Geschrieben am 1. November 2020 von für Crimemag, CrimeMag November 2020

Noch einmal „Das Ding“ von Jürgen Neffe

Die gewichtige Bedeutung der Literatur für Gesellschaft und Politik – im Guten wie im Bösen 

„Das bedeutendste politische Buch des Jahres“ nannte Gerhard Beckmann „Das Ding“ von Jürgen Neffe bei uns in der Oktober-Ausgabe. Jetzt legt er noch einmal nach, weil es über dieses Buch noch deutlich mehr zu sagen gibt.

Es war ein ungewöhnlicher, politisch wacher Deutschlehrer, der den Geist den Studentenrevolte weitertrug und dem Heranwachsenden insbesondere die Literatur von Böll, Grass und Lenz nahebrachte, „um Licht auf die dunklen Seiten der deutschen Vergangenheit zu werfen, deren Schattens bis in unsere Gegenwart reichen“, wie der Erzähler Neffe der US-Agentin Brenda  im Roman „Das Ding“ erklärt. „Sie erlaubten sich, die Rolle ihrer Altvorderen“ während der Nazi-Zeit,  die nach Ende des Zweiten Weltkriegs „irgendwie plötzlich alle Opfer“ waren,  zu hinterfragen. Erst vor diesem Hintergrund „war der Aufbruch in eine Zeit der gesellschaftlichen Umwälzung  möglich, die meiner Generation das Gefühl der Freiheit zum selbstbestimmten Leben gab“. Neffe stimmt so das Hohe Lied auf die große Kraft der Literatur für seine frühe Entwicklung an – um Brenda dann aber bewusst zu machen, wie mangelhaft und ungenügend die Deutschstunde von Siegfried Lenz, Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns und Die Blechtrommel von Günter Grass doch gewesen waren. 

„Hätten Leser in der Zukunft nur diese drei Bücher „zur Hand, um sich ein Bild von der europäischen und deutschen Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert zu  machen, würden sie in Hitler kaum mehr als eine Art deutschen Nero sehen, der als gescheiterter Revolutionär und Welteneroberer  am Ende seine Hauptstadt in Schutt und Asche sehen musste. Vom Rassenwahn und der historisch singulären Ungeheuerlichkeit, ein ganzes über alle Länder verstreues Volk allein aufgrund der Stammeszugehörigkeit mit industrieller Perfektion systematisch auszurotten, erführen sie nichts. An das wirklich Einmalige, alles Dagewesen an Grausamkeit, Kälte und eiskalte Planung in den Schatten Stellende hatten sich Grass/ Böll/ Lenz nicht herangetraut. Ein geschlagenes  Vierteljahrhundert hielten es  die besten, kritischsten mutigsten Autoren unseres Landes beim Holocaust mit Wittgenstein: Wovon man  nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Ich fühlte mich betrogen und verraten“, gesteht er Brenda. „Meine anfänglichen Helfer erschienen mir plötzlich als Feiglinge…“

“Wenn man nie die ganze Wahrheit erfährt, liebe Brenda, oder, schlimmer noch, die wichtigste Wahrheit nie – erfüllt dieses Schweigen, Meiden und Lavieren dann nicht schon den Tatbestand der Lüge? Mir war, als sei ich meine ganze Jugend lang über das Vorleben der Älteren und Alten angelogen worden….“ Und ist es dadurch nicht zu der „Kontinuität eines Denkens“ in seiner Heimat gekommen, „eines völkischen Reinheitsgebots, das unter der Oberfläche eitergelebt hat und sich nun wieder unverhohlen“ äußert?   

Waren die großen Romane der deutschen Nachkriegsliteratur von Böll, von Lenz, von Grass Fake-News?

Über die Jahre seiner Interviews mit Donald Trump Ende der 1990er berichtet Jürgen Neffe: „Ich verbrachte meine Zeit mit einem Mann, der körperlich zwar zu einem Eisenhans herangewachsen, in seiner geistigen Entwicklung und menschlichen Reifung aber nie über seine Jugend hinausgekommen war.“ Bei Trump musste er unwillkürlich an Oskar Matzerath denken. „Dessen Schöpfer, Günter Grass, hat den Blechtrommler mit drei Jahren sein Wachstum einstellen lassen. Körperlich, nicht geistig. Das erlaubte dem Autor, das Drama der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive eines Kindes mit dem Verstand des Erwachsenen darzustellen“ – ein genialer dichterischer Kunsttrick, mit dem Günter Grass sich davon befreite, aus der Perspektive einer Person erzählen zu müssen, die sich mittenmang seiner menschenrechtsverbrecherischen Landsleute bewegte und selbst zum Täter werden musste. So gesehen, wird Jürgen Neffes Vorwurf, auch Grass habe sich nicht an die historisch singuläre Ungeheuerlichkeit  deutscher Gräueltaten  während der  Nazizeit  herangetraut, ganz konkret nachvollziehbar.

Jürgen Neffes Vorwurf mag heute, da Die Blechtrommel zum Kanon der modernen deutschen Literatur zählt, unangemessen oder gar vermessen scheinen. Es muss aber daran erinnert werden, dass sie in den Jahren nach ihrem Erscheinen (1959) wesentlich schärfer und grundsätzlicher abgelehnt worden ist. So hat etwa Eckhard Henscheid sie in der Zeitschrift Merkur als „Riesenschmonsus“ angegriffen, „bei dem vor lauter Barock und Allegorie und Realismus und Vergangenheitsbewältigung und Großmannssucht nichts, aber auch gar nichts stimmt“. Henscheid hat hier also auch die ganze künstlerische  Artistik und den stilistischen Reichtum von Günter Grass hinterfragt, die viele seiner damaligen deutschen Leser begeistert haben – wie übrigens zudem viele einflussreiche ausländische Literaten. So ist Die Blechtrommel denn der erste literarische Roman aus der Bundesrepublik gewesen, der international Aufmerksamkeit erregte und eine breite Leserschaft fand. Freilich müsste auch hier wieder das Thema der Fake News angeschnitten werden.

Dass man im Ausland offenbar eine eingehende Darstellung der Nazigräuel nicht vermisste, ist verständlich  –  dort war man sich ihrer schrecklichen Ausmaße eh bewusst. Dass man die von Hans Magnus Enzensberger maßgeblich verbreitete Interpretation akzeptierte, der Roman erfasse erstmals „die Aura des Miefes“, der ein Wesensmerkmal der deutschen Faschisten wäre, kann ebenfalls wenig wundern – ihr kleinbürgerlicher Rotz war durchaus auffällig gewesen. Was im Ausland faszinierte, war die vielfältig neue, freie  literarische Ausdrucksweise, die weithin als Zeichen der neuen deutschen Generation nach den Nazis interpretiert  wurde. Nur handelte es sich dabei um ein Missverständnis, auf das mich vor einigen Jahren Jürgen Serke aufmerksam gemacht hat: Die literarischen Qualitäten des Romans sind in den fremdsprachigen Fassungen so deutlich herübergekommen, weil Die Blechtrommel von herausragenden,  berühmten Übersetzern in allen wichtigen Sprachen übertragen wurde – allen voran, ins Englische, von dem legendären preisgekrönten Ralph Manheim. Ihr Nimbus, ihre Leistung hat dem Werk dort von vornherein hohe Beachtung eingebracht.  Und seine überaus positive Rezeption war prominenten Kennern der deutschen Kultur und Literatur zu danken.

US-Ausgabe, 1961

In beiden Gruppen waren nun jedoch Autoren führend, die jüdischer Herkunft waren oder von Hitler ins Exil vertrieben worden waren. Für sie alle war Günter Grass der, als der er sich damals ausgab – einer, der wie Tausende andere mit 17 Jahren als Flakhelfer eingezogen und als Flakhelfer in amerikanische Gefangenschaft geraten war. Dabei handelte es sich aber um eine biographische Fake News. Was Günter Grass bis 2005 verschwieg, war, dass er als Freiwilliger zur Waffen-SS gegangen war. Wäre diese Fake News Anfang der 1960er geplatzt, hätte es einige, viele oder alle der herausragenden Übersetzungen kaum gegeben, und wäre es – mit noch höherer Wahrscheinlichkeit  – nicht zu der überaus wohlwollenden ausländischen Deutung und Rezeption des Romans gekommen. Mit Sicherheit aber hätte Günter Grass 1999 nicht den Nobelpreis für Literatur erhalten. Ich weiß nicht, ob Jürgen Neffe von diesen Zusammenhängen weiß. Sein Trump-Roman gibt Anlass, sie an dieser Stelle zu erwähnen.

Literatur als Verpflichtung zur Wahrheitsaussage über die Gefahren der Zeit

Jürgen Neffe zieht keinen ausdrücklichen Vergleich zwischen Hitler und Trump, zwischen Nazi-Deutschland und den gegenwärtigen USA an. Parallelen springen freilich Seite um Seite ins Auge. Wie bedrohlich sie sind, wie nahe Trump Hitler steht, ergibt sich aus einem simplen Faktum: Donald Trump ist der erste und einzige Präsident der USA, der nicht an die amerikanische Verfassung glaubt, grundsätzlich nicht zu ihr steht und sie jederzeit zu brechen bereit ist, wenn sie seinen Absichten und Zielen im Wege steht. Trump signalisiert die totale Bedrohung der politischen Kultur, von Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit in Amerika, die für die westliche Welt maßgeblich sind. Wie gefährlich das ist, wird an der „Deutschstunde“ sichtbar, die Jürgen Neffe der geliebten Agentin über die Geschichte während und nach der Nazi-Zeit gibt.

In seinem Roman klingen aber auch die Gefahren offen an, denen die Demokratie und der Rechtsstaat gegenwärtig akut allüberall ausgesetzt ist – nicht zuletzt in Europa und in der Bundesrepublik insbesondere durch die Corona-Krise, die von Regierungen genutzt wird, um die Hoheit der Parlamente zu unterlaufen und zentrale in den Verfassungen garantierte Bürgerrechte mit scheinheiligen Begründungen und Versprechungen außer Kraft zu setzen.

Mir ist es ergangen wie vielen – als ich Jürgen Neffes Roman „Das Ding“ in die Hände bekam, habe ich es wie ein Sachbuch auf der Suche nach Hintergründen  über Donald Trump gelesen. Es hat sich gelohnt. Schließlich ist Jürgen Neffe seit den 1990ern mit dem Thema „intim“.  Es ist aber kein Sachbuch, das nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen seinen Reiz verlieren könnte. Wie immer sie ausgehen werden, die Bedeutung dieses Buches wird in den nächsten Wochen und Monaten wachsen, weil es kunstvoll kompromisslos reale Literatur ist und für Literatur in unserem Land ganz konkret neue Maßstäbe setzt und Wege skizziert. Ich bin auf die Diskussionen gespannt, auf die Autorinnen und Autoren, wie und wo sie auf diesen Anstoß reagieren. 

Gerhard Beckmann

Gerhard Beckmann ist einer der profiliertesten Menschen der deutschen Verlagsszene. Seine Kolumne „Beckmanns Große Bücher“ stellt kontinuierlich wirklich wichtige Bücher mit großer Resonanz vor. Sein Wutschrei gegen Amazon hier, sein Plädoyer für die Buchpreisbindung und seine Texte bei uns hier.