Reise an den Schauplatz eines Romans
Von Sonja Hartl
Im Juli bin ich mit Max Annas nach Finsterwalde gefahren und habe mich mit ihm über seinen neuen Roman unterhalten, der nicht nur „Finsterwalde“ heißt, sondern zum Teil auch in dieser kleinen Stadt im südbrandenburgischen Landkreis Elbe-Elster spielt. Im Grunde genommen hätte das Buch auch in einer anderen Stadt spielen könnte, die in der Nähe zu Berlin liegt – für Finsterwalde sprachen vor allem der Name und das erste Bild, das Max Annas hier gefunden hat. „Als ich auf dem Marktplatz stand und mir die Innenstadt angeschaut habe, habe ich das erste Bild gesehen. Das erste Bild in dem ersten Kapitel. Da stehen die Leute auf dem Markt und auf dem Balkon. Helikopter kommen und werfen die Versorgung ab. Und dieses erste Bild, in dem sich die Leute noch gar nicht sicher sind, ob sie das ein Lager nennen sollen, wo sie gerade sind, war für mich ein Start, der mich fasziniert hat und von dem ich ausgehen wollte.“
Dieses Bild steht nun auch am Anfang von „Finsterwalde“: die Afro-Deutsche Marie ist mit ihren beiden Kindern und anderen Menschen in eine verlassene Stadt gebracht worden. Alle Schilder wurden entfernt, die Häuser sind leer, sie wissen anfangs nicht, wo sie sind. Ein Zaun umgibt das Areal, Drohnen bringen Versorgungspakete, gelegentlich ist Wachpersonal in der Ferne zu sehen. „Die Figuren müssen nun herausfinden, wo sie sind, wie der Ort heißt, wie die Lebensbedingungen sind“. Dabei dient der Marktplatz als der Ort, an den die Leute immer wieder zurückkommen konnte, auch um zu diskutieren, was überhaupt passiert ist. „Und mit ihrem Wissen und ihren Mutmaßungen umreißen sie das Geschehene ja auch für die Leute, die lesen.“
Von der ersten Seite ist klar, dass Annas ein Deutschland beschreibt, das in der Zukunft liegt – aber gar nicht mehr so fern erscheint. Eine Regierung ist an der Macht, die alle, die ihnen nicht passen, deportiert. Zunächst in Lager. Danach soll es gerüchteweise weitergehen in Länder, die sie aufnehmen würden. Erst waren die Menschen ohne deutschen Pass dran. Nun ist es Marie, die zwar einen deutschen Pass hat, aber für die Machthabenden nicht deutsch genug aussieht. Es geht also in „Finsterwalde“ um Grenzziehungen und um das Konstrukt „Illegalität“. War Kodjo in „Illegal“ noch illegal, weil er keinen deutschen Pass hatte, wurde Marie kurzerhand zur „Illegalen“ erklärt, weil sich die Definitionen der Legalität geändert haben.
Hinzu kommt eine zweite Erzählebene, die in Berlin beginnt und da einsetzt, „wo die deutsche Regierung auf die Fehlkalkulation ihrer eigenen Politik reagieren muss und die Löcher, die sie im sozialen und wirtschaftlichen Leben des Landes gerissen hat, mit importierten Arbeitskräften stopfen muss. Mit Leuten, die sie aus dem europäischen Ausland gegen Arbeitsverträge ins Land holt. Das sind dann Theo und Eleni, die die Wohnung und Praxis übernehmen, in der Marie gelebt und gearbeitet hat“, erzählt Annas. Mit Marie und Theo werden zwei Perspektiven auf das Deutschland der Zukunft möglich: von innen durch Marie und von außen durch Theo, der „dieses Land von Neuem betrachtet.“ Theo ist in Deutschland aufgewachsen, hat dann in Griechenland gelebt und kommt nun mit 63 Jahren zurück und versucht zu verstehen, was passiert ist.
Es ist gar nicht so einfach das Finsterwalde, in dem ich an diesem sonnigen Julitag mit Max Annas stehe, mit dem des Romans zusammenzubringen. Es scheint viel dunkler, viel bedrohlicher. Es war beklemmend, dieses Buch zu lesen, allzu möglich erscheint das Szenario. Wie schwierig ist es eigentlich, die Zukunft zu beschreiben, frage ich Annas. „Ich bin sehr stark von einem Heute ausgegangen, es ist einfach sehr schwierig, tatsächlich vorauszusehen, wie die Welt in 15 Jahren aussieht, allein schon, wenn man sich strikt an technologische Entwicklungen hält. Genauso schwierig ist es, sich vorzustellen, was passieren wird, was als Antwort auf ein Ereignis geschehen wird, was diese wiederum auslösen wird. Oder wie es hier aussehen wird. Beispielsweise ist eine fürchterliche, aber mögliche Vorstellung, das Finsterwalde in 15 Jahren von einer Atombombe zerstört wird. Die Welt ist nicht die, in der das unmöglich wäre.“ Aber dennoch ist Annas überzeugt, dass sich die Zukunft nicht vorhersagen lässt, das sich Entwicklungen in eine eindeutige Richtung festlegen lassen. „Es gibt ein Kapitel in dem Buch, in dem betrunkene alte Männer versuchen zu rekonstruieren, was in den letzten Jahren passiert ist. Warum sich Deutschland verändert hat. Und sie müssen daran scheitern, nicht nur, weil sie betrunken sind, sondern weil es nahezu unmöglich ist, Ereignisse vorauszusagen, die aufeinander aufbauen.“ Und auch im Nachhinein wird bisweilen allzu viel Kausalität und Eindeutigkeit angenommen. „Wir haben uns auf das populäre Narrativ geeinigt, dass die Schüsse in Sarajevo den Erste Weltkrieg ausgelöst haben. Aber wäre es ohne die Schüsse nicht zum Krieg gekommen? Nein. Deutschland hatte massiv aufgerüstet“. Und wenn schon die Vergangenheit nicht eindeutig ist, dann ist die Zukunft noch schwieriger vorherzusagen.
Am Ende sprechen wir dann über eine Frage, die mich beim Lesen von „Finsterwalde“ beschäftigt hat: die Verbindung zu „Illegal“ über den Begriff der Illegalität hinaus. Max Annas‘ ersten Bücher „Die Farm“ und „Die Mauer“ sind zwei Teile einer Trilogie und nun gibt es Verbindungen zwischen „Finsterwalde“ und „Illegal“. Dass auch sie Teile einer geplanten Trilogie sind, verneint er. Aber sie seien miteinander verbunden, wenngleich auch lose: „Ich hatte Lust, diese beiden Bücher miteinander zu verzahnen. Marie als Überlebende des Plots von „Illegal“ konnte ich eine Zukunft geben. Das gefiel mir als Anbindung an das eher komplexere Buch „Finsterwalde“. Ich wollte sozusagen diese Geschichte fortschreiben. Es gibt ja noch zwei andere Figuren, die aus „Illegal“ wiederauftauchen.“ Auch sind beide Bücher durch die Stadt Berlin verbunden. „Ich bin nach Berlin gekommen als relativer Newcomer. Ich bin vorher oft hier gewesen, aber nur für wenige Tage. Und ich hatte Lust, mir diese Stadt zu erobern mit meinem Blick, mit meiner Wahrnehmung. Das habe ich mit „Illegal“ begonnen, das Stadtspiel, in dem jemand anders meine Augen einnimmt oder übernimmt. Und mit „Finsterwalde“ mache ich eigentlich genau da weiter. Ich suche mir neue Blicke auf Berlin und ich suche mir Blicke auf Berlin, die ich dann auf die Zukunft hineinverändere.“
Sonja Hartl
Max Annas: Finsterwalde. Roman. Rowohlt Verlag, Hamburg 2018. 400 Seiten, 22 Euro.
Die Texte von Sonja Hartl bei CrimeMag hier. Die von Max Annas nebenan.