
Sachbücher, kurz besprochen
von Joachim Feldmann (JF), Alf Mayer (AM) und Thomas Wörtchen (TW)
Stig Dagerman: Deutscher Herbst
Ralf Kramp, Ira Schneider, Carsten Sebastian Henn: Das kriminelle Kochbuch. Killer, Schnüffler und Rezepte
Eberhard Seidel: Döner. Eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte
Michael Stradford: Steve Holland: The World’s Greatest Illustration Art Model
Joshua Yaffa: Die Überlebenskünstler: Menschen in Putins Russland zwischen Wahrheit, Selbstbetrug und Kompromissen

Den homo sovjeticus besser verstehen
(AM) Keinerlei Bewertungen und Kommentare bei Amazon (Stand 1.3.22, einige Tage nach Putins Überfall auf die Ukraine), das ist der Status des am 30.11. letzten Jahres erschienen Buches Die Überlebenskünstler: Menschen in Putins Russland zwischen Wahrheit, Selbstbetrug und Kompromissen. Vielleicht findet es ja jetzt Beachtung, verdient wäre sie. Erschienen ist es in den USA bereits vor zwei Jahren, genauer am 14.1.2020, lange also vor heutigen Hitzig- und Grausamkeiten. Ich finde, es hat genau die richtige Temperatur, um sich „den Russen“ nach Lektüre deutlich informierter nähern zu können. Das Buch unternimmt nichts weniger als eine Mentalitätsstudie des russischen, in über 20 Putin-Jahren verhärteten Nationalcharakters. Damit wir alle irgendwann in Zukunft miteinander wieder auskommen und uns besser verstehen zu können, dafür dient es gewiss.
Autor ist der in San Diego geborene Amerikaner Joshua Yaffa, der seit Jahren hauptsächlich in Moskau lebt, wo er als Korrespondent für den New Yorker arbeitet. Entlang von sieben facettenreichen Porträts schürft er sich in die russische Psyche, liefert eindringliche Erkenntnisse über die wahre Natur des modernen Autoritarismus, indem er zeigt, wie die russischen Bürger ihr Leben nach den Anforderungen eines launischen und oft repressiven Staates richten. – Eine ausführliche Besprechung folgt in unserer Aprilausgabe.
Joshua Yaffa: Die Überlebenskünstler: Menschen in Putins Russland zwischen Wahrheit, Selbstbetrug und Kompromissen (Between Two Fires: Truth, Ambition, and Compromise in Putin’s Russia, Januar 2020). Aus dem Amerikanischen von Anselm Bühling. Econ Verlag, Berlin 2021. Gebunden, 560 Seiten, 24,99 Euro.

Happige Gegenwartskultur
(TW) Zu den abscheulichsten Erfahrungen meines eher verfressenen Lebens gehört die Döner Box. Einen Döner Hawaii mit Dosenananas mag ich mir lieber gar nicht vorstellen. Ein Iskender Döner ist absolut köstlich. Daraus folgt: Ein Döner ist nicht ein Döner ist nicht ein Döner. Alles, was ich bis her über Döner wusste, weiß ich von Eberhard Seidels „Aufgespießt. Wie der Döner über die Deutschen kam“, die erste Kulturgeschichte des Döners, aus dem Jahr 1996. Diese Publikation, die nicht nur ich damals sensationell fand, ist die Vorläuferversion der gerade erschienen, erweiterten und aktualisierten Fassung, die im glücklicherweise wiederbelebten MÄRZ-Verlag mit dem „Döner. Eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte“ erschienen ist. Eine Kulturgeschichte indes, die diesen Namen auch verdient.
Seidel, der sich seit Jahrzehnten durch exzellente bis widerwärtige Döner gegessen hat – schon das eine stupende Recherche-Leistung – verbindet die kulinarische Geschichte des beliebtesten deutschen Fastfood-Produkts mit der Sozialgeschichte der türkischen Immigration und deren Kämpfe, rassistischen Behinderungen, xenophobischen Exzessen bis hin zum status quo, bei dem „Deutsch-Türken alles sein können“ – darunter eben auch Dönerimbissbetreiber.
Und weil wir hier das CrimeMag sind: Der Döner hat auch eine Gewaltgeschichte. „Keine Branche“, schreibt Seidel, „dürfte nach 1949 in Deutschland mit vergleichbaren Anfeindungen zu kämpfen gehabt haben, wie die Döner Industrie und die Imbissbetreiber des ostdeutschen Marktes“. Eine Auflistung von rechter Gewalt gegen „Imbissbetreiber mit Migrationshintergrund“ (so eine Studie der „Opferperspektive Brandenburg“) aus den Jahren 2000 bis 2004, belegt in der Tat ein „düsteres Kapitel der Nachkriegsgeschichte“, das noch längst nicht ausgeforscht ist. In diesen Kontext gehört auch der „Gammelfleisch-Skandal“ von 2006, bei dem kartoffeldeutsche Bayerische Fleischfabriken Ekelware großmaßstäblich in Umlauf brachten, darunter unter vielen anderen Betrogenen auch an türkische Kunden, worauf die Polizei und andere Behörden flugs eine Döner-Mafia am Werk sehen wollten, wissentlich und intentional, massenmedial natürlich begeistert von der Springer-Presse aufgegriffen, und auch noch antisemitisch getoppt: „Wer hat mein Baby vergiftet?“ trötete die BILD-Zeitung. Von da war es nur ein kleiner, nächster Schritt zu den „Döner Morden“ des NSU, eine ungeheuerliche Affäre, deren institutionalisierter Rassismus mit betrüblichen „Pannen“ und „Fehlern“ nicht wegzudiskutieren ist.
Die gute Nachricht dabei ist: Der Döner hat all das und noch viel mehr überstanden. Die Nation mümmelt fröhlich alle Arten von Döner, andere europäische Länder kommen peu à peu dazu, die größte, hightechmäßig aufgezogene Döner-Produktion sitzt in Polen. Döner ist Gegenwartskultur. Und Eberhard Seidels Buch liefert alles, was man darüber wissen muss.
Eberhard Seidel: Döner. Eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte. März Verlag, Berlin 2022. 257 Seiten, 20 Euro.

Mehr als Konservendosen zuhause
(JF) Amos Walker isst nicht. Oder er hält Nahrungsaufnahme nicht für erwähnenswert. „Ich trank ungeblendeten Whisky und sah dem Regen zu“, ist alles, was wir über die Woche vor Weihnachten, die er allein in seinem Büro verbringt, wissen müssen. Immerhin deutet er an, dass es sich nicht um irgendeine Spirituose, sondern um einen 24 Jahre alten Scotch handelt.
So wünschen wir uns hartgesottene Privatschnüffler. Allerdings hatte ich, als ich die gelbe Ullstein-Taschenbuchausgabe aus dem Regal zog, gehofft, dass Walker wenigstens ein altes Stück Käse und eine angenagte Selleriestange im Kühlschrank haben würde, um sich ein frugales Weihnachtsmahl zu bereiten. Denn ich suchte nach einem passenden Einstieg für die in wenigen Zeilen folgende Vorstellung eines „Krimikochbuchs“, das seit einigen Wochen einen festen Platz in meiner Küche besetzt. Doch bei Loren D. Estleman, dessen Walker-Serie schon lange nicht mehr ins Deutsche übersetzt wird, suchte ich vergebens. Das wäre bei den Pionieren des Genres kaum anders gewesen. 153 Mal wird in den sieben Romanen, die Raymond Chandler seinem Privatdetektiv Philip Marlowe widmete, Kaffee erwähnt, gerne mit einem Schuss Brandy, doch feste Nahrung spielt eine untergeordnete Rolle. So wundert es nicht, dass die Frühstücksrezepte im „kriminellen Kochbuch“ eher mager ausfallen. Immerhin gibt es gebratene Hühnerleber wie in Dashiell Hammetts „Der dünne Mann“ (1934), aber die Society-Ermittlern Nick und Nora Charles müssen sich ebenso wenig selbst um deren Zubereitung kümmern wie Archie Goodwin, der als Laufbursche des Gourmets Nero Wolfe in den Genuss der Künste des Schweizer Kochs Fritz Brenner kommt. Ralf Kramp, Ira Schneider und Carsten Sebastian Henn, denen wir diese opulent illustrierte und kundig kommentierte Rezeptsammlung verdanken, haben sich hier allerdings ausgerechnet für eine an westfälisches Wurstebrot oder rheinischen Panhas gemahnende Speise namens „Scrapple“ entschieden, deren Verzehr früh am Tage nur wirklich starken Mägen zuzumuten ist. Das denkt mancher auch von Bohnen in Tomatensoße, die neben Bacon, Würstchen und Eiern ein fester Bestand des berühmten englischen Frühstücks sind. Wer die Köstlichkeit selbst zubereiten möchte, findet die nötige Anleitung auf Seite 16, gefolgt von Rezepten für Orangenmarmelade und „Frühstückscurry wie bei Sherlock Holmes“.
Und so geht es weiter. TV-Detektive, klassische Ermittler und selbst Enid Blytons „Fünf Freunde“ dürfen zu dem munteren kulinarischen Stelldichein beitragen und sorgen für eine ebenso unterhaltsame wie instruktive Lektüre. Nicht alle Gerichte scheinen mir allerdings gleichermaßen empfehlenswert. Columbos Chili-Rezept etwa (Hackfleisch, Bohnen, Dosentomaten, eine Tube Tomatenmark, Gewürze und etwas Ketchup) reizt weniger zum Nachkochen als das von Polizistengattin Heike „Muschi“ Schäffer aus der Fernsehserie „Mord mit Aussicht“ zubereitete Rindsgulasch. Aber das ist natürlich eine Frage des Geschmacks.
Amos Walker übrigens, der Schnüffler aus Detroit, hat, wie Stichproben in dem 2002 erschienenen Band „Sinister Heights“ ergaben, inzwischen zumindest Konservendosen zuhause und bestellt im Restaurant Pasta. Ob das für sein (sehr wünschenswertes) Comeback hierzulande reichen wird, ist allerdings zu bezweifeln.
Loren D. Estleman: Die Straßen von Detroit. (The Glass Highway. 1983). Übersetzt von Sabine Schmidt. 157 Seiten. Ullstein. Berlin 1986. Vergriffen.
Ralf Kramp, Ira Schneider und Carsten Sebastian Henn: Das kriminelle Kochbuch. Killer, Schnüffler und Rezepte. KBV, Hillesheim 2021. 168 Seiten, 30 Euro.

Scharfkantiges Porträt
(AM) „Suppe einmal am Tag. Auch Säuglinge. Hielt ein kleines Baby. Ein Haufen Kartoffeln auf dem Boden. Stroh. Jemand hat ein Bett mitgenommen… Alte Frau über Hitler: Der Hund lebt noch. Ein Man mit großer Familie: Immer müssen wir leiden wegen dem, was die Großen wollen. Die Tante: Wir wollen keinen Krieg… 80jährige alte Frau. Wahnsinniges Mädchen im Rollstuhl. Schrie auf, brach zusammen, Bombenschock. Hoben den Stuhl herunter, zogen ihn im Kreis im Dreck. Regnete. Fahrt uns aufs Land! Ungewissheit.“
So etwas notiert der Schwede Stig Dagerman, von der Zeitung Expressen beauftragt, Deutschland zu bereisen und ein Bild des zerstörten Landes nach dem Weltkrieg zu geben, Ende 1946 in sein Notizbuch, macht aus solch komprimierter Realität beobachtende Literatur. Unfassbarer Weise ist sein Buch – zuhause längst ein Klassiker – jetzt zum ersten Mal auf Deutsch erschienen. Sein Titel: Deutscher Herbst. Zwei Monate lang, reiste Dagerman von Hamburg aus durch die britische und die amerikanische Besatzungszone sowie nach Berlin. Er war 23 Jahre alt, hatte 1945 mit „Die Schlange“ seinen ersten Roman veröffentlicht, der ihn zur Stimme einer während des Zweiten Weltkrieg erwachsenen gewordenen Generation machte, von Angst und Pessimismus geprägt. Er war mit einer Deutschen verheiratet, wie er stammte sie aus einer anarcho-syndikalistischen Familie, man träumte von der Auflösung staatlicher Strukturen zugunsten gewerkschaftlicher und internationaler Verbünde.
Dagerman beschreibt nicht „die“ Deutschen, er schildert Individuen. Wie weit ist es zwischen der Literatur und dem Leiden? Hängt die Entfernung von der Art des Leidens, von der Nähe des Leidens oder der Stärke des Leidens ab? Das fragt er sich im letzten Kapitel im Flieger, der ihn wieder nach Stockholm bringt. Mit 31 nimmt er sich das Leben. Er hat einen scharfen Blick, der schmale Band gibt einen scharfkantigen Eindruck vom Deutschland unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Wald bei der Burg Frankenstein, wo die Nazis noch keine zwei Jahre her, Kinder erhängten, fahnenflüchtige Schulkinder, „knallen in der Dämmerung hart und scharf Schüsse. Das sind die Amerikaner, die auf den Anhöhen über dem Wald der Erhängten liegen und mit der Munition des Sieges Wildschweine schießen…“ Er stört sich an Mitläufern, die nichts gewusst haben wollen, „die Opfer des Nationalsozialismus haben es da schwerer, sie stoßen überall auf Hindernisse. Sie haben das Recht auf Sitzplätze in Zügen und auf den Vortritt in Warteschlangen, würden es jedoch im Leben nicht wagen, diese Rechte in Anspruch zu nehmen.“
Stig Dagerman: Deutscher Herbst (Tysk höst, 1947). Aus dem Schwedischen, mit einer Briefauswahl und einem Nachwort von Paul Berf. Guggolz Verlag, Berlin 2021. 192 Seiten, 22 Euro.

Das Gesicht männlicher Heroik
(AM) Dwayne Johnson, wird gemunkelt, soll sich für die Hauptrolle in einer seit mehreren Jahren geplanten Neuverfilmung interessieren. Es wäre ein neues Gesicht für Doc Savage, den Universalhelden einer hauptsächlich von Lester Dent geschriebenen Abenteuerreihe mit 181 Titeln zwischen 1933 und 1949. 89 Bände davon erschienen in den Siebzigern auf Deutsch im Pabel Verlag (im dem auch BND-Agent Mr. Dynamit eine Heimat hatte, siehe hier sein Porträt bei uns).
Und auch in Deutschland lieh der 1925 geborene Schauspieler Steve Holland dem Superhelden sein Gesicht. Der Hauptdarsteller in den 31 Folgen der TV-Serie „Flash Gordon“ (1954-55) war viele Jahre das am meisten beschäftigte und eingesetzte männliche Model, wenn es um Kraftpakete und martialische Posen auf dem Cover ging. Michael Stradford setzt nun Steve Holland: The World’s Greatest Illustration Art Model, auf unzähligen Taschenbuchtiteln der Sechziger und Siebziger präsent, in einem im australischen Verlag St. Clair Publishing erschienen großformatigen Werk ein Coffeetable-Denkmal. Holland war Gesicht, Pose und Muskel männlicher Heroik, das archetypische Abbild des Helden, der zu sein (fast) alle Männer träumen. Diese Krone trug Holland über 30 Jahre – das Buch schlägt daraus ästhetisches Kapital. Es gibt Hunderte Cover, Skizzen, Zeichnungen und rare Fotografien und viel Hintergrundinformation. Holland war The Spider, The Phantom, Tarzan, Conan, Matt Helm, Magnus Robot Fighter, Flash Gordon und Coverboy für allerlei Pulp-Detective und ein Dutzend Helden mehr. Von allen Figuren aber, denen er Statur gab, wird er am engsten mit Doc Savage identifiziert, dem „Mann aus Bronze“. Der ist eine Mischung aus Sherlock Holmes mit seinen deduktiven Fähigkeiten, Tarzan in Sachen Physis, Craig Kennedy auf dem Gebiet wissenschaftlicher Bildung und Abraham Lincoln in seiner Christlichkeit, kurzum Arzt, Wissenschaftler, Abenteurer, Erfinder, Forscher und Musiker, finanziell unabhängig dank einer Goldmine in Zentralamerika, die sein Vater von Eingeborenen erhielt und die erbte.
Ein Stück populärer und visueller Kulturgeschichte also. Vom gleichen Autor gibt es zudem das fast schon bizarre Fotobuch Steve Holland: The Torn Shirt Sessions, es sind die Fotodokumente jener Model-Sitzungen, die mit ihren prototypischen Posen dann den Weg auf die Pulp-Cover fanden.
Michael Stradford: Steve Holland: The World’s Greatest Illustration Art Model. St. Clair Publishing, Rozelle, NSW/Australia 2021. Gebundene Ausgabe, viele Abb., 202 Seiten.