobuch von Brigitte Tast

Farbe bekennen

Über den Fotoband „Rot in Schwarz-Weiß“

Schwarzes Vorsatzpapier. Dann der Titel und der Inhalt. „Das Dorf, mein Zuhause“, das erste Kapitel. Schellerten, im Osten des Landkreises Hildesheim in Niedersachsen. Eines der ersten Fotos blickt der ICE-Strecke Berlin-Kassel nach. Im goldenen Schnitt hinten in der Bildmitte liegt die Sehnsucht. Das Suchen.

Atelier.
Dunkelkammer.
Öffentlichkeit.

1,2,3.
Wenn es doch so einfach wäre
in diesem Gestrüpp,
das Leben heißt.

So lautet einer der Einträge. Über die Jahre hinweg geschrieben. Zahllose Merkzettel, mit emotionalen Gedankenblitzen und nüchternen Erkenntnissen, oft seitenlang, manchmal knapp und fragmentarisch. Zuerst aber das Dorf. Der Dorfplatz, die Nachbarhäuser. Der Blick aus dem Fenster. Die Jahreszeiten. Die Banalitäten. Das Schöne. Das Alltägliche. Ein Neubaugebiet. Bagger. Zeit. Ein Igel auf dem Pflaster.

Ist die Zeit das, was durch’s eigene Fenster gesehen wird?

Schellerten © Brigitte Tast

Auf Seite 46 ist es Zeit für einen Ausbruch. Die rote Stadt. Marrakesch. Die Tochter hat ihr die Reise geschenkt, hat sie damit überrascht, weil sie weiß, wie gerne sie Marokko hat. Sie durchstreift die Stadt. Fotografiert. 

Birgitte Tast ist Fotografin. Wenn man sie bei der Arbeit sieht, könnte man denken, dass sie mit einer Kamera geboren worden ist. Sie macht das mit Leib und Seele. Viel Seele. Aber eben auch Leib. Leib und Seele.
Dieses Buch hat hochriskante Aufnahmen.

Atelier. Dunkelkammer. Öffentlichkeit.

Aber erst einmal kommt es zu seinem Titel. Die vielen Störche in der südlichen Altstadt von Marrakesch helfen dabei, ihre Nester oben auf Antennen-Masten, auch dem archaischen Stadttor Bab Agnaw und auf den Ruinen des ehemaligen El Badi-Palasts. Weiß, Schwarz und Rot sind ihre Farben. 
Es sind die Farben von Brigitte Tast.
„Rot in Schwarz-Weiß“ heißt ihr neues Buch. 260 Fotografien, Schwarz-Weiß. 
Mit so viel Rot, mit so viel Wagnis, dass am Ende niemand, der dieses Schwarz-Weiß-Buch gesehen hat, noch fragen wird: Und wo bitte war das Rot? 

Im Maghreb waren Brigitte Tast und ihr Mann Hans-Jürgen das erste Mal Anfang der 1970er Jahre. Sie trampten nach Diabat im Qued Ksob, ein kleines Dorf im Süden am Atlantik, von Freunden empfohlen. Weißer, endlos langer Sandstrand. „Laut jubelnd warfen wir uns nach tausenden landstraßen-Kilometern voller Hitze, Staub und Schweiß nackt in die hohe Brandung.“ 

Nein, davon gibt es kein Bild. Auch nicht von einem Strand. So arbeitet Brigitte Tast nicht.

© Alle Fotos: Brigitte Tast: Rot in Schwarz-Weiß

Die Brandung, die sie uns im nächsten Kapitel aufblättert ist die von  Sit-ins und Demos, Konzerten, besetzten Häusern, das Abaton-Kino in Hamburg, Treffen der Filmarbeiterinnen in Berlin, Festivals, Wohngemeinschaften, sexuelle Befreiung. „Die Älteren waren die Anderen.“ Gleichaltrige, das war ein Begriff wie eine Tür.
Swingin’ London. Chelsea. Amsterdam. Zuhause gibt es eine Tochter. Gruppenporträt mit Kamera. Berlin. Die Kulturherberge Wernershöhe im Leinebergland.
Ein Zitat von Alexander Kluge: „Menschen haben zweierlei Eigentum: Lebenszeit und Eigensinn.“
Jetzt geht es hinter die weiße Tür. 
Ins Atelier.
Zum Spiel.

Zweihundert Seiten Suche und Grenzüberschreitung. Teils Fotos, die einen den eigenen Herzschlag hören lassen.

Zuerst treffen wir die Fotografin. Hinter der Rollbildkamera, die Hände ausgebreitet wie eine Orchesterdirigentin, den Kopf leicht vorgebeugt, das linke Auge am Sucher.
„Seit meiner Kindheit überantworte ich mich gern dem Spiel“, steht als Zitat von Sophie Calle daneben. 

Brigitte Tast


Werkstattbilder. 
Kamera.
Stativ. 
Spiegel.
Die Fotografin mit ihrem Model. 

Und wo ist das Rot?

Keine Sorge. Jetzt folgt das Kapitel „Die Puppen der Marta Kuhn-Weber“. Es ist der umfangreichste Teil des Buches. Das Herzstück. 136 Seiten.
Atemlosigkeit.
Eindringlich. Sensationell. Große Kunst. Und Geheimnis. 
Rot. Rot. Rot.

Rot ist immer das Jetzt, notiert die Seite 338.
Neben einem Selbstporträt in einem zerbrochenen Spiegel finden wir:

Wenn du/ versehentlich/ einen Spiegel zerbrichst,/ wird in Mexiko erzählt,/ erscheint dir ein Engel.
Er fragt Dich dann/ nach/ einem Wunsch/ von Dir.

Offenheit wäre das erste, was ihr einfällt. Verwegenheit dann, als Ansporn. Das Spiel ist die erste Poesie des Menschen, heißt es von Jean Paul. Das Buch ist Wegsuche, Selbstvergewisserung, Offenlegung. Reise. Ästhetisches Erlebnis. Am Ende eine Annäherung an Egon Schiele.

Es ist die Fortsetzung des letzten Buchs von Brigitte Tast. Das hieß „Die Hüterin des Weiß“. Dieses Mal wird Farbe bekannt. Buchstäblich.

  • Brigitte Tast: Rot in Schwarz-Weiß. Kulleraugen-Verlag, Schellerten 2020. Hardcover, 376 Seiten, 260 S/W-Fotos, 34 Euro.

Parallel erscheint eine Vorzugsausgabe, Auflage: 25 signierte und nummerierte Exemplare, mit einer Originalfotografie in Museumsqualität.

PS. Fast zeitgleich mit ihrer Mutter veröffentlicht Tochter Isadora Tast jetzt im Sommer ein eigenes Fotobuch, es ist teilweise crowdfinanziert. Sein Thema: die 98 Prozent der Schauspieler, die in Hollywood (noch) nicht herausragend erfolgreich sind. 

Isadora Tast: Hollywood Calling. Mit einem Text von Georg Seeßlen. edition FOTOHOF, Salzburg 2020. Hardcover, 176 Seiten, 110 Farb-Abbildungen. Internetseite von Isadora Tast.

Und jüngst im Kulleraugen-Verlag erschienen, eine Recherche über den Bauhäusler Otto Umbehr (Umbo), einen bedeutenden Pionier des Bildjournalismus. Die Ausstellung „Umbo. Fotograf. 1926-1956“ läuft noch bis 20. Juli in der Berlinischen Galerie. 

  • Hans-Jürgen Tast: Umbo: „Ich habe es gesehen. Ich habe es erlebt. Ich habe es festgehalten.“ Kulleraugen-Verlag, Schellerten 2020. 64 Seiten, 40 S/W-Abb., 8,90 Euro.

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