Geschrieben am 17. Juni 2015 von für Kolumnen und Themen, Kunst, Litmag

Ingrid Mylo, Felix Hofmann: Das 100-Tagebuch. Documenta (13)

hofmann_mylo_100 Tage documentaKunst, ohne Museum

Von Alf Mayer

In einer gerechten Welt würde es Preise regnen auf dieses Buch, würde es weithin besprochen, zusätzlich in Galerien und Museen zum Verkauf angeboten, hätten alleine die Stadt Kassel und die ihr zugehörende Gesellschaft einige tausend Exemplare abgenommen, könnten die beiden Autoren mit dem Lohn ihrer gewaltigen Arbeit ein paar Monate ihre Miete finanzieren. In einer gerechten Welt wäre dieses Buch ein Ereignis. Aber es geht in ihm um Kunst. Da sind die Maßstäbe noch extremer außer Kraft, da läuft die Ökonomie des Geldes erst recht aus dem Ruder. Obendrein gibt es da noch eine zum Schämen bornierte und feige Ministerial- und Verwaltungsbürokratie.

Hinaus also ins Offene, dorthin, wo im Jahr 2012 Ingrid Mylo und Felix Hofmann einfach auf eigene Faust an jedem Tag der Documenta durch Stadt und Ausstellungen gestreift sind. „Das 100-Tagebuch – Documenta (13)“ lautet der Titel ihrer Beobachtungen, Betrachtungen, Funde, Fragen, Zeugenschaften und Denkanstöße, damals online auf dem Kulturportal getidan.de erschienen, nun in minimalistisch schöner Buchform erhältlich. (Bezugsquelle siehe unten.)

Es beginnt mit „Tag 1 / 09.06.12 / 16.00 – 20.00 Uhr“, der erste Satz lautet: „Die präsidiale Eröffnung am Vormittag haben wir ausgelassen.“

Ein „neues Schreiben über Kunst“

Bereits im ersten Kapitel beginnt die Auseinandersetzung damit, was Kunst tut, kann und will – und was unsereins damit anfangen kann. Ein schönes Wort eigentlich, dieses Anfangen. Indem Ingrid Mylo und Felix Hofmann sich dem Experiment unterziehen, mit dieser 13. Documenta – offizielle Schreibweise dOCUMENTA (13)“ – und ihren tausendfachen Angeboten im Kassel des Jahres 2012 etwas anzufangen, wird die Lektüre ihres 100-Tagebuchs zum Anfang vieler, vieler Denkprozesse bei uns Lesern. Dieses Buch funkelt und glitzert von Wahrnehmungsperlen, Gedankensplittern, geschliffener Erkenntnis, rätselhaften Funden, Exotik und Nähe, Wahrheiten aller Gütegrade. „Ein Abenteuer im besten Sinne“, nennt Georg Seeßlen in seinem Vorwort das Buch, er sieht es als „Expeditionsbericht“ und als Musterbeispiel eines „neuen Schreibens über Kunst“.

Georg Seeßlen ist ein radikaler Utopist, der mit seinen Thesen von den „Blödmaschinen“ und „Geld frisst Kunst – Kunst frisst Geld“ den Kunst- und Kulturbetrieb aufmischt, nach etwas jenseits des Geldes und der Verwertungsrituale fragt. Seine Kritik am System begnügt sich nicht mit Analyse. Er ist ein Prophet der Gegenentwürfe, die Bandbreite seiner sensibilité universelle, wie das bei Diderot geheißen hätte, spiegelt sich in seinen Arbeiten. (Gerade zum 85. Geburtstag von Clint Eastwood erschienen: „Eine amerikanische Ikone“, mit zwei Beiträgen des Autors dieser Zeilen.)

Ingrid Mylo und Felix Hofmann sind Seeßlens Verbündete. Was er fordert, haben die beiden einfach gemacht – ohne jede Subvention oder Erlaubnis –, sich nämlich einen ordentlichen Teil der Kunstwelt im buchstäblichen Sinne angeeignet. Ihre Eintrittskarte: Wenn wir schon vor dem Gesetz der Gesellschaft alle ungleich sind, so sind wir vor der Kunst alle gleich. Die Kunst ist ihnen praktizierter Kommunismus, sie ist für alle da oder für keinen. Weil sie das realiter nicht ist, beweist sie sich als der Gesellschaft unterworfen. Niemand aber muss es sich gefallen lassen, dass sie nur denen überlassen bleibt, die sie besitzen, handeln, bewerten oder in Auftrag geben. Kunst ist trotz allem mehr als die schickste Form der Steuerhinterziehung. Kunst ist für alle da – und jeder kann damit etwas – anfangen. Voila.

documenta 22jpgLaufen, schauen, riechen, hören, denken …

Auch ganz ohne Geld. Nur mit den Sinnen Derer braucht es alle, schon am ersten Documenta-Tag: „Man muss laufen, schauen, riechen, hören, denken – und weiterlaufen. Die ganze Körpermotorik ist gefragt, diese Documenta beginnt sozusagen in den Beinen, steigt im Körper hoch, oder durchwandert ihn bis hinauf in die Nase, die Augen und Ohren, fordert die ganze Wahrnehmungsmotorik und setzt schließlich das Gehirn in Gang“, notieren Mylo-Hofmann im ersten Absatz, um dann im zweiten gleich ein Stück Documenta-Alltagskunst zu beschreiben. Auf der Treppenstraße zum Friedrichsplatz zieht ein Mädchen eine leere Pizzaschachtel aus einer Plastiktüte, geht zu einem Papierkorb, legt die Schachtel darauf, tritt zurück und fotografiert den Einfall. Die Freundin des Mädchens tippt sich an die Stirn. Das ist auch Kunst, sagt die Fotografin herausfordernd.

Immer wieder geht es um das Betrachten von Kunst. Tag 59 versammelt ein ganzes Hörspiel von Zwiesprachen. An Tag 52 spitzt es sich darauf zu, dass für die überlieferte Kunst galt: der Betrachter prüft die Kunst. Nun aber prüft sie ihn. Die Prüfung ist noch nicht bestanden. Nicht umsonst kommt immer wieder Nietzsche vor, seine fröhliche Wissenschaft hat freudigen Auslauf. Ein Held Voltaires tritt ebenfalls auf. Unter den vielen Büchern in den vorderen Räumen des Nordflügels vom Kulturbahnhof das eine voller leerer Seiten: Micromegas was here. (Ein allwissender Bewohner des Sternes Sirius, der neben anderen Planeten auch der Erde einen Besuch abstattet und zuletzt den Menschen ein „schönes wissenschaftliches“ Buch überreicht, aus dem sie „den Endzweck aller Dinge“ erfahren sollen. Als die Gelehrten das Buch nach Micromegas‘ Abreise aufschlagen, finden sie nichts als leere Blätter).

Wer sind diese Autoren?

Ingrid Mylo und Felix Hofmann sind schon lange ein Paar. Er ein früherer Autor der legendären „filmkritik“, Biograph des Ausnahmeschauspielers Peter Lorre, Autor und Herausgeber der radikalen Zeitschrift „anachron“ (mehr dazu hier), ein gelernter Zimmermann, der auch in seinen Texten weit übers Land schaut, der mit der Hand arbeitet, um seinem Kopf die ja doch oft unbezahlte Freiheit des unabhängigen Denkens zu verschaffen. Sie eine wortmächtige und wortgenaue Schriftstellerin und Lyrikerin, eine Meisterin der Miniaturen (mehr dazu hier), der genauen Beobachtungen und schräg-wahren Dialoge, ihre Literaturkritiken geschliffen und gerecht, weil eine Respektsperson da über andere verhandelt, ihre Kolumne „Kaffeeblüten“ (mehr dazu hier) erschien zwölf Jahre lang im Frankfurter „strandgut“.

Sie wohnen in Kassel. Heimvorteil. Nun also 2012 die ganze Documenta, von vorn bis hinten und in jedem Seitengang. Eine gewaltige Arbeit, eigentlich ein doppeltes Stadtschreiber-Honorar wert. In Wirklichkeit prekär entstanden.

documenta13_13Eine Zimmerflucht, nur für den Wind

Jeden Tag hingehen, bedeutet auch, jeden Tag wieder zurückzukehren. Die Kunst führt aus der (Alltags-)Realität hinaus, aber der Weg kehrt sich um. „Hundert Tage Kunst, hundert Tage einatmen, aufnehmen, erspüren, hundert Tage sich verzetteln, sich verlieren, sich amüsieren, sich infizieren, hundert Tage nachdenken und schreiben. Es gibt keine Kunst außerhalb der Wirklichkeit.“

Es gibt keine Kunst außerhalb der Wirklichkeit. Das ist das Wunderschöne an diesem 100-Tagebuch. Immer wieder setzt man es ab, schaut aus dem Fenster, auf die in den eigenen Wänden versammelte Kunst, aufs Bücherregal, auf das eigene Leben, auf die Momente des in der Begegnung mit Kunst erfahrenen Glücks. Dieses 100-Tagebuch ist wie eine Musik, die man sich auflegt und weit mehr als 100 Tage hören/lesen kann. Übrigens macht das Buch tatsächlich auch Lust auf nicht wenig Musik. (Etwa auf Charles Mingus und seine „Tijuna Moods“, aber das ist nur ein Beispiel.) Einmal gibt es gar den Ton der Brotschneidemaschinen, wie ihn jeder schon einmal bei seinem Bäcker gehört hat. Dann stockt dieses Zerlegen der Zeit, kommt aus dem Tritt, in Cevdet Ereks „Raum der Rhythmen“.

Einer der Orte, die Ingrid Mylo und Felix Hofmann während der 100 Tage immer wieder besucht haben, ist die Zimmerflucht im Fridericianum, die Ryan Gander dem Wind überließ. Leere Räume, nur der Wind. Die beiden bleiben dort oft länger als 15 Minuten, weit länger als das Feuilleton, das diese Installation beim Schnelldurchgang als Wellness-Oase abtat.

Am Tag 66 sind sie zum elften Mal in der Filmhalle von William Kentridge (die auch mich – wahrscheinlich fürs Leben – beeindruckt hat). Was man dort wahrnimmt, schreiben sie, „ist nicht analysierbar, nicht kritisierbar, nicht interpretierbar. Es ist das, was es ist, und so, wie es ist. „The Refusal of Time.“ Fünf Projektionsflächen, vorgefundene Wände einer nicht mehr genutzten Lagerhalle, für 5 Filme, die einander überschneiden, aber nicht gleichen. Vielleicht 5 Fassungen desselben Films. Die Zurückweisung der Eindeutigkeit. Und doch als Ganzes ein klassisches Kunstwerk: identifizierbar und unwiederholbar. Hier ist eine der Vorgaben dieser Documenta vollkommen eingelöst – die Wiederzusammenführung der Künste und der Wissenschaften.“

Angesichts des Zustands unserer Welt

Was das 100-Tagebuch geradezu mustergültig einlöst, ist die Verbindung von Kunst und Alltag. Es ist eine, wie Georg Seeßlen es nennt, „anti-fetischistische Art, über Kunst zu schreiben“. Etwas, was Schwellenangst nimmt, ohne an intellektuellem Maß zu verlieren, auch nicht an Respekt den Schöpfern der Werke gegenüber, und dem, was die Geistesgeschichte der Menschheit ist. Eine Expedition, in deren Schmetterlingsnetzen sich die Welt fängt – und wie die Kunst sie spiegelt. Carolyn Christov-Bakargiev, die sich glücklich über solch ein Buch schätzen kann, wird zitiert mit: „Wissen Sie, es ist wirklich großartig, hier in Kassel die Documenta zu machen – aber angesichts des Zustands unserer Welt wäre es obszön, eine Kunstausstellung alleine um der Kunst willen zu veranstalten.“ Anders als in vielen Kulturteilen der Zeitungen, wo man mit dem Urteil über diese Kuratorin (vor-)schnell fertig war, schauen Ingrid Mylo und Felix Hofmann hin. Dieses Buch ist auch eine Ehrenrettung.

Immer wieder sickert die Kunst in den Alltag, etwa in den vielen Beobachtungen von Material; der Zimmermann und die Kaffeehausbeobachterin haben Augen, Daumen, Nase und Ohren für die kleinsten Sinnesspäne. Ein ungeheurer Reichtum an Eindrücken tut sich auf, die Kunstausstellung wird zu einer das Leben durchdringenden Symphonie einer Großstadt. „Das 100-Tagebuch“ gehört zu den unlangweiligsten Büchern, die ich je zu lesen das Vergnügen hatte. Auch die nach 20 Uhr abgeschalteten Kunstwerke gehören dazu. Massimo Bartolinis Welle kommt zum Erliegen, William Kentridges Elefant hört auf zu atmen, Ryan Ganders Wind weht nicht mehr, Ceal Floyers hypnotische Musikschleife verstummt. Nur „Tristanoil“, der 2400 Stunden lange Film von Nanni Balestrini im Kulturbahnhof, muss weiterlaufen, ununterbrochen, Tag und Nacht, 100 Tage lang, sonst schafft er es nicht, fertig zu sein, bis die Documenta zu Ende ist.

Am Tag 19 notieren die Beiden: „… außerdem weiß man eh nicht mehr, wo die Documenta aufhört und Kassel anfängt.“

Auch heute: Noch kein Meister vom Himmel gefallen

Das stressfreie, eingefleischte Außenseitertum ist ganz das ihre, die Autoren können einfach so, „absichtslos, ziellos, gefahrlos, konkurrenzlos und sogar faul, pflichtvergessen und unverzagt durch die Ausstellung stromern und uns freuen, verführen lassen, erregen, ärgern, zerstreuen, langweilen, streiten, erheitern, lustig machen, informieren, nicht informieren, einwickeln lassen, nicht einwickeln lassen, vergnügen, irren, amüsieren, ablenken lassen und wieder erfreuen. Alles, wie’s gerade kommt.“

Zu einer Reise braucht es auch Humor. Der kommt im „100-Tagebuch“ nicht zu kurz. Da gibt es aufgeschnappte Besucherkommentare, Eintragungen aus all den Ausstellungsbüchern, Beobachtungen, Fundstücke. „Nicht über die weiße Linie! Sind Sie blind?“, ruft ein Wärter bei Lara Faverettos überdimensionierter Schrottinstallation. Die haben Angst, meint eine Besucherin aus Florenz, dass dort etwas weggenommen wird. Bei uns, lacht ihr Mann, hätten sie Angst, dass die Leute etwas dazu legen.
„Ich habe den ganzen Tag lang draußen nachgeschaut und genau aufgepasst: auch heute ist wieder kein Meister vom Himmel gefallen“, verzeichnet Tag 11. Wenn ich das alles sehe, dann kriege ich selber Ideen, sagt jemand am Tag 27. Komm, wir gehen weiter, das hier überzeugt mich nicht, sagt ein Mann am Tag 30. Sie meint: Mich auch nicht, aber vielleicht liegt das an uns. Darauf er: Und … ändert das was? An Tag 63: Aber lies erst mal die Unterschriften, dann machen die Bilder noch weniger Sinne.
Was hier fehlt, sind Engel… heißt es am Tag 82.

Natürlich ist das Unsinn. In diesem Buch kann man tatsächlich den Engeln begegnen. Sie sind Legion. Aber immer noch zu wenig. „Mehr Metzger!!!!“, fordern Mylo & Hofmann am Tag 100. Gemeint ist der Aktionskünstler Gustav Metzger, dessen Werk das Destruktionspotential des 20. Jahrhunderts thematisiert. Krieg und Unfrieden, was der Mensch dem Menschen tut, was die Kunst damit macht, auch das zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Hier wird nicht nur blaues Aquarell gemalt. „Das 100-Tagebuch“ schaut der Welt und ihrer Kunst ins Gesicht.

Alf Mayer

Nach einigen Ansinnen, dem unhonorierten Verfassen des Buches doch gleich noch für lau das daraus Vorzutragen folgen zu lassen, gibt es nun doch eine anständige Lesung: Dienstag, 14. Juli, 20 Uhr, im Literaturhaus Nordhessen im Kunsttempel, Friedrich-Ebert-Str. 177, 34119 Kassel.

Ingrid Mylo/ Felix Hofmann: Das 100-Tagebuch. Documenta (13). Mit einem Vorwort von Georg Seeßlen. Getidan Verlag Runhard Sage, Berlin 2015. 220 Seiten. 15,00 Euro. Bezug über die E-Mail-Adresse: hofmann@micromegas.de

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