Geschrieben am 1. Juli 2022 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2022

nonfiction, kurz – Juli 2022

Sachbücher kurz besprochen

Von Alf Mayer.

Christoph Bangert: Rumors of War
Helena Barop: Mohnblumenkriege. Die globale Drogenpolitik der USA 1950-1979
Roger Fritz: Boulevard der Eitelkeiten. Fotografien und Erinnerungen 
Marat Gabidullin: Wagner. Putins geheime Armee
Georg Scheibelreiter: Häuptlinge und Scheiks. Die Figuren in Karl Mays Reise- und Jugenderzählungen 

Handwerkerstolz, sozusagen

(AM) Schuldbekenntnisse, heißt es im Klappentext zu Wagner. Putins geheime Armee seien in diesem Buch nicht zu erwarten. Hier erleichtert kein Whistleblower sein Gewissen, hier sucht ein für grausame Drecksarbeit ausgenutztes Frontschwein nach Anerkennung. Es ist „den Naiven gewidmet, die Sinn suchen, wo keiner ist“. Marat Gabidullin war zehn Jahre Berufssoldat bei den russischen Fallschirmjägern, verließ die Armee nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Oberleutnant, wurde ein Auftragskiller für die russische Mafia, heuerte schließlich 2015 bei der russischen Privatarmee Wagner an (tatsächlich aus Verehrung des deutschen Komponisten so benannt), wurde auf der Krim und in Syrien eingesetzt und dort schwer verwundet. Er ist der erste Wagner-Soldat, der ein Buch schreibt. Es erschien zuerst im damals noch unabhängigen russischenVerlag Gonzo, dann in Frankreich, entstand weitgehend 2016/17 und beschreibt zwei von vier Einsätzen für die Private Military Company (PMC, unter Fachkräften) namens Wagner. Den Autor regt auf, dass die Söldnereinsätze vom eigenen Staat immer wieder geleugnet werden. Ihm ist es ein Anliegen, zu zeigen, dass auch Russland auf die Dienste von Söldnern zurückgreift – und dass sie vom eigenen Land mies behandelt werden. Handwerkerstolz also, sozusagen. 

Die französischen Journalistinnen und Filmemacherinnen Ksenia Bolchakova und Alexandra Jousset konnten den Autor über längere Zeit interviewen. Ihr Film wurde am 22. Februar dieses Jahres ausgestrahlt. Zwei Tage später überfiel Russland die Ukraine. Ganz vorne mit dabei: auch Söldner der Gruppe Wagner. Das gibt dem Buch eine projektil-heiße Aktualität. 

Marat Gabidullin: Wagner. Putins geheime Armee. Ein Insiderbericht (Moi, Marat, ex-commandant de l’armée Wagner. Au coeur de l’armée de Vladimir Poutine, 2022). Aus dem Französischen von Christiane Koschinski, Jörg Lukas. Econ/ Ullstein, Berlin 2022. 300 Seiten, Klappenbroschur, 22,99 Euro.

Das Gift, das der Krieg ist

(AM) In den Krieg will er nie wieder ziehen, sagt Christoph Bangert, der deutsche Fotojournalist, der seit 2005 Krisen für internationale Publikationen dokumentiert und nun mit seinem im Kehrer-Verlag erschienenen Rumors of War so etwas wie eine Entgiftungskur unternimmt. Denn Krieg macht süchtig. Gearbeitet hat er in Palästina, Japan, Darfur, Afghanistan, Indonesien, Pakistan, den USA, im Libanon, Nigeria, Simbabwe und im Irak.  Seine Reportagen erschienen in der NZZ, der NYT, im stern und in zahlreichen Buchprojekten. 2012 gewann er den World Press Photo Award und den POYi (Picture of the Year). 

In seinem Buch „War Porn“ zeigte er den Horror des Krieges in aller Deutlichkeit. In „hello camel“ kommentierte er dessen Absurdität. Im dritten und letzten Teil seiner Reihe reflektiert er nun seine Motive, was ihn in Krisengebiete zog, und seine Schwierigkeiten, mit dieser Arbeit aufzuhören. Mehrfach bezieht er sich auf das Buch seines NYT-Korrespondenten-Kollegen Chris Hedges „War Is a Force That Gives Us Meaning“ (Public Affairs, NY 2002), fotografiert sogar Buchseiten daraus ab, vergrößert Zitate. Etwa: „Das Gift, das der Krieg ist, befreit uns nicht von unserer Verantwortung.“

Der wie ein Brevier in der Hand liegende Band kommt daher wie ein Arbeitsjournal, voller eingeklebter Affidavits: Kontaktabzüge, Polaroids, Zeitungsartikel, Buchseiten, Filmschachteln, Rabattmarken, Reklame- und Verpackungsmaterial, Geldscheine, Briefmarken, Schnappschüsse aus seiner instax mini camera und richtige Fotos. Es ist das persönliche Tagebuch eines jetzt ehemaligen Kriegsfotografen, der sich zu sagen traut, dass er den Krieg vermisst und sich im Frieden erst einmal zurechtfinden muss.

Die eigentliche Vorlage für den Band entstand zwischen dem 24. Juni und 5. August 2013, als Bangert für die NYT in Afghanistan unterwegs war. Manche der Fotos im handschriftlichen Teil entstanden dort zwischen 2010 und 2013.  Das Buch wurde sein Bachelor-Projekt, brachte ihm gar einen akademischen Grad. Jetzt arbeitet Bangert in der Lehre. Bei ihm in die Schule zu gehen ist ganz sicher nicht der schlechteste Platz für angehende Fotografen.

Christoph Bangert: Rumors of War. Kehrer Verlag, Heidelberg 202. Text: Englisch. Freirückenbroschur mit runden Ecken, Format 12 x 19,5 cm. 240 Seiten, 118 Farbabbildungen, 35 Euro. Internetseite von Christoph Bangert.

Gründlichst schiefgegangen

(AM) Der Krieg gegen die Drogen ist gescheitert. Mohnblumenkriege versteht sich als Vorgeschichte der drogenpolitischen Gegenwart, will den Blick auf sie schärfen und zudem zeigen, dass die US-amerikanische Drogenpolitik (und damit die vieler westlich orientierter Industriestaaten) „keineswegs eine rein rationale Reaktion auf strukturelle Probleme ist, sondern das Produkt verwickelter historischer Prozesse voller gutgemeinter Entscheidungen, aber auch voller Zufälle, momentgebundener Sachzwänge, Irrtümer, Missverständnisse und Kontingenzen“, so Helena Barop in ihrem Vorwort.

Ihre monumentale und verdienstvolle Studie über Die globale Drogenpolitik der USA 1950-1979, so der Untertitel, wurde 2020 von der philosophischen Fakultät der Universität Freiburg als Dissertation angenommen und inzwischen mit mehreren Preisen bedacht (darunter dem Dissertationspreis der AG Internationale Geschichte im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, der Deutsche Studienpreis 2021 der Körber-Stiftung und der Gerhard-Ritter-Preis 2021.

Hier besprochen würde das Buch jedoch nicht, wäre es nicht auch lesbar – und das ist es. Erfrischend unaufgeregt, geradezu lakonisch im Sachvortrag, ist dies eine solide und kompakte, detailreich unterfütterte Beschreibung einer großen Niederlage: Bei ihrem Versuch, Anbau und Schmuggel von Drogen zu verhindern, verstrickten sich die USA zwischen 1950 und 1979 in ein teures, globales Projekt mit verheerenden Nebenwirkungen und Folgen. In der Türkei ließen sie den agrarischen Opiumanbau verbieten und hatten dann Probleme, Opium für die Herstellung von Medikamenten zu beschaffen.  In Thailand wurden die Opiumkarawanen gestoppt und damit vor Ort die Preise in die Höhe getrieben, was wiederum neue Anreize schaffte, mehr Opium anzubauen. Vietnamveteranen wurden nach Mexiko geschickt, wo sie Militärpiloten zeigten, wie man per Hubschrauber Pflanzengifte auf Opiumfelder sprüht. Dreißig Jahre später versank Mexiko im Drogenkrieg, und dies auch, weil die USA die Konkurrenz der brutalsten und korruptesten Drogenunternehmer beseitigt hatten. Welch ein Desaster. Und längst nicht nur Stoff für Don Winslow…

Helena Barop: Mohnblumenkriege. Die globale Drogenpolitik der USA 1950-1979. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 494 Seiten, 46 Euro.

Globalisierung um und vor 1900

(AM) Mit Ausnahme Australiens sind die Schauplätze von Karl Mays Erzählungen auf alle Kontinente und über die ganze Welt verstreut. Bis zu seiner Orientreise im Jahr 1900 hatte er von den außereuropäischen Weltteilen nur durch Reiseliteratur, Fach- und Sprachbücher und Landkarten Kenntnis. „Diese Werke“, so Georg Scheibelreiter, „verinnerlichte er in so hohem Maße, dass der Leser überzeugt sein musste, im Autor einen umfassend gebildeten Weltreisenden vor sich zu haben.“ Tatsächlich änderten spätere tatsächliche Reisen von Karl May dann so gut wie nichts an seiner Betrachtung und Wiedergabe.

Es ist ein gewaltiger Kosmos an Figuren, den May in seinem Werk auftreten lässt. Der emeritierte Geschichts-Professor Georg Scheibelreiter hat sich der Mühe und gewiss auch Lust unterzogen, Die Figuren in Karl Mays Reise- und Jugenderzählungen zu versammeln. Sein 1,3 kg schwerer, übergroßer Band Häuptlinge und Scheichs kreist nicht nur um Winnetou, Old Shatterhand, Hadschi Halef Omar, Sam Hawkens oder Nscho-tschi, beleuchtet nicht nur viele hundert namentlich genannter Handlungsträger und Randcharaktere, sondern auch namenlose Figuren. Sie alle werden mit ihrer Funktion im Handlungsgeschehen porträtiert, in den sozialen, politischen und kulturellen Kontext ihrer Entstehungszeit eingebettet und sind Zeugnisse der sich wandelnden Welt um 1900.

Karl Mays Personenschilderungen spiegeln traditionell eurozentrische Vorstellungen und die Stereotype der damaligen Zeit ebenso wider wie auch eine Neukonzeption des globalen menschlichen Zusammenlebens. Das ist per se spannend und mit diesem Buch nun eine literaturhistorische Reise globalen Umfangs. Wow. 

Georg Scheibelreiter: Häuptlinge und Scheiks. Die Figuren in Karl Mays Reise- und Jugenderzählungen. Böhlaus Verlag, Wien-Köln 2022. 616 Seiten, 34 farbige Abb., gebunden, 55 Euro.

Ein Buch mit sehr viel Stil

(AM) An Mario Adorf gibt es einen Brief, über Gerhard Richter „eine nicht so schöne Geschichte“, Urheberschaft betreffend. Vollster Achtung ist er für Barbara Sukova, der Auftrag, „einen nicht bestraften Nazi oder so etwas zu fotografieren“, führte ihn 1956 zu Hjalmar Schacht. Oft war er einfach so dabei, oder er kannte sie als Schauspieler, Regisseur, Gastronom. Roger Fritz verkehrte mit den Schönen, Reichen, Kreativen, Mächtigen und Berühmten so selbstverständlich als ob er schon immer dazugehörte, dabei hatte er sich auch das Fotografieren selbst beigebracht, war Bäcker, Kellner, Baustoff-Großhändler gewesen. Gehörte zum Gründungsteam der zeitschrift „Twen“, die ursprünglich „Feuerkreis“ heißen sollte.

Sein Boulevard der Eitelkeiten, kurz vor seinem Tod noch vollendet, versammelt 235 Porträtfotografien und 80 persönliche Erinnerungen von den 50er Jahren bis heute. Er war ein People-Fotograf, bevor es das gab, meint Hubert Buda in seinem Geleitwort, ein Porträtist des Lebensgefühls „hinter dem Siegestor“ (also Richtung Schwabing) in München, aber nicht nur dort. Auf Romy Schneider folgen in seinem Buch die Beatles, Mick Jagger, Uschi Obermeier, Hardy Krüger, davor war Luchino Visconti.

Tatsächlich beherrschen seine Porträts die Kunst des Halbnahen, haben die richtige Mitte zwischen Nähe und Ferne – und seine Texte tun das auch. Wunderbare Miniaturen sind dabei, wunderbare Anekdoten, nie zu sehr auf die Zehen oder ins Peinliche rutschend. So zum Beispiel, dass Helmut Schmidt von seiner Bürotür das Schild „Bundeskanzler“ entfernen und durch „Nolde-Zimmer“ ersetzen ließ, weil er dessen Kunst im Arbeitszimmer hatte. Zu Helmut Berger heißt es: „Damit wage ich mich an ein Thema! Eigentlich wäre es ein ganzes Buch.“ Der Text dazu wird dann aber doch klein und rund und geschliffen. Hier erzählt und fotografiert einer ohne grelle Effekte. Das ist altmodisch wohltuend und ein schönes Vermächtnis. Vale, Roger!

Roger Fritz: Boulevard der Eitelkeiten. 235 Porträtfotografien und 80 persönliche Erinnerungen von den 50er Jahren bis heute. Schirmer/Mosel, München 2022. 320 Seiten, Format: 15,2 x 22,8 cm, gebunden. 235 Fotografien, 34 Euro.

Es folgen noch:
Oliver Hahn: Schwatzen über Simenon
Enno Kaufhold: St. Pauli. Fotografien 1975 – 1985

Nikolas Lelle: Arbeit, Dienst und Führung
Michael Möseneder: Der Taubenhasser und das Fenster zum Hof. Unglaubliche Wiener Gerichtsprozesse

Marcus Schwarz: Der Tod im Anflug. Aufsehenerregende Fälle aus dem Ballistik-Labor
Anselm Weyer: Die Insel der Seligen. Köln 1918-1926. True Crime
Gerhard Wiechmann: Von der deutschen Flugscheibe zum Nazi-UFO 
Peter Zimmermann: Dokumentarfilm in Deutschland

Hier die Sachbuch-Besprechungen der letzten Monate

Juni 2022:
Hermann Bausinger: Vom Erzählen. Poesie des Alltags
Markus Brauckmann, Gregor Schöllgen: München 72. Ein deutscher Sommer
Julio Cortázar: Unerwartete Nachrichten
Caroline Elkins: Legacy of Violence: A History of the British Empire
Klaus Gietinger, Norbert Kozicki: Freikorps und Faschismus. Lexikon der Vernichtungskrieger
Mittelweg 36Schwerpunkt: Publikationsregime
Christiane Schalles: „…Transport von Personen, Thieren, Waaren und Gegenständen aller Art …“ 175 Jahre Eisenbahn in Bad Soden am Taunus 1847 – 2022

Mai 2022:
Eliot Higgins: Digitale Jäger. Ein Insiderbericht aus dem Recherchenetzwerk bellingcat 
Catherine Belton: Putins Netz

April 2022:
Gudrun Bleyhl: Lavasteinzeit
Marica Bodrožić: Die Arbeit der Vögel
Bernd Imgrund: Köln kriminell
Tessa Korber, Elmar Tannert: True Crime Franken

George Orwell: Reise durch Ruinen
Danny Trejo, Donal Logue: Trejo. My Life of Crime, Redemption, and Hollywood
Michael Zinganel: Real Crime. Architektur, Stadt und Verbrechen

März 2022:
Stig Dagerman: Deutscher Herbst
Ralf Kramp, Ira Schneider, Carsten Sebastian Henn: Das kriminelle Kochbuch. Killer, Schnüffler und Rezepte
Eberhard Seidel: Döner. Eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte
Michael Stradford: Steve Holland: The World’s Greatest Illustration Art Model
Joshua Yaffa: Die Überlebenskünstler: Menschen in Putins Russland zwischen Wahrheit, Selbstbetrug und Kompromissen

Februar 2022:
Monica Black: Deutsche Dämonen. Hexen, Wunderheiler und die Geister der Vergangenheit…
Stig Dagerman: Deutscher Herbst
Carol Leonnig: Secret Service Die geheime Geschichte der Agenten, die den US-Präsidenten schützen sollen
Guy Stern: Wir sind nur noch wenigeErinnerungen eines hundertjährigen Ritchie Boys
Katalog: Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944
Susan Williams: White Malice: The CIA and the Covert Recolonization of Africa

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