Geschrieben am 1. November 2021 von für Crimemag, CrimeMag November 2020

„Der Dorflehrer“ – nach Cixin Liu

Wissenschaft kann uns erheben

Mein Schreibtisch wieder einmal übervoll; ich versuche verzweifelt, quasi-archäologisch dessen Grundplatte freizulegen. Aber Freiheit muss sein: Denn da gibt es diese Geschichte, die mich seit langem nicht mehr loslässt (und ich muss einfach darüber schreiben …): „Der Dorflehrer“. Hmm, ein sehr seltsamer Science Fiction-Titel. Die graphische Umsetzung in der vorliegenden Graphic Novel, das sei vorausgeschickt, ist phantastisch mit diesem Blick für das Kleine und schier Übergroße, tragisch und traurig, mit Wucht und Flair, ideenreich und einfach nur WOW!

Fange ich an zu blättern – denken Sie an den Titel: auf den ersten Seiten gigantische Szenerien von Raumschiffschlachten. Wie bitte??? Schnitt: Eine ärmliche Gegend in China. Dorflehrer Li setzt intellektuell und materiell alles für seine Schülerschaft ein – bis dahin, dass er von den Dorfbewohnern, die ebenfalls in großer Not vegetieren, aus Wut, Zorn und Unverständnis fast zu Tode geprügelt wird. Im Krankenhaus erfährt er von seinem Tumor, den operieren zu lassen er sich kaum leisten kann. In den letzten Momenten seines Lebens bringt er seiner Klasse Prinzipien der Newtonschen Physik bei.

Dieser Erzählstrang wird immer wieder durch ein anderes Narrativ unterbrochen, z.B. so: „Die Milchstraße. Ein intergalaktischer Krieg zwischen kohlenstoffbasierten und siliziumbasierten Lebewesen.“[1] Unter unfassbar hohen Verlusten gewinnen die Kohlenstoffbasierten und beschließen, die Siliziumbasierten in einer Zone einzuschließen. Da jene für ihre Raumsprünge Sterne benötigen, soll ein stern-freier Korridor geschaffen werden. Fast alle Sonnen in dieser Zone müssten vernichtet werden. Zuvor könne aber noch geprüft werden, ob es auf den betroffenen Planeten intelligentes Leben gebe. Der erste Planet fällt schon einmal durch. Bumm. Dann die Erde. Nun wird – Zufall – die Klasse von Li geprüft. Spannung pur: „Was ist die Energiequelle eines Sterns?“[2] Keine Antwort. „In welchem Verhältnis stehen die Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks zueinander?“ Keine Antwort. Die Singularitätsrakete nähert sich immer mehr der Sonne. Doch der Kommandant, zweifelnd, fragt nun nach Newtons Gesetzen – und die Kinder haben diese ja auswendig gelernt. Der Erde ist gerettet.

Für die Karbonbasierten scheint die Entwicklung einer so hohen Zivilisation unverständlich, gerade was die Art der Informationsvermittlung betrifft, aber: „Vor langer Zeit in der Milchstraße gab es so etwas bereits …“ „Man nannte sie …“ „… Lehrer.“[3] Am Ende von Cixin Lius Geschichte – in der englischen Übersetzung – beerdigen die Schüler Li: „The children walked back to the village […]. They would continue to live. On this ancient, impoverished piece of land they would reap a small but truly substantive hope.”[4]

Hier ein mikro-Ereignis, dort ein kosmischer Konflikt, beides dramatisch verklammert. Nun, ein Gedankenexperiment. Voller Tragik: Li sollte nicht mehr erleben, was seine Klasse von ihm gelernt hat. Dieser banale Satz: man wisse nie, wozu etwas gut sei (… und das können wir alle nie im Voraus planen oder wissen. Auch das ist eine Form von Freiheit …). Physikalische Gesetze haben, so die Grundannahme dieser Geschichte, überall im Kosmos Gültigkeit. Und: Wissenschaft kann uns erheben, mögen wir auch noch so armselig sein. Wissenschaft ist die Kommunikationsbrücke in den Kosmos hinein.

Bildung muss ein Menschrecht für alle Kinder werden.

Und abschließend gilt mein besonderer Dank allen Lehrerinnen und Lehrern, die in der Corona-Krise Großartiges geleistet haben: Hoffnung.

  • Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine weit über hundert Texte und Essays bei uns hier.

[1] Cixin Liu: Der Dorflehrer, von Zhang Xiaoyu, Bielefeld 2021 (SPLITTER Verlag), 12 f. Schriftbild von mir geändert (auch in folgenden Zitaten).

[2] Dorflehrer (s. Anm. 1), 87.

[3] Zitate von Dorflehrer (s. Anm. 1),  S. 100-103.

[4] Cixin Liu: The Village Schoolteacher, in: The reincarnated Giant, hg. V. Mingwei Song – Theodore Huters, New York 2018, 45-79, hier 79.

Markus Pohlmeyer über Cixin Liu:
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