Geschrieben am 1. April 2022 von für Crimemag, CrimeMag April 2022

nonfiction, kurz – April 2022

Sachbücher, kurz besprochen 

von Alf Mayer (AM) und Ulrich Noller (UN).

Gudrun Bleyhl: Lavasteinzeit
Marica Bodrožić: Die Arbeit der Vögel.
Bernd Imgrund: Köln kriminell
Tessa Korber, Elmar Tannert: True Crime Franken
George Orwell: Reise durch Ruinen
Danny Trejo, Donal Logue: Trejo. My Life of Crime, Redemption, and Hollywood
Michael Zinganel: Real Crime. Architektur, Stadt und Verbrechen

Stärker als der Vulkan

(AM) „Magua“ ist ein kanarisch-spanisches Wort, es bezeichnet eine besondere Sorte Schmerz, verbunden mit Sehnsucht, schwer in ein deutsches Wort zu packen. „Nie mehr die Treppe zum Bad hinuntergehen von dort ein paar Stufen weiter zu dem zweiten, unter der Terrasse irgendwann später gebauten Gastzimmer mit großen Glasfenstern, oder den mit Steinen vom Strand in Puerto Naos gepflasterten Weg hoch zum Gastzimmer im Ziegenstall, das die Bougainvillea nach ein paar Jahren mit einer dunkelroten Wolke krönte … Nie mehr … nie mehr…“, so beschrieb uns die Tübinger Verlegerin Claudia Gehrke im CulturMag-Jahresrückblick den Abschied von ihrem unter Lava begrabenen Haus auf La Palma. 37 Jahre war es ihr zweites Zuhause gewesen, bis am 19. September 2021 der Vulkan in der Vulkankette „Cumbre Vieja“ auf der Kanareninsel La Palma Ströme ausbrach und sich erst mehr als zwei Monate später wieder beruhigte. Kein Wunder, dass ihr „magua“ das Herz schwer macht.

Die Lava hat Häuser, Gärten und Plantagen zerstört, über die Anzahl gibt es unterschiedliche Zahlen. Der Copernicus Satelliten Service EMSR546 spricht von etwa 3000 Gebäuden, das Katasteramt von gut 1600. Sicher liegt die Zahl dazwischen, da Copernicus alle Gebäude mitzählt, auch Ställe etc., das Katasteramt aber nur die Gebäude, die gemeldet wurden. Die Menschen auf dem Land in La Palma leben oft in „Familiendörfern“, d.h. um alte Häuser herum wurden auf dem Familiengelände von Kindern und Enkeln neue Häuser gebaut, die keineswegs alle beim Katasteramt gemeldet sind.  

Claudia Gehrke wäre nicht die Herzblut-Verlegerin, die sie ist, würde sie nicht Produktives daraus erwachsen lassen. In Rekordzeit entstanden ist das nun vorliegende, reich illustrierte Buch Lavasteinzeit. Seine Autorin ist die Journalistin Gudrun Bleyhl, die seit 22 Jahren auf La Palma wohnt, und zwar dort, wo während des Vulkanausbruchs die TV-Teams standen. Den Ausbruch erzählt sie aus persönlicher Sicht, verknappt aus ihren Tagebüchern extrahiert, angereichert mit Rückblicken, Autobiografischem und Schilderungen von Kultur und Inselbewohnern, zudem ist jedes Kapitel mit aktuellen Sachinformationen versehen. Das Anliegen des schönen, durchgängig zweisprachigen Bandes: „Etwas Grün in die Schwärze des Vulkanausbruchs malen.“ Der größte Teil der Insel ist ja unverändert bunt und schön, die frischen Lavaströme bedecken nur knapp 1,7 Prozent der Insel, auch wenn diese stark besiedelt und für Landwirtschaft wie den Tourismus wichtig waren.
Im Anhang gibt es Auszüge aus dem „Diario de un volcán“ von Lucía Rosa González, der preisgekrönten Autorin von Lyrik, Theaterstücken und Prosa aus den begrabenen Ort Todoque. Sie verdichtet die Geschehnisse, die Bedrohungsgefühle, die Faszination und den Schmerz über das Verlorene mit intensiv poetischem Blick. Als zweisprachige Ausgabe erscheint dieses poetische Tagebuch Ende April/ Anfang Mai.

Nicht nur für Claudia Gehrke, die so nebenbei in ihrem Verlag über die Jahre eine stattliche Bibliothek kanarischer Titel veröffentlicht hat, gilt das Motto „Más fuerte que el volcán!“ Stärker als der Vulkan!

Gudrun Bleyhl: Lavasteinzeit/ Edad de lava. Zweisprachig, deutsch und spanisch. Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2022. 334 Seiten, viele Bilder, Klappenbroschur, 15 Euro. – – Lucia Rosa González: Diario de un volcán – Tagebuch eines Vulkans. Zweisprachig, deutsch und spanisch. Konkursbuch Verlag, Tübingen 2022. 170 Seiten, mit Fotos, Klappenbroschur, 15 Euro. – Erscheint Ende April/ Mai 2022. Vorbestellbar beim Verlag. Die beiden Bücher als Paket 25 Euro.

Schmugglerpfad in Richtung Erkenntnis

(UN) Zu bleiben, hätte den sicheren Tod bedeutet. Im September 1940 wagte Walter Benjamin den nächtlichen Weg vom französischen Banyals-sur-Mer nach Portbou auf der spanischen Seite der Grenze – wo er wenig später seinem Leben ein Ende setzte. 80 Jahre später nahm Marica Bodrožić denselben Weg, zusammen mit ihrem Mann und einem werdenden Leben im Bauch, jenseits der Reisezeit, die Drei waren unterwegs wohl weitgehend allein.

Dieser Weg bildet den Rahmen und auch das Gerüst ihres Buches, sie nutzt ihn, um Gedankenwege zu gehen, die letztlich die Gedankenwelten ausloten, die das Menschsein in der Welt bedeuten. In guten wie in schlechten Zeiten.
Die Arbeit der Vögel ist ein Hybrid, möglicherweise auch ein Roman: Zwischen Essayistischem und Autofiktionalem changieren und interagieren unterschiedlichste Schreibweisen, Textsorten und Denkarten. Und die Sprache, die das vollbringt, ist vermutlich sowieso das Eigentliche – was den Menschen zum Menschen macht.

Das Ergebnis ist kein großes Ganzes, das wäre sowieso eine Illusion, aber durchaus ein Universum, aus dem sich schöpfen lässt, beinahe unendlich: Ausgesprochen reich an Themen, Assoziationen, Wendungen, Erkenntnissen, neuen Fragen fordert dieses Buch seiner Leserinnen und Leser mit ihrer Neugier und Erkenntnislust heraus.

Marica Bodrožić: Die Arbeit der Vögel. Luchterhand Verlag, 2022. 345 Seiten, 22 Euro.

Schwergewicht, buchstäblich

(AM) Kein anderer Schauspieler ist öfter vor der Kamera gestorben als er: an die 70 Mal erschossen, erstochen, geköpft, erhängt, zerhackt, zerschmolzen, erwürgt jedoch eher kaum. Dafür ist er schlicht zu groß. Zur Schauspielerei fand der Kalifornier Danny Trejo erst mit 40, bislang hat er in über 406 Filmen mitgespielt. Komödien war nur wenige darunter, immerhin aber Muppets Most Wanted  oder Spy Kids. Als „Heavy“ kennen wir ihn aus Desperado, Heat, Con Air, From Dusk till Dawn, Machete oder dem Nachfolger Machete Kills von 2010, in dem Lady Gaga einen Auftritt als La Camaleón 3 hat. Seine Präsenz gab auch Serien wie Breaking Bad oder Sons of Anarchy Gewicht.

Wie seine Memoiren nun zeigen, hat er auch sonst etwas auf die Waage zu bringen. Trejo. My Life of Crime, Redemption, and Hollywood, zusammen mit seinem Freund Donal Logue geschrieben, erzählt eine Geschichte, die man nicht selbst erlebt haben will. Sie ist, wie der ganze Kerl, ein Hammer. Mit Zehn war er zum ersten Mal Gast auf einer Polizeistation, mit zwölf von einem Onkel auf Heroin angefixt und bereits ein notorischer Straftäter. Da er eh davon ausging, bald im Gefängnis zu sterben, wo er von San Quentin bis Folsom überall einsaß, entwickelte er eine Furchtlosigkeit, die noch bis in die Filme strahlt. Schonungslos schreibt er über seine Sucht und den Hang zur Gewalt, den eigenen Vater, den Umgang mit Frauen, den „machismo“ und „Chicanismo“ der Männer, die ihm Rollenmodell waren, die Schwierigkeit, selbst ein guter Vater zu sein. Will Smith, der gerade heftig die Oscars lädierte, sollte sich ein Beispiel nehmen.

Danny Trejo, Donal Logue: Trejo. My Life of Crime, Redemption, and Hollywood. Simon & Schuster/ Atria, New York 2021. 288 Seiten. Im April 2022 als Taschenbuch.

Mustergültig

(AM) Bernd Imgrund, Jahrgang 1964, ist in Köln eine journalistische Institution, er war Politikredakteur der Kölner StadtRevue, führt für die Kölnische Rundschau Interviews, ist seiner Heimatstadt unter anderem mit dem „Kölner Sammelsurium. 298 Antworten auf die letzten Rätsel der Stadt“ und „111 Kölner Orte, die man gesehen haben muss“ näher gerückt, hat mit „Ölle“ einen satirischen Stadtführer verfasst, dazu kann er Skat und Tischtennis, kaum ein Themenfeld ist ihm fremd. Es muss Spaß gemacht haben, für den renommierten Greven Verlag den Band Köln kriminell anzugehen, 15 historische Fälle aus der Nachkriegszeit aufzufächern. Süffig geschrieben, mit zeitgenössischen Fotos illustriert, schön gestaltet, schlank im Format, angenehm haptisch in der Hand, ist das Buch ein Musterexemplar regionaler True-Crime-Literatur.

Da war etwa „das Irmchen“: Irmgard Swinka, eine wegen vierfachen Mordes, Totschlags und mindestens zehn Mordversuchen verurteilte Massenmörderin, „Symptom unserer aus den Fugen geratenen Zeit“, so die Illustrierte Stern. Am 7. Mai 1949 fiel das Urteil, es war die letzte in Westdeutschland verhängte Todesstrafe – Tod durch das Beil, weil in der französischen Besatzungsszone. Am nächsten Tag lehnte der Parlamentarische Rat, der Vorläufer des Bundestags, die Aufnahme der Todesstrafe in das Grundgesetz ab. Die Strafe wurde in „lebenslang Zuchthaus“ umgewandelt.

Da gab es das Schulmassaker von Volkhoven, das erste Attentat auf eine Schule in der Geschichte der Bundesrepublik, bei dem ein 42-jähriger Frührentner am 11. Juni 1964 mit einem selbstgebauten Flammenwerfer und einer Lanze acht Kinder und zwei Lehrerinnen tödlich verletzte. Da wurde ein Regierungspräsident auf der Schwulenklappe festgenommen und aus dem Amt gedrängt, da gab es Kardinal Meisners Lieblingskreuz, Deutschlands erstes Dopingopfer oder einen Bundesligaskandal, eine Geiselnahme in der Deutschen Bank am Dom, einen Einbruch in den ehemaligen Gestapo-Keller, einen Rohrbombenanschlag auf ein Lokal, einen Bombenanschlag auf das Lufthansa-Gebäude oder die Entführung der achtjährigen Nina von Gallwitz, die sich 149 Tage in der Hand ihrer Kidnapper befand. Für einen Fall hat der Platz leider nicht mehr gereicht, nämlich für das „Kölner Hakenkreuz“. Am 24. Dezember 1959 wurde die neu eingeweihte Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen verschandelt, innerhalb etwa eines Monats kam es bundesweit zu 685 Nachfolgetaten. Bundeskanzler Adenauer forderte „eine Tracht Prügel“ für die „Lümmel“. Unter dem Eindruck der Vorfälle verabschiedete der Bundestag 1960 ein Gesetz gegen Volksverhetzung.

Bernd Imgrund: Köln kriminell. True Crime. Greven Verlag, Köln 2021. 264 Seiten, über 100 historische Fotos, 16 Euro.

Buch mit Laune

(AM) Der Landwehr-Bräu in Reichelshofen erhält eine eigene Erwähnung in den Danksagungen, es muss ein guter Ort für Vor-Ort-Recherche gewesen sein. Überhaupt ist der Band True Crime Franken bemerkenswert gut gelaunt, dem Dutzend behandelter wahrer Kriminalfälle von 1208 bis 1972 zum Trotz. Tessa Korber und Elmar Tannert haben sich für ihr Buch einen überzeugend erfrischenden Ansatz gewählt, nämlich historische Fälle der fränkischen Kriminalgeschichte vom Spätmittelalter bis ins zwanzigste Jahrhundert literarisch nachzuerzählen. Das gibt ihnen die Freiheit für allerlei Erzählformen, Briefe und gar ein Dokumentarfilm-Exposé sind dabei. Ein Nachwort sorgt für Hintergrund, in den Erzählungen selbst wird das Lokal- und Zeitkolorit eines jeden Falles lebendig.

Da gibt es Familiendramen und politische Ränke, Henker, Raubrittern, dichtende Mörder und, dies ein Fall von 1972, gar den „Vampir“ von Nürnberg. Da ist der Büttnermeister aus Reichelshofen (siehe oben), der 1962 seine Schwester im Streit mit einem Bügeleisen erschlägt und das Verbrechen lange und hartnäckig verbirgt, nach Verbüßung seiner Strafe in den Ort zurückkommt, sich zeitlebens nichts mehr zu Schulden kommen lässt, aber weder vor sich selbst noch vor der Welt je zugeben kann, was er getan hat. Auftritte haben auch ein Scharfrichter in der Nazi-Zeit und ein wegen Betrugs gehenkter Alchemist in Kulmbach (1686), es gibt ein Attentat auf Philipp von Schwaben (1208) in Bamberg, Progrome in Unterfranken (1336), einen Auftragsmord des Domkapitulars von Bamberg (1782), den Mord an einer Bäuerin (1920), einen Fall von Weindiebstahl (1504) und sogar einen Mord im Auftrag des Nürnberger Rates (1514). Klappenbroschur und gutes Papier machen das Buch haptisch, auf dem Cover erhält ein Wiesenstück von Albrecht Dürer ein polizeiliches Absperrband. Schönes Buch mit Laune. Also.

Tessa Korber, Elmar Tannert: True Crime Franken. Wahre Kriminalfälle von 1208 bis 1972. Ars Vivendi, Cadolzburg 2021. Klappenbroschur, 224 Seiten, 16 Euro.

Produktivfaktor Angst

(AM) Zur Produktivkraft des Verbrechens für die Entwicklung von Sicherheitstechnik, Architektur und Stadtplanung lautet die Subunterschrift dieses interessanten Bandes. Er will begreiflich machen, wie die Angst vor dem ‚Verbrechen’ im  Alltagsleben produziert und reproduziert wird , in welcher Form und zu welchem Zweck sie in Architektur und Stadtplanung produktiv umgesetzt wird, wie Feindbilder und Risikoszenarien etabliert werden, um Präventionsmaßnahmen zu legitimieren, die sich schließlich in international angeglichen (Bau-) Normen und Versicherungspolicen niederschlagen, heißt es in der Einleitung. 

Nicht von ungefähr rekurriert Michael Zinganel in seiner „case studie“ Real Crime. Architektur, Stadt und Verbrechen immer wieder auf den britischen Schriftsteller J. G. Ballard, der zum Beispiel in „Cocaine Nights“ die ummauerten Häuser, Hausgruppen, Wohnanlagen und Clubs Südspaniens mit Zugangskontrollen, Videoüberwachung und privaten Wachdiensten als paradigmatische Bauformen der Freizeitgesellschaft des 21. Jahrhunderts begreift. 
Crime sells, um das berühmte Diktum von Karl Marx zu paraphrasieren. Dies aber nicht nur unbedingt für den Verbrecher selbst, nicht nur in der Unterhaltungsindustrie –sondern auch in der Stadtplanung. Die Angst, die durch reales oder auch nur imaginiertes Verbrechen evoziert wird, bildet sich in unzähligen präventiven bautechnischen, architektonischen und städtebaulichen Maßnahmen ab: in Fortifikationsanlagen gegen die Feinde von außen und Kontrollarchitekturen gegen die Feinde von innen. Aus der Geschichte realer und symbolischer Befestigungs- und Präventionsmaßnahmen gegen „das Verbrechen“ lässt sich nach Ansicht des Autors eine ganze Indizienkette zur Neuformulierung der Architekturgeschichte formen. Zinganel entwickelt das von small bis x-large: von der Türkette über Videoüberwachung, Brandmelder, Sprinkler- und Alarmanlagen, Schließsysteme, der Sicherung von „gated communities“ und den Zugangskontrollen in Betrieben und Hochhäusern bis zu den militärstrategischen Befestigungen von Stadt und Infrastrukturen – vor allem gegen die neueste Bedrohung, den Terror. Welch ein weites Feld.

Michael Zinganel: Real Crime. Architektur, Stadt und Verbrechen. edition selene, Wien 2003. 360 Seiten, 25 Euro.

Es folgen noch:

Eliot Higgins: Digitale Jäger. Ein Insiderbericht aus dem Recherchenetzwerk bellingcat (We Are Bellingcat: An Intelligence Agency for the People, 2021). bastei Lübbe/ Quadriga 2021. Klappenbroschur, 288 Seiten, 18 Euro.

Klaus Gietinger, Norbert Kozicki: Freikorps und Faschismus. Lexikon der Vernichtungskrieger. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2022. 440 Seiten, 24,80 Euro.

George Orwell: Reise durch Ruinen. Reportagen aus Deutschland und Österreich 1945. Aus dem Englischen übersetzt von Lutz-W. Wolff. C.H. Beck textura, München 2022. Hardcover, 112 Seiten, 16 Euro.

Catherine Belton: Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste. HarperCollins, Hamburg 2022.

Hermann Bausinger: Vom Erzählen. Poesie des Alltags. Hirzel Verlag, Stuttgart 2022. Hardcover, 206 Seiten, 22 Euro.

Sigi Götz Entertainment: Das siebenunddreißigste Kapitel. 40 Seiten, 4 Euro.

Tags : , , , , , , , , ,