Alf Mayer über:
KATAPULT: 55 Karten über Russland
Thomas Hermann: Überwachungsbilder
Halik Kochanski: Resistance: The Underground War in Europe, 1939-1945
Maren Lickhardt: Binge Watching
MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus
Criminal Women. Eine Geschichte der weiblichen Kriminalität
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Wurzelgrabungen
(AM) „Ich nahm das Frühstück in meiner Gaisblattlaube und las im Buche Judith und beneidete den grimmen Holofernes um das königliche Weib, das ihm den Kopf unterhieb, und um sein blutig schönes Ende“, lässt Leopold Sacher-Masoch 1870 den männlichen Protagonisten seiner „Venus im Pelz“ beim Frühstück träumen. In gleich fünf Varianten begegnet uns die biblische, den assyrischen Feldherrn köpfende Witwe Judith im 32-seitigen farbigen Bildinnenteil von Criminal Women, dem Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Museum LA8 – Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts in Baden-Baden (noch bis 29.02.2024).
Ausstellung wie Buch untersuchen den facettenreichen Begriff einer „weiblichen Kriminalität“ vom 19. Jahrhundert bis zur Zeit des Nationalsozialismus. Das ist ebenso verdienstvoll wie es eingegrenzt ist – eben auf historischer, vornehmlich kunsthistorischer Distanz. Dies angemerkt, ist der Band jedoch, seinem Verlag angemessen, dezidiert politisch, schürft am Wurzelwerk unserer Bilder und Vorstellungen vom „weiblichen Verbrecher“.
Ein eigener Beitrag widmet sich der russischen Wissenschaftlerin Pauline Tarnowsky (1848 – 1910), zu der sich kein deutschen Wikipedia-Eintrag findet, obwohl sie als „Mutter der Kriminologie“ gilt. (Siehe dazu auch aktuell im „Journal of Criminal Justice“: Vol 85, March-April 2023.) Ihre anthropologische Studie zu Prostituierten und Diebinnen erschien 1889 in Paris, ihr Hauptwerk „Les femmes homicides“ (Mörderinnen) 1908 auf Französisch, auf Russisch 1902. Cesare Lombroso, mit dessen Frau Nina sie befreundet war, und Guglielmo Ferrero standen mit ihr in Korrespondenz, nachgewiesener Weise bereits vor deren berühmter Abhandlung „La donna deliquente. La prostituta es la donna normale“ (Das Weib als Verbrecherin und Prostituirte, erstmals 1894 auf Deutsch). Tarnowsky stellte ihnen nicht nur zahlreiche Fotografien von Delinquentinnen zur Verfügung, sie ließ sie an ihren Forschungen in der Verbrecherinnenwelt teilhaben. – Interessant auch die Studie zu der in der NS-Zeit kriminalisierten Künsterlin Eva Schulze-Knabe und der Essay „Frauen als Verbrecherinnen wider Willen“ über die Regelung der Abtreibung seit 150 Jahren.
Jadwiga Kamola, Sabine Becker, Ksenija Chochkova Giese (Hg.): Criminal Women. Eine Geschichte der weiblichen Kriminalität. Verbrecher Verlag. Berlin 2023. 184 Seiten, mit 32 seitigem farbigem Bildinnenteil, 24 Euro.

Kulturphänomene, als solche ernst genommen
(AM) Mehr als 11.000 Webcams sind öffentlich zugänglich, in London wird man als Passant 300 Mal am Tag von einer Kamera erfasst, das „Internet of Eyes“ in unserer Cam Era ist überall – und uns schon seit den Sprüchen Salomons angekündigt: „Die Auge des Herrn sind überall, sie wachen über Gut und Böse.“ Dashcams zeichnen Meteoriteneinschläge auf, Bodycams das Ersticken von George Floyd, der Künstler Jeff Guess nutzt eine Radarfalle für sein Hochzeitsfoto.
Überwachungsbilder entstehen automatisch, ohne fotografische Geste. Thomas Hermann nimmt uns mit in eine kleine Schule des automatisierten Sehens, spart die Aspekte von Kontrolle der Kontrolleure, Demokratisierung, Open Data und Open Science nicht aus. Zur Surveillance fügt er noch Infoveillance, Artveillance, Sciveillance, Toutveillance. Der schmale und äußerst gehaltvolle Band ist großzügig und witzig illustriert, alleine die versammelten Cover von Orwells „1984“ sprechen Bände.

Die phänomenale 80-Seiten-Broschur ist Teil der Reihe „Digitale Bildkulturen“, die – herausgegeben von der Medienwissenschaftlerin Annekathrin Kohout und dem Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich – seit 2019 im Verlag Klaus Wagenbach erscheint. Es ist die erste Buchreihe, die sich systematisch mit der ästhetischen, gesellschaftlichen und politischen Dimension von Bildphänomenen des Digitalen beschäftigt. Der Wagenbach Verlag beweist mit dieser Reihe sein nachhaltiges Interesse an ästhetischen Fragen, siehe auch seine 1988 gegründete Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek (KKB, daraus bei uns jüngst besprochen Peter Burkes „Tumult und Spiele“). Die Methode Aby Warburgs, Bildpraktiken unabhängig von ihrem Ort innerhalb der Kultur ernst zu nehmen und in größere kulturelle und soziopolitische Zusammenhänge zu stellen, findet hier reichhaltige Praxis. Zur Reihe gehören auch ein Youtube-Kanal und ein ständig fortgeschriebenes Glossar. Buch-Themen waren unter anderem bereits: Videospiele, Emojis, Copyright, Krypto-Kunst, Gesichtserkennung, Meme, Gifs, Screenshots, Netzfeminismus, Selfies, Filter; im September erscheint „KI-Kunst“ unseres Autors Merzmensch.
Ebenfalls aktuell aus dieser Reihe kommt Binge Watching, dem wir vermutlich alle schon gelegentlich verfallen sind. Die Literatur- und Medienwissenschaftlerin Maren Lickhardt klärt etymologische Bezüge des Begriffs, führt uns durch die Geschichte der autonomen (selbstbestimmten?) Medienrezeption, schon das 18. Jahrhundert kannte die Lesesucht, zeigt Freiräume, Abhängigkeiten, die Macht der Fernbedienung und deren ästhetische Räume auf. Schmal und kompakt und anregend, ist dies ein weiteres Werk aus einer rundum empfehlenswerten Buchreihe.
Thomas Hermann: Überwachungsbilder. Reihe Digitale Bildkulturen, Wagenbach Verlag, Berlin 2023. 80 Seiten, viele Abbildungen, broschiert, 12 Euro.
Maren Lickhardt: Binge Watching. Reihe Digitale Bildkulturen, Wagenbach Verlag, Berlin 2023. 80 Seiten. broschiert, 12 Euro.

6.653 Mal das Saarland
(AM) Seit 2015 krempelt ein kleiner Verlag von Greifswald an der Ostsee aus die Branche um. Dies nur mit Köpfchen und vielen frischen Ideen, ohne Großinvestoren oder Hauptstadt-Connections. Die Idee hinter KATAPULT: Wissenschaft für jeden verständlich machen und in originelle Karten übersetzen. Die Grafiken der Greifswalder gehen immer wieder online viral und erreichen Hunderttausende. Daraus ist längst ein Magazin (Kopfzeile: für Eis, Kartografik und Sozialwissenschaft) mit beständig wachsender Auflagenzahl (derzeit: 90.000) und auch ein Buchverlag geworden. Bei uns im letzten Monat daraus von mir besprochen, der Warschau-Roman „Geblendet von der Nacht“ von Jakub Żulczyk.
Nun also nach „100 Karten über die Ukraine“ jetzt 55 Karten über Russland, „weil es gerade jetzt wichtig ist, alles über Russland zu wissen“. Das ist skurril, politisch, witzig und vor allem informativ. Und bildhaft. Wir sehen elf Zeitzonen, den flächenmäßig größten Staat der Erde, fast so groß wie ganz Afrika oder wie 6.653 Saarländer. Es gibt Chroniken und kleine Personenporträts, verblüffende Infografiken zu Temperaturen, zu nuklearen Sprengsätzen, zur Pressefreiheit oder zum Gulag-System, zur Größe des Baikalsees (von Greifswald bis Wiesbaden), zur Länge der Nato-Grenze (2.626 km, doppelt so viel wie vor dem Ukrainekrieg), zu kulinarischen Spezialoperationen, vulgo: Burger-Aneignung nach der McDonald’s-Übernahme, zu Energieverbrauch und Klima, Weltraum und Menschenrechten, Pressefreiheit, zu Gefangenen und zur Anzahl von Orten, die Moscow heißen, in den USA. Sport und Doping oder die Eisenbahnstrecken finden ebenso bildhaften Ausdruck. 9.289 km lang ist die Strecke von Moskau bis Wladiwostok. Sie muss warten, bis ich sie von meiner bucket list streichen kann.
55 Karten über Russland. Katapult Verlag, Greifswald 2023. Gebundene Ausgabe, 128 Seiten, 20 Euro.

Brutalität in Stein
(AM) „Brutalität in Stein“ hieß 1961 der erste (Kurz-) Film von Alexander Kluge. Sein Thema: das Parteitagsgelände in Nürnberg und die dort versammelte Blut-Geschichte. Es dauerte dann noch bis 2001, ehe das „Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände“ am Ort der größten Nazi-Aufmärsche angemessen über diesen Fleck der deutschen Geschichte informierte. (Inzwischen wird dort wieder umgebaut, der kolosseums-große Innenhof der einstigen Nazi-Kongresshalle wird heute als Parkplatz genutzt, Gedenkkultur zum Kotzen.) Und 2023 ist es geworden, bis das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB) nun die Aufarbeitung seiner Geschichte durch eine Unabhängige Historikerkommission der Öffentlichkeit präsentiert. Das Ergebnis ist eine vierbändige Publikation mit 1024 Abbildungen, 1.300 Seiten schwer („Planen und Bauen im Nationalsozialismus – Voraussetzungen, Institutionen, Wirkungen“, Hirmer Verlag, 270 Euro). Zugleich zeigt die Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin eine Ausstellung zum Thema. Ihr Titel und auch der des (mit 20 Euro günstigen) Katalogs: MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus.

„Bauen und planen gehören zum Wesenskern nationalsozialistische Herrschaft. Sie sind kein Dekorum. sondern in ihn zeigt der Nationalsozialismus, das was er will“, konstatieren die Mitglieder der Unabhängigen Historikerkommission (UHK): Wolfgang Benz, Tilman Harlander, Elke Pahl-Weber, Wolfram Pyta, Adelheid von Saldern, Wolfgang Schäche, Regina Stephan. Sie alle sind mit Aufsätzen im Katalog vertreten, der reich illustriert, Wohnungs- und Siedlungsbau im Nationalsozialismus, Architektur und Städtebau als Dekoration der Gewalt, die baulichen Hinterlassenschaften der Nazis und den Umgang mit dem NS-Bauerbe beschreibt. „Verdrängungskultur“, attestiert Adelheid von Saldern; das gilt auch für die Lagerwelten im NS-Staat. Über 1000 Außen- und Nebenlager von 23 KZ durchzogen Nazi-Deutschland. Modellansichten vom gigantomanischen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg finden sich im Katalog auf den Seiten 104-106, der auch 50 Kurzbiografien von Bauverantwortlichen im Dritten Reich versammelt. Die Ausstellung ist noch bis zum 16. Juli 2023 geöffnet.
MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus. Herausgegeber: Unabhängige Historikerkommission (UHK) in Kooperation mit der Akademie der Künste, Berlin 2023. 352 Seiten, 420 Abbildungen, 20 Euro.

Höllengemälde, monumental
(AM) Solch einen panoramahaften Überblick der Widerstandsbewegungen gegen die Achsenmächte hat es bisher noch nicht gegeben. Chronikhaft, materialreich und ohne Romantisierung erzählt die in England lebende Historikerin Halik Kochanski, die bereits Polens Geschichte während des Zweiten Weltkriegs untersuchte („The Eagle Unbowed“), in drei großen Kapiteln vom Kampf gegen die Nazis und ihre Verbündeten. In jedem Land, das sie besetzten, erhob sich eine Widerstandsbewegung. Deren Geschichte begann, noch ehe der erste Schuss im Zweiten Weltkrieg fiel, mit der von Deutschland befeuerten Abspaltung des Sudetenlands von der Tschechoslowakei im März 1939 und mit der italienischen Invasion in Albanien.
Kochanski bringt uns in Resistance: The Underground War in Europe, 1939–1945 zur italienischen Resistenza und zum französischen Maquis, zu den Netzwerken der Résistance in Luxemburg, Belgien und Frankreich, zu ukrainischen und polnischen Partisanen, norwegischen und dänischen Saboteuren, Balkan-Kommandos, griechischen Guerillas und zum jüdischen Widerstand – und ins Gestrüpp vieler sich befehdender Fraktionen und Gruppen. Die oft barbarischen Vergeltungsmaßnahmen der Besatzer werden nicht ausgespart. Ein Höllengemälde menschlicher Tapferkeit und Leids, unsentimental und ohne zu romantisieren auf breite Leinwand getupft, elegant im Stil, mit einem Auge für schwarzen und schwärzesten Humor. Historische Forschung, Akten und Oral History balanciert: 830 Seiten Text, 100 Seiten Anmerkungen und Apparat.
Der deutsche Widerstand wird nicht behandelt, das Buch fokussiert sich auf den gegen die Achsenmächte, deshalb bleibt auch der Kampf gegen die sowjetische Besatzung außen vor. Kochanski teilt ihr Buch in drei Phasen: Why resist?, Warum widerstehen? – vom März 1939 bis zum deutschen Einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941. Teil II, Growing the Resistance, reicht bis zum September 1943 und der italienischen Kapitulation. Teil III, Resistance in Action, bis Mai 1945. Die Rolle von OSS und SOE findet zentrale Beachtung, Kochanski arbeit Muster heraus, hinterfragt Strategien, verknüpft Details und zeichnet Porträts individueller Widerstandskämpfer. Welch ein Stoff für tausende Romane. Welch ein unfassbares Drama. – Als gebundene Ausgabe an die 40 Dollar teuer, gibt es jetzt ziemlich schnell schon das erschwinglichere Taschenbuch.
Halik Kochanski: Resistance: The Underground War in Europe, 1939–1945. Penguin Books, London 2023. 936 Seiten, Paperback, GBP 20.