Geschrieben am 2. Mai 2023 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2023

Bloody Chops – Mai 2023

Kurzbesprechungen von Joachim Feldmann (JF), Sonja Hartl (sh) und Alf Mayer (AM):

Horst Eckert: Die Macht der Wölfe
Kim Koplin: Die Guten und die Toten
Chris Offutt: Ein dreckiges Geschäft
Jochen Rausch: Im toten Winkel
J. Todd Scott: Weiße Sonne
Hayley Scrivenor: Dinge, die wir brennen sahen
Tilman Spreckelsen: Das Nordseekind. Theodor Storm ermittelt
Jordan Tannahill: Das Summen
Jakub Żulczyk: Geblendet von der Nacht

Noch einen Toten in Berlin

(AM) Die Weltstadt mit Schnauze bekommt mit Die Guten und die Toten von Kim Koplin den ihr würdigen Thriller. Klasse Sound, schmissig geschrieben, Berlin rund um die Uhr. Und endlich einmal stimmt der Klappentext: Zarte Lovestory und Hardcore-Kriminellen-Ballett in einem. Als wäre es ein Homer für Eilige, faltet sich die Figurenkonstellation im Kung-Fu-Tempo auf. Mitten drin: Nihal, krasse Braut. Polizistin. Schießt mit links, schlägt mit links, aber schreibt mit rechts. Wasser hat ihr einfach zu wenig entgegenzusetzen, egal, wie viele Bahnen sie schwimmt. Einmal steigt sie übern Lenker vom Fahrrad ab, hat dabei Zeit, sich über eine Titulierung als Mieze aufzusteilen. Angelpunkt der rasanten Ereignisse ist ein seltsames Parkhaus in Charlottenburg, das räudigste der Stadt, mit ungewöhnlicher Edelschlittendichte auf Ebene 5 und Haschplantage auf dem Dach. 

Knesebeckstraße, det is Berlin. Wo der untergetauchte Saad als Parkwächter jobbt, sich um seine kleine Tochter sorgt, ein Staatssekretär mit waffenträchtigen Wüstenfuchs-Deals gerne parkt und allerlei Unterweltsschatten im Halbschwergewicht tanzen. Dazu dann noch eine Leiche im Kofferraum, drei fehlende Patronen (nicht Kugeln; diese Autorin kennt ihre Waffenkunde, bis hin zur ultraschönen Beretta 92 FS Inox), mysteriöse Auftragskiller. Das Borchart. Eine in der saudischen Botschaft verwundene Menschenrechtsaktivistin. Ganzkörperanzüge. Schließlich gar eine Kettensäge, 45er Schwert, Leihgebühr 41,65 Euro. „Das war mal’n Tag.“

Wie eine Flipperkugel schießt uns dieser Roman durch seine Gassen. Hier kann jemand Genre – und Milieu. Und Sprache. Intelligenter Lese-Spaß. Kein Wort zu viel. Fehlt nur das Streichorchester.

Kim Koplin: Die Guten und die Toten. Thriller. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 255 Seiten, Klappenbroschur, 16 Euro.

Kleines Meisterstück

(JF) Am Ende kommt es zur Schlacht. Zwei gegen neun. Mit Pistolen und Maschinengewehren. Wer den Kampf gewinnt, ist keine Frage. Aber die Sieger verspüren kein Triumphgefühl. Im Gegenteil. „Er hatte den Wachposten getötet und dann Zivilisten ermordet, die sich verteidigt hatten“, denkt Mick Hardin, der eigentlich bei der Militärpolizei arbeitet, aber gerade eine Beinverletzung in den heimischen Kentucky Hills auskuriert. „Er hatte genau das getan, wogegen er sein Leben lang angekämpft hatte: Töten aus Rache.“ Dass es sich bei den Opfern um Söldner im Dienste einer hochkriminellen Organisation handelt, die mindestens drei Menschen auf dem Gewissen haben, ist nur eine halbherzige Rechtfertigung: „Sie hatten sich selbst ausgesucht, für Geld zu töten. Sie lebten unter dem Schwert. Jetzt lagen sie in ihrem Blut. Eines Tages würde auch Mick dort liegen.“

In seinem Kriminalroman Ein dreckiges Geschäft konfrontiert der amerikanische Autor Chris Offutt seinen wortkargen Ermittler Mick Hardin bereits zum zweiten Mal  (nach „Unbarmherziges Land“. 2021) mit kleinen und großen Verbrechen im ländlichen Kentucky, vom Trunkenbold, der sich selbst als Geisel nimmt, über Drogenhandel bis zum Mord. Während seine Schwester Linda vollauf damit beschäftigt ist, ihre Wiederwahl als Sheriff sicherzustellen, versucht Hardin herauszufinden, wer Barney Kissick umgebracht hat. Warum er sich das antut, weiß er selbst nicht so genau. Shifty Kissick, die Mutter des kleinen Dealers, hat ihn darum gebeten. Das muss reichen.

Der ideale Stoff für einen typischen Country Noir also, sollte man meinen, doch Offutt, ein beiläufiger Erzähler par excellence, verweigert sich den naheliegenden narrativen Klischees des Genres. Mit großer Liebe zum Detail zeichnet er seine Figuren, während der Plot in den Hintergrund gerät. So entfaltet sich die inhärente Tragik des Geschehens in  einer Atmosphäre von beinahe heiterer Sachlichkeit. „Ein dreckiges Geschäft“, im Original mit dem schöneren Titel „Shifty’s Boys“,  ist ein kleines Meisterstück der Spannungsliteratur.

Chris Offutt: Ein dreckiges Geschäft (Shifty’s Boys, 2022). Aus dem Englischen von Anke Carolin Burger. Tropen, Stuttgart 2023. 267 Seiten, 17 Euro.

Ungetrübtes Lesevergnügen

(JF) Goethe, Schiller, Eichendorff, Fontane – deutsche Dichter, deutsche Detektive. Die Liste ist das Ergebnis einer sehr kurzen Internet-Recherche und deshalb sicherlich nicht vollständig. Der Wunsch nach einer  Versöhnung von Hoch- und Populärkultur manifestiert sich nämlich nicht nur in Kaffeebechern mit den Konterfeis kanonisierter Autorinnen und Autoren, die in einschlägigen Souvenirshops angeboten werden, sondern hinterlässt seine Spuren auch in der Kriminalliteratur. Statt also am Schreibtisch zu sitzen, um interpretationsbedürftigen Stoff für den Deutschunterricht zu produzieren, widmet sich mancher Klassiker der unterhaltsamen Aufklärung erfundener Verbrechen.

Und wie der verwandte Regionalkrimi bringt auch diese Spielart des Genres gelegentlich sehr lesenswerte Bücher hervor. Dazu gehören unbedingt die Theodor Storm-Romane des FAZ-Redakteurs Tilman Spreckelsen, deren fünfter Band nun vorliegt. Das Nordseekind erzählt von einem rätselhaften Geheimbund mit noblen Absichten, deren Verfolgung allerdings nicht ohne mörderische Konsequenzen bleibt. Wie nicht anders zu erwarten, gerät der junge Husumer Anwalt Storm, dessen literarischer Ruhm noch in ferner Zukunft liegt, unfreiwillig an den komplexen Fall und  löst ihn gewohnt souverän, aber ohne ein tragisches Ende verhindern zu können. Erzählt wird die Geschichte wie in den vorhergehenden Romanen von Storms Schreiber Peter Söt, der „von unten“ auf die Ereignisse blickt und so für den nötigen sozialen Realismus dieser fiktiven, aber gut recherchierten Kriminalhistorie sorgt.

Dass der Autor sein Handwerk auch sprachlich exzellent beherrscht, ist heute nicht mehr selbstverständlich und garantiert ein ungetrübtes Lesevergnügen.

Tilman Spreckelsen: Das Nordseekind. Theodor Storm ermittelt. Aufbau Verlag, Berlin 2023. 251 Seiten, 13 Euro.

Last Exit Warschau

(AM) Mea culpa. Dieses Buch lag zu lange auf meinem Will-ich-noch-lesen-Stapel, im Nachhinein ist das grob ungerecht. Jakub Żulczyk, Jahrgang 1983, den der durch seine innovativen Infografiken viel Eindruck machende Katapult-Verlag damit einer deutschsprachigen Öffentlichkeit nahebringt, gehört zu den populärsten und kontroversesten jungen Autoren Polens. Er ist Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor, war 2021 wegen Beleidigung des polnischen Präsidenten angeklagt, wurde freigesprochen. 300.000 Exemplare von Geblendet von der Nacht (Originaltitel Ślepnąc od świateł) wurden in Polen verkauft, hierzulande werden wohl schon 3.000 als Erfolg anzusehen sein. Für HBO Europe entstand 2018 aus diesem Roman die achtteilige Serie „Blinded by the Lights“, der Plural ist wichtig, sonst landet man bei einem Film über einen pakistanischen Bruce-Springsteen-Fan.

Der Roman ist ein rabenschwarzes Buch, ein starkes Stück Gossenpoesie, zeichnet ein nächtliches Warschau, wie man es nicht kennt. „Wir könnten eine Überschwemmung brauchen. Eine Sintflut“, heißt es einmal. Żulczyks Protagonist Jakub, mit dem er den Vornamen teilt, aber ist kein Travis Bickle aus Martin Scorseses „Taxi Driver“. Er will nur mitschwimmen, nicht anecken, nicht auffliegen, keinen Amok laufen, ist emotional obdachlos. Sein Motto bezieht der sprachmächtige Roman (von Pauline Schulz-Gruner blendend übersetzt) aus „Die Geschichte eines Sklaven“ von Hanns Henny Jahnn. Das passt.

Eigentlich sollte Jakub Künstler sein, aber er wurde Dealer, weil es einfaches und schnelles Geld ist. Er versorgt die zahlungskräftige Upper Class – Politiker, Fernsehstars, Unternehmer und Anwälte – mit Kokain, beliefert mit seinem Koks-Taxi all jene, die seine Dienste in Anspruch nehmen. Dreier Dinge mache sich jeder in Warschau schuldig: zu viel reden, Geld scheffeln und koksen, „jeder handelt mit irgendetwas“. Dann aber tut sich der Boden auf. „Alles verlangsamt sich. Alles stürzt, als ob sich der Computer, der die Wirklichkeit bearbeitet, aufgehängt hätte.“

Starkes Buch. Spannender Autor. Etliche weitere Romane warten auf Übersetzung: Wzgórze psów (Hundehaufen), Czarne Słońce (Schwarze Sonne, ein in Polen bekanntes Nazi-Symbol) und Informacja zwrotna (Rückmeldung). Das beginnt mit: Mein Name ist Marcin Kania. Ich bin Alkoholiker und im Begriff, einen Mann zu töten…

Jakub Żulczyk: Geblendet von der Nacht (Ślepnąc od świateł, 2014). Aus dem Polnischen von Pauline Schulz-Gruner. Katapult Verlag, Greifswald 2022. 496 Seiten, Hardcover, 26 Euro.

Große Kunst im Genreformat

(JF) Texas nahe der mexikanischen Grenze. Da, wo die Drogenkartelle glänzende Geschäfte machen. Wer hier für die Einhaltung der Gesetze zuständig ist, hat es schwer, sauber zu bleiben. Das weiß der aufrechte County Sheriff  Chris Cherry aus bitterer Erfahrung. Doch diesmal kommt die Herausforderung nicht nur aus dem Nachbarland. Die neonazistische Aryan Brotherhood of Texas beabsichtigt, sich in der Gegend niederzulassen. Und zwar in einer Geisterstadt mit dem passenden Namen Killing. Der erste Mord lässt nämlich nicht lange auf sich warten.

Weiße Sonne ist der zweite Roman von J. Todd Scott, der als ehemaliger Agent der amerikanischen Drogenbehörde DEA weiß, wovon er schreibt. Doch diese Expertise ist nicht die eigentliche Stärke des Buches. Todd versteht es, seinen Stoff auf mitreißende Weise episch aufzubereiten, indem er sich virtuos einer multiperspektivischen Erzähltechnik bedient. Dass ausgerechnet Chris Cherry dabei eine relativ blasse Figur abgibt, ist das unvermeidliche Schicksal der Guten im Spannungsroman. Sprachlich herausfordernder nämlich sind allemal die Schurken, allen voran der Soziopath John Wesley Earl, ein furchterregender Materialist des Bösen, dem die Nazi-Ideologie seiner „arischen Brüder“ nichts bedeutet.

In seinem enthusiastischen Nachwort weist der Schriftsteller Jon Bassoff zu Recht darauf hin, dass „Weiße Sonne“ zwar als ziemlich perfekter Thriller funktioniere, aber auch fest in der Tradition des amerikanischen Western verwurzelt sei. Und dass nicht nur wegen seines kinoreifen Erzählverfahrens. Auch das mehrfach variierte Rachemotiv, welches diesen Roman durchzieht, erinnert nachhaltig an die Filme von Anthony Mann oder Budd Boetticher. Und wie diese empfiehlt sich „Weiße Sonne“ als große Kunst im Genreformat.

J. Todd Scott: Weiße Sonne (High White Sun, 2018.) Aus dem Amerikanischen von Harriet Fricke. Polar Verlag, Stuttgart 2023. 496 Seiten, 27 Euro. – Siehe auch das Nachwort von Jon Bassoff, bei uns hier in dieser Ausgabe nebenan, d. Red.

Talent für horizontales Erzählen

(JF) Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Gründung einer neuen rechten Partei und skrupellose Geschäftsinteressen: Die Macht der Wölfe, der neue Politkrimi von Horst Eckert, bewegt sich ganz nah an der Realität und setzt bei aller fiktionalen Verfremdung auf den Wiedererkennungswert. Knappe Sätze, kurze Kapitel und rasante Szenenwechsel sind das strukturelle Markenzeichen dieser Spannungsprosa, in der komplexe politische Zusammenhänge effektvoll auf einen literarischen Nenner gebracht werden.

Die großen Spieler sitzen im Kreml, ihre Erfüllungsgehilfen in deutschen Chefetagen und die Bauern werden wie eh und je gerne geopfert. Manchmal müssen aber auch prominentere Figuren dran glauben. Zum Beispiel eine deutsche Bundeskanzlerin mit alliterierenden Doppelnamen und einem gefährlichen Fleck auf der Weste. Angesichts solch geballter Macht haben es die Guten, Eckerts bewährtes Ermittlergespann Melia Adan und Vincent Veih, jetzt auch privat liiert, gewohnt schwer. Und Horst Eckert, der eine Vorliebe für familiäre Verstrickungen von politischer Brisanz hat, demonstriert ein weiteres Mal sein Talent für horizontales Erzählen.

Horst Eckert: Die Macht der Wölfe. Heyne Verlag, München 2023. 478 Seiten, 15 Euro.

Sinnliches Erlebnis

(AM). Vorsicht, dieser Roman kann sie aus der Bahn werfen. Eigentlich trauen wir das heutzutage nur noch Filmen zu. „The Ring“, Hitchocks „Birds“ oder „Psycho“ – etwas, wo aus dem Alltag ein Albtraum wird, ohne dass man sagen könnte, wo und wie es begann, wo ab irgendwann nichts mehr stimmt und der Zugang zur Außenwelt versperrt ist. Dem Kanadier Jordan Tannahill, eigentlich ein Theaterautor, gelingt dieses schaurige Kabinettstück sozusagen bei Tageslicht. 

Claire Devon ist Englischlehrerin, ihr Mann Paul ein Bauunternehmer, ihre Tochter Ashley in der Pubertät. Claire und Paul liegen im Bett, er liest Zeitung auf seinem Tablet, sie korrigiert Aufsätze.

„Hast du das gehör?“
„Was gehört?“
„Es ist so ein – Summen.“
„Ein Summen?“
„Ein ganz leichtes Brummen.“
„Ich höre nichts.“

Ein paar Buchseiten vergehen, auf denen wir die Protagonisten besser kennenlernen. Aber es ist immer noch da.
„Ich höre gar nichts“, sagt der Ehemann.
„Es ist fast wie eine Vibration“, sagt Claire.
Schließlich steht sie auf, schaltet alle Geräte aus und wieder an, horcht am Boden, an der Wand. Durchsucht das ganze Haus. Nimmt Schlagtabletten. Kann nicht Schlafen. Das Summen ist da.
Nein, kein Tinnitus. Etwas anderes. Etwas, das sie wie in eine Umlaufbahn katapultieren wird. Etwas, das sie aus ihrer Welt wirft. Immer weiter hinaus. 

200 soghafte Seiten dauert es, bis sie in eine Gemeinschaft gerät, in der man auch das Summen hören, in der man Claire verstehen kann. In der man ihr zuhört. Ganz unaufgeregt und unprätentiös führt Tannahil uns auf ein Terrain zwischen Glaube, Wahn und Verschwörung. Das Summen wird zu einer gewaltigen Metapher von Ausgrenzung und Rechtgläubigkeit. Dadurch, dass wir das alles aus Binnensicht der Ich-Erzählerin Claire erleben, ist dieses – ja – Sinneserlebnis hoch dosiert. – Die Hörversion dieses Buchs ist ganz sicher auch nicht zu verachten.

Jordan Tannahill: Das Summen. Die Ereignisse am Sequoia Crescent (The Listeners, 2021). Aus dem Englischen von Frank Weigand. Goya, Jumbo Neue Medien Verlag, Hamburg 2023. 384 Seiten, 24 Euro.

Das Leben in Kleinstädten

(sh) Es ist ein normaler heißer Freitagnachmittag im November 2001 in der australischen Kleinstadt Durton. Aber dann kommt die 12-jährige Esther Bianchi von der Schule nicht nach Hause. Niemand will sie gesehen haben. Und dieses Verschwinden ist im Krimidebüt Dinge, die wir brennen sahen von Hayley Scrivenor Ausgangspunkt eines vielstimmigen Bildes von dem Leben in dieser kleinen Stadt.

Es ist eine konventionelle Anlage für einen Kriminalroman: ein unschuldiges, nahezu perfektes Mädchen verschwindet und im Zuge der Suche kommt die Geheimnisse der Bewohner und Bewohnerinnen der Kleinstadt ans Tageslicht. Auch ist Australiens Outback schon seit einigen Jahren ein zunehmend beliebter Krimihandlungsort. Hayley Scrivenor kennzeichnet das Spezifische dieses Lebens in Durton – oder „Dirt Town“ wie die Kinder ihren Heimatort liebevoll-spöttisch nennen. Viele Menschen sind abhängig vom Weizenpreis, es gibt nur wenig Arbeitsplätze, der Drogenhandel nimmt zu. In den Eigenheiten ihres Lebens steckt aber etwas Universelles: Nicht nur in Dirt Town werden Menschen früh in Rollen gesteckt, denen sie gerecht werden wollen oder müssen, weil sie einander so lange kennen. Auch in anderen Kleinstädten sind die Wahlmöglichkeiten von den äußeren Gegebenheiten abhängig – oder führen frühe Schwangerschaften in ungute Abhängigkeiten. Scrivenor nutzt also ihren spezifischen Handlungsort, aber sie vertraut nicht alleine auf dessen Appeal.

Dazu setzt sie auf eine multiperspektive Erzählform, die gut zu dieser Art Geschichte passt: verschiedene Figuren kommen zu Wort und so setzt sich nach und nach ein Bild von dem Leben in Dirt Town zusammen. Jedes Kapitel in „Dinge, die wir brennen sahen“ ist übertitelt mit dem Namen der Figur, deren Erzählperspektive folgt. Dazu gehört die lesbische Polizistin Sarah Micheals, die aus der Großstadt kommt, weil sie auf Vermisstenfälle spezialisiert ist, und die Ermittlungen übernimmt. Oder auch Esters Mutter, die in Dirt Town nie heimisch geworden ist und von der viele denken, sie halte sich für etwas Besseres. Vor allem aber erzählen Kinder des Ortes: Esthers Schulkamerad Lewis, der an dem Nachmittag, an sie verschwunden ist, etwas gesehen hat, es aber nicht verraten will, weil er noch ein anderes, viel größeres Geheimnis hat. Esthers altkluge beste Freundin Ronnie, die unbeirrt daran glaubt, dass ihre Freundin lebend gefunden werden wird, weil sie sich etwas anderes nicht vorstellen kann. Außerdem gibt es eine kollektive Erzählstimme der Kinder des Ortes. Sie ist es, die dieses Buch trotz des etwas langatmigen Endes zu einem besonderen Kriminalroman macht: das gemeinsame, überzeitliche Wir der Kinder erzählt beeindruckend von vererbten Traumata, fortgesetzter Gewalt und übernommen Verhaltensmustern.

Scrivenor priorisiert die Perspektive der Kinder in ihrem Kriminalroman – und dadurch fängt sie all die Widersprüchlichkeiten und Kontinuitäten des Lebens in Kleinstädten ein. Das ist ungemein spannend zu lesen.

Hayley Scrivenor: Dinge, die wir brennen sahen (Dirt Town, 2022). Aus dem Englischen von Andrea O’Brien. Eichborn Verlag, Köln 2023. 368 Seiten, 22 Euro.

Kleinstadt im Nirgendland

(AM) Jochen Rausch, Jahrgang 1956, hat viel Radio gemacht, ist Autor, Journalist und Musiker (Sänger und Pianist), die Verfilmung seines Romans „Krieg“ wurde 2018 als „Bester Fernsehfilm des Jahres“ ausgezeichnet. Er kann also was. Sein neuer Roman Im toten Winkel ist laut Untertitel Der erste Fall der Grenzland-ReiheSeine Polizistin Marta Milutinovic kommt aus München, hat Tochter und Ehe verloren und nun im (fiktiven) Schwarzbach die Leitung einer Polizeidienststelle übernommen, und greift ausgerechnet einen Cold Case auf, oder wie der Klappentext es sagt: „Ihre Nachforschungen zum Tod eines Abiturienten erzeugen eine verhängnisvolle Dynamik und bringen sie selbst in höchste Gefahr.“

Das klingt wie ein Pitch für einen Degeto-Zweiteiler, ist es zuweilen auch in seinen dramaturgischen Scharnieren – und für mich schlimmer weithin auch beim sense of place. „Eine Kleinstadt im Niemandsland“, nennt es der Klappentext. Oder, Seite 18, allen Ernstes: „Schwarzbach erinnert Marta an die Modelleisenbahn unter der Plastikhaube am Hauptbahnhof in München.“ Mit anderen Worten: die Provinz als Klischee, mit ein paar schnellen Pinselstrichen angedeutet, ort-los und aseptisch wie die meisten „Tatorte“, wie die meiste deutsche Literatur. Generisch. Es muss ja seinen Grund haben, dass wir anstatt nach Oberfranken-Ost fürs Noir eher ins australische Outback, in die Ozarks oder nach Texas pilgern.

Ich las das Buch auf einer Reise nach Hof, wo ich über 20 Jahre zum Filmfestival war; im Landkreis Hof gibt es tatsächlich ein Schwarzenbach am Wald. 4.356 Einwohner. Das Zonenrandgebiet nahe Tschechien aber bleibt bei Jochen Rauch Behauptung, blass und blutleer. Seine Personenkonstellation könnte überall angesiedelt sein. Dies steht im krassen Gegensatz zum Innenleben der Polizistin, die wir tatsächlich als Stimme und als Person erleben, literarisch durchaus anspruchsvoll und durchgearbeitet. Vielleicht müsste man Rauschs Debütroman „Restlicht“ noch einmal lesen. Die Geschichte eines Fotografen, der nach 30 Jahren in seine Heimat an der Ex-Ostzonengrenze zurückkehrt und seiner Jugendliebe nachspürt, die damals spurlos verschwand… Und vielleicht kommt das Grenzland ja in den nächsten Bänden noch in den Fokus.

Jochen Rausch: Im toten Winkel. Der erste Fall der Grenzland-Reihe. Piper Verlag, München 2023. Hardcover, 300 Seiten, 24 Euro.

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