Geschrieben am 1. Juni 2021 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2021

Vier Blicke auf Ingrid Mylos Gedichtband „Überall, wo wir Schatten warfen“

Gerd Koenen, Georg Seeßlen, Reto Weber und Alf Mayer über:

Ingrid Mylo: Überall, wo wir Schatten warfen. Gedichte. edition AZUR, Volland & Quist, Berlin 2021. Klappenbroschur, 80 Seiten, 18 Euro.

Reto Weber: Es passt

Die Gedichte von Ingrid Mylo bewegen mich seit geraumer Zeit. Für mich als Musiker sind sie musikalische Essenzen und ich freue mich mit ihr ab 2022 auf der Bühne zu stehen und Töne hinzuzufügen. Es passt…

Seine Internetpräsenz hier.

Alf Mayer: Was richtet die Helligkeit an?

Fern jeder Erzählung heißt die vorletzte Zeile in Ingrid Mylos Gedichtband „Überall, wo wir Schatten warfen“. Zwei Fotos von Frank Horvat (1928 – 2020) auf den Umschlag-Innenseiten der Klappenbroschur rahmen ihre fast 70 Gedichte ein. Der im letzten Oktober im Alter von 92 Jahren gestorbene Pariser Fotograf war ihr ein herzensnaher Freund; immer war es schön zu hören, wie sie von ihm sprach. Seine von ihm noch eingerichtete Internetseite Horvatland trägt das Motto: „photography is the art of not pushing the button“. Ich wäre gerne Mäuschen gewesen, wenn die beiden sich unterhalten haben.

Wie fotografiert man? Wann ist es der richtige Moment? Wie sagt man etwas mit Gedichten? Und mit welchem Wort? Einmal, unbedarft, vor vielen Jahren, ich hatte einen Text bei ihr bestellt, bekam ich mit, wie unglaublich skrupulös und mühsam Ingrid Mylo nach dem einen „richtigen“ Wort sucht. Ich habe also eine kleine Ahnung davon, durch wie viele Täler, Keller, Wälder und Wolken sie steigt, um auch nur zwei Zeilen für sich als perfekt gelten zu lassen.

Silberzüngig: auch so ein Wort, aufbewahrt
in der Streichholzschachtel neben dem Bett …

Heißt es einmal in dem Band. Viele der Gedichte schauen dem Tod, der Vergänglichkeit, dem Vergessen ins Gesicht. Unerschrocken. Genau. Ja geradezu erbarmungslos genau.

Wir sind nur die Schale und das Blatt.
Der große Tod, den jeder in sich hat,
das ist die Frucht, um die sich alles dreht.

(Rainer Maria Rilke)

Ingrid Mylo ringt Tod und Verlust die Schönheit ab. Der beste Weg etwas zu lieben: realisieren, dass man es verlieren kann. Längst nicht immer ist da Trost. Schon gar kein billiger. Aber viel Schönes, tiefenscharf. Diamantenes Funkeln. Und ganz viel Farbe. Präzise bezeichnet.

… Blau,
sagst du. Um nicht zu sagen:
Sehnsucht ….

Was richtet die Helligkeit an, schließt der Band. 
Es ist ein Buch, in das man noch oft zurückkehren wird.

Gerd Koenen: Die Schatten, die wir werfen

Die Schatten, die Ingrid Mylo in ihren Versen wirft (und sie selbst ist es ja, die sich in jeder Zeile zu erkennen gibt), ergeben, wenn man sich hineinliest, so etwas wie eine Schattenlinie, der man zögernd folgt und die man, wenn man sie einmal betreten hat, nicht so leicht wieder verlassen wird. Die Dichte der aufblitzenden Metaphern und assoziativ evozierten Szenerien, und wiederum die Sorgfalt, mit der Worte und Sätze, oft mit diffizil und sorgsam gesetzten Kommas oder Doppelpunkten, miteinander verknüpft sind, sodass sie ihren Sinn oder ihren Reichtum erst preisgeben, wenn man sie mit ebenso viel Sorgfalt liest wie sie geschrieben wurden, erzeugen alle zusammen einen Sog und einen Bewusstseinsstrom, der einem Lethestrom gleicht, dem schwerzen Strom des Vergessens, der uns vom Reich auf der anderen Seite trennt. Noch leben wir auf dieser Seite, aber viele derer, die in winzigen Reminiszenzen oder in objets perdues (Strickjacken, Handschuhe) erinnert werden, sind lange schon im Schattenreich drüben – und trotzdem noch da, präsenter vielleicht als zu Lebzeiten, und intensiver erinnert als andere, die für einen Moment etwas bedeutet haben.

Die Schatten, die wir werfen, sind am Ende wir selbst. Und die Verse, in die Ingrid Mylo diese Schatten und uns bannt, sind auf einen Ton gestimmt und laufen auf Pointen hinaus, die wenig Trost bieten; oder allenfalls wie Fotografien es tun, die den Augenblick, der längst vergangen ist, zu fixieren vermögen, sodass man ihn, wenn auch nur für den kurzen Moment der Betrachtung, doch festhalten kann (ohne, wie Doktor Faustus, dafür seine Seele verkaufen zu müssen). Ingrids Gedichte ähneln oder nein: sie sind ihrer Grundstimmung nach Schwarz-Weiß-Aufnahmen, aus denen – wie moderne Bildbearbeitungsprogramme es können – einzelne Farben schmerzhaft stark hervorstechen, die wiederum sinnliche Reize und Assoziationen jeder Art evozieren.

Das alles sind natürlich nur meine Assoziationen als Leser. Und womöglich könnten sie die Autorin selbst irritieren oder sogar kränken, so wenn ich in manchen ihrer Wendungen („Wann, Freundin, hätten wir …“ oder „Ach, die Namen …“) einen hohen Ton höre, der mir aus den trunkenen Hölderlin- oder auch Rilke-Lektüren meiner frühen Jahre vertraut ist. Gerade diese Verbindung aus Elegie und Gegenwärtigkeit, der Mut, auf Taubenfüßen sich der poetischen Sprachen unserer unaufhaltsam versinkenden Lebenswelt noch einmal entschlossen zu bedienen, um sie in eine Jetztzeit hinüberzubringen, in der die Fahnen neu aufgerichteter Ismen abermals im Winde klirren, in der unsere Lebenswelten noch aseptischer und geruchloser werden, und in der „eine Rose / keine Rose mehr ist und erst recht / keine Rose“, während uns der Boden unter unseren Füßen wegstürzt – gerade dieser Mut ist es, der mir ihre Gedichte sehr nahe bringt. Obwohl oder gerade weil ich die Weltuntergangsängste, die an verschiedenen Ecken hervorscheinen und die Ingrid mit vielen Millenials teilt, als Historiker und Prosaiker, der ich bin, so gar nicht teile. Was ja vielleicht eine Dickfelligkeit ist, die des Antidotums solcher Gedichte wiederum bedarf.

Müsste ich Ingrid Mylos wie Gold aus dem Treibsand unserer Zeit und ihrer vielen, verstreuten Texte herausgesiebtes Gesamtwerk, diese kleine Galerie schmaler, unprätentiöser, schöner Bändchen, zusammenfassend würdigen, dann könnte es sein, dass ich ihre lyrische Prosa ebenso stark oder noch stärker findet als ihre reine Lyrik, ihre Königinnendisziplin sozusagen. Ich schaue in „Zufälliges Blau“ (2018), und finde: „Scherben. Blaue Scherben am Straßenrand, unzählige kleine Splitter, ihr Blau so weit weg und weh, als sei eine Erinnerung an früheste Tage aus dem Gedächtnis gestoßen worden und auf den Steinen zerschellt. So viel Bruchstücke, so wenige Anhaltspunkte. Dieses Bild aus der Kindheit setzt du nie wieder zusammen.“

Aber Gott (oder wem immer) sei Dank brauchen wir uns zwischen den verschiedenen Arten ihres poetischen Schreibens ja nicht zu entscheiden.

Die Internetpräsenz von Gerd Koenen 

Georg Seeßlen: In den Mulden der Zeit

Vorsichtige Annäherung an die literarischen Gedichte von Ingrid Mylo

Wissen Sie, was in diesen Tagen beinahe noch schwieriger ist als Gedichte schreiben, die nicht komisch, nicht nostalgisch und nicht Rap-Stoff sind? Also, um es einfach zu sagen: Literarische Gedichte? Über solche Gedichte zu schreiben. Wir leben, scheint’s, in einer post-lyrischen Epoche, jedenfalls fehlen die Bezugspunkt zwischen den Versuchen der Schulen, uns den Geschmack an Gedichten auszutreiben, und der genialen Verdichtung eines Rock-Songs. Selbst das „spoken word“-Genre ist der musikalischen Performance näher als dem gedruckten Gedicht.

Aber genau darum, vielleicht, geht es. Das Gedicht, das geschrieben und gedruckt ist, übermittelt dem Leser und der Leserin auf eine ganz eigene Weise: Zeit. Und Freiheit vielleicht auch. Wenn man über die Zeilen gleitet, die Worte schweben lässt, die Zäsuren ausdehnt oder überspringt, wird das literarische Gedicht zu einer inneren Stimme. Es geht nun nicht darum, die literarische gegen die performte Lyrik auszuspielen, vielmehr darum, beidem ihr Recht zu geben. Und darum, sich dann doch wieder einmal die Zeit zu nehmen, sich auf gedruckte Gedichte einzulassen, nicht zwischendurch und daneben, sondern mit einer ungewohnten Konzentration auf den Klang von Worten und den Fortgang einer Kette, die einen wer weiß wohin führen kann. Wo man vielleicht lernt „die Maschinen rückwärts/ zu lesen, oder einen Stern/zu betreten nach seinem Erlöschen“.

Zeit also. Oder genauer gesagt, die Überkreuzung von Zeiten, In den Gedichten von Ingrid Mylo zum Beispiel. Sie sind literarisch par excellence und das heißt, sie machen die lesende Person zum Mitautor. Und sie kreieren dazu einen magischen Raum, der im Titel der Sammlung benannt wird; „Überall, wo wir Schatten warfen“. Dort nämlich begegnen sich Wahrnehmungen des Augenblicks, dunkle Erinnerungen und losgelöste, von Zwecken befreite Ideen, so, als wäre das Verlorengegangene immer nur in solchen Augenblicken des radikalen Stillstands  – und dort, wo „Bücher ihre Bedeutung fallen lassen“ – zu bewahren. 

Mylos Gedichte haben oft einen Augenblick der Natur zum Anlass: Blumen, Wasser, Schmetterlinge, Zweige; Farben; Wetterlagen; Muscheln und die sie suchen, Jacken, und die sie tragen, Katzen, die ausgesetzt wurden; Klänge, die in Gefahr stehen, mit der Erinnerung den Gedanken an den Tod hervorzurufen.

„Hast du nicht mit den Mirabellen/einst auch die Melancholie/in die Stunde geholt“, so beginnt das alles, programmatisch genug, und es endet, womöglich wirklich abschließend: „durch das Muster/der Kirschzweige geistern Fragmente/ozeanischer Farben fern jeder Erzählung./Was richtet die Helligkeit an“. 

Das ganz und gar konkrete, ein Aufblitzen der Evidenz, die Direktheiten die sich ein-bilden (Walnußschalen auf dem Tisch, Wäscheleinen, Windräder) ziehen die Erinnerung und die Ängste an, oft genug schauen hier Tod und Schmerz um die Ecke. Auch das Unheimliche kommt zu seinem lastenden Recht: „Erst wenn die Buchrücken/aus der Dunkelheit auftauchen, nehmen/die Bilder Vernunft an, und die Schimären/kehren in ihre Ställe zurück“. 

Wenn es die Verzweiflung nicht gäbe, bräuchte es keine Gedichte. Wenn es das Glück nicht gäbe, bräuchte es keine Gedichte. Gedichte, die besseren zumal, sind Kurzschlüsse zwischen Verzweiflung und Glück. 

Aber sie sind natürlich auch harte Arbeit, Denn es geht dabei darum, jedes überflüssige Wort zu vermeiden oder zu verbannen. Dann aber müssen die übriggebliebene Worte die Last der vermiedenen und der verbannten Worte mittragen. 

Das heißt: Die Worte in einem literarischen Gedicht wiegen schwer. Und schwerwiegende Worte sind nicht gerade in Mode. 

Literarische Gedichte sind, um auf die Schwierigkeit zurück zu kommen, von der am Anfang die Rede war, auf eine ganz eigene Art intim. Man nähert sich ihnen deshalb wohl immer mit einer gewissen Vorsicht, denn eben das, worum es in ihnen geht, die Verzweiflung und das Glück, sind eigentlich nicht teilbar und nicht mitteilbar. Außer in Gedichten.

Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag.
Georg Seeßlen
Alf Mayer

Die Internetpräsenz von Reto Weber
Von Gerd Koenen

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