Geschrieben am 1. Februar 2023 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2023

Ingrid Mylo: Zwei Bücher im Traumzustand

Anderweitig bemühte Fliegen und ein Kinderwitz


            Der Titel ist schon mal schön, ‚Diverse Wunder‘, da siehst du die Auslage gleich vor dir, das Schaufenster voller Farben und Pracht, ungeordnet, eine vielversprechende Wirrnis leuchtender Verlockungen, und klar, denkst du an Tucholsky, der hätte vielleicht maliziös gefragt: „Was für Wunder hätten Sie denn so im Angebot.“ Wunder, in denen Fische zuhauf kursieren wie nachbarschaftliche Gerüchte, die sich, natürlich, als falsche Behauptungen erweisen (aber das darf man ja jetzt, das soll man sogar: andere anschwärzen, ungestraft, während die Angeschwärzten in Zukunft beweisen müssen, daß sie das nicht sind: schwarz, daß sie nach wie vor weiß sind), den Fischen zur Seite: Bäume und Polizisten und Steine und Hühner (vor denen, sagt Stangl, wir uns schämen) und Orangen (vor denen Scham nicht vonnöten ist).

Und Stangl erschafft und zerstört innerhalb weniger Augenblicke: was er am Anfang einer seiner 82 (auf 104 Seiten) Sehrkurzgeschichten aufbaut, ist an ihrem Ende meist wieder verschwunden im Weiß einer gähnenden Seite, manchmal passiert Haarsträubendes, manchmal nichts: eine dickliche blonde Frau mit der Tätowierung einer dünnen blonden Frau auf dem Oberarm (auf welchem?) steigt aus dem Bus. Das ist alles. Das ist viel: was Stangl nicht sagt, und so, wie er es nicht sagt, läßt Mutmaßungen zu über Dinge, die anderswo geschehen, während hier Sätze aufgereiht sind wie Potemkinsche Dörfer, die keinen Zaren täuschen. Eine Zarin schon gar nicht. Manchmal nimmt Stangl den Tonfall eines Philosophen an, manchmal ist er ein Dichter: und das aus alten Fresken Fortgeträumte hinterläßt einen wahrhaftigen Fleck. Komisch sein kann er auch. Es ist ein denkwürdige Sammlung hypnagoger Zustände, jener Augenblicke kurz vor dem Schlaf, in denen die Welt den gestaltannehmenden Unmöglichkeiten weicht, und unter der Tür durch schieben sich ungeheure Vorgänge ins Zimmer und werden Bild.

Auf der Innenseite des Covers wird Kafka genannt, Daniil Charms und Cortázar: warum dieser Verweis auf andere, geläufigere Namen, warum nicht er selbst, Stangl: und Schluß. Wobei: Stangl greift seinerseits zu dem, was vor ihm geschrieben stand, sagt nicht Rilke, sagt nicht Beckett, wandelt, was er vorgefunden hat bei den beiden, großzügig um. Wittgenstein, allerdings, sagt er, bevor er dessen berühmten Satz neu formuliert: doch die Fliege aus dem, was jetzt ein Gurkenglas ist, surrt durch andere Stanglsche Texte, jagt einem Schachgroßmeister quer durch Europa hinterher, vermehrt sich, um nach ihrer wundersamen Vermehrung mit händewaschenden Ärzte gemein gemacht zu werden.

Und nach diesen wildwuchernden Träumen: das ‚Gleißen‘, Anuschka Roshanis Buch vom Gleiten in eine andere Art der Wahrnehmung, hier kommt, dachte ich, die Verwandlung der Wirklichkeit mit anderen Mitteln. Obwohl der Untertitel so brav und blöd ist und Mißverständnissen auf den Weg hilft, ‚Wie mich LSD fürs Leben kurierte‘, klingt nach Gebrauchsanweisungen für Brühwürfelverwender, zum Glück ist, was folgt, von etwas anderer Machart. Wenn auch ein wenig beliebiger (unpräziser? unschärfer? gefälliger?), als erhofft. Vor Jahren schon hatte ich ein anderes Buch im Visier, Michael Pollans Erforschungen über das, was mit dem Ich passiert, wenn es von Drogen geflutet wird: und genau dieses Buch war für Roshani Anlaß, sich auf ein ähnliches Experiment einzulassen, um anschließend darüber zu schreiben. Geschrieben hat sie vor allem über Entwicklung, Verwendung, Verbot von LSD im Lauf der Zeit, Historisches, Politisches, Medizinisches, Gesellschaftliches.

Die Schilderung ihrer Erfahrung mit der Droge, das ‚Beben‘, wie sie es nennt, nimmt von den 155 Seiten gerade mal 17 Seiten ein. Man kann schon was damit anfangen, auch mit den Auswirkungen auf ihr Leben danach, angstloser ist sie geworden, klarer in ihren Forderungen, Dinge, die unabänderlich sind, nimmt sie leichter hin (wobei mir der Kinderwitz einfällt von dem Mann, der sich ständig in die Hose macht und deshalb einen Psychiater aufsucht, und nach der Behandlung wird er von einem Freund gefragt, ob sie erfolgreich war, ob er sich jetzt nicht mehr in die Hose macht. Doch, sagt der Mann, aber es macht mir nichts mehr aus), alles erstrebenswert und gut. Und eher liegt der Fehler bei mir, ich hätte den Untertitel ernster nehmen sollen, Roshani gibt nicht vor, Literatur verfaßt zu haben, wieso bin ich trotzdem davon ausgegangen. Genauso unsinnig ist die Erwartung, durch einen anderen etwas darüber erfahren, was es heißt, Ich zu sein über die Grenzen des Ichs hinaus, Ich zu sein, ohne Beteiligung des Ichs, was das ist: der Zerfall des Ichs, seine Auflösung, und wie es sein kann, das alles (das Zerspringen des Ichs zu einer Fontäne aus „Hunderten Wassertröpfchen“, schreibt die Autorin) dennoch wahrzunehmen. Und zu formulieren. Was ist Wahrnehmung. Was Bewußtsein, was Welt. Wo und wann und wie kommt das Ich ins Spiel. Ein Reigen schöner Rätsel. Und die Erkenntins, wie wenig die Wissenschaft zur Lösung beiträgt. Besser: die diversen Wissenschaften, die eine gibt es nicht, und viele davon sind längst von Kapital und Politik gekapert, aber das ist nicht Thema dieser Reportage.

Immerhin und weil es im Zusammenhang mit dem Verbot von LSD eben genau um Politik ging, zitiert Roshani aus einem Interview mit John Ehrlichmann, dem damaligen Chefberater von Richard Nixon: „Wir wußten, daß wir keine gesetzliche Grundlage hatten, gegen sie vorzugehen, aber indem wir die Öffentlichkeit dazu brachten, die Hippies mit Marihuana und die Schwarzen mit Heroin in Verbindung zu bringen, und dann beides stark kriminalisierten, konnten wir diese Milieus zerschlagen. Wir konnten ihre Anführer verhaften, ihre Häuser durchsuchen, ihre Treffen auflösen und sie Abend für Abend in den Nachrichten verunglimpfen. Wußten wir, daß wir logen, was die Drogen anging? Natürlich wußten wir das.“ (Hervorhebungen von mir). Roshani schreibt, sie sei befremdet, „wie unheimlich geschickt die Politik ihr eigenes ‚Narrativ‘ aufgefahren hat – und wie weit sie mit Lügen gekommen ist.“ Befremdet? Sie hätte in den letzten drei Jahren genau diese Vorgehensweise der Politik beobachten können, der Gegenstand war halt ein anderer: und befremdlich ist eher, daß ihr das trotz ihres mit LSD durchleuchteten Bewußtseins nicht aufgefallen ist.

Ich bin jetzt erst recht neugierig auf den Pollan, vielleicht fällt er mir ja doch mal in die Hände. 


© 2023  ingrid mylo


Thomas Stangl: Diverse Wunder. Ein paar Handvoll sehr kurzer Geschichten. Droschl, Wien 2023. 108 Seiten, 20 Euro.

Anuschka Roshani: Gleissen. Wie mich LSD fürs Leben kurierte. Kein & Aber, Zürich 2022. 72 Seiten, 22 Euro.

Im Dezember 2022 erschien, herausgegeben, kommentiert und übersetzt von Ingrid Mylo: „Katharine Mansfield: Alles, was ich schreibe – alles, was ich bin. Texte einer Unbeugsamen“ (unsere Besprechung hier.)
Ingrid Mylos Texte bei uns hier, darunter auch ihre „3 x 11 Spielworte“ – eine andere Art, auf Bücher zu deuten, nämlich auf Zitate mit bestimmten Worten.
Vier Blicke auf ihren Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen bei uns. Im April 2023 erscheint in der Edition Azur bei Voland & Quist ihr Werkband „Die Entfernung der Sterne“. – Zur d13 entstand von Ingrid Mylo und Felix Hofmann das „100-Tagebuch“. Einhundert Tage lang waren sie jeden Tag auf der documenta. So genau hat dort noch nie jemand hingesehen. Eine Besprechung bei uns hier.

Tags : , ,