Geschrieben am 1. Mai 2019 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2019

Markus Pohlmeyer: Platon, Science Fiction und Cixin Liu

I Theoretischer Versuch: platonische Science Fiction?

Platon verwendet nicht selten in seinen Dialogen (Kunst)Mythen, wie z.B. den von Atlantis oder wie Eros in die Welt gekommen sei. Es ist keinesfalls so, dass Platon dann Mythen dichte, wenn er etwa mit seiner Philosophie (dem logos) am Ende wäre. Eine andere Erklärung wäre vielmehr, „[…] dass mythos und logos (so eine gängige terminologische Opposition) dem Begriffsgehalt ursprünglich beide das ‚vernünftig darstellende Reden‘ bedeuten, der eine eben vor allem in Erzählform, der andere in argumentativ nachvollziehbarer Form […].“[1] Eher durch Zufall fand ich in einer Anthologie zur griechischen Literatur folgendes Zitat, das aus einer Einleitung zu Platon stammt:

„Illustrative mythische Erzählungen, oft von allegorischem Charakter, hatten schon die Sophisten gern benutzt. Platon geht darüber hinaus, indem er Erzählungen von Lohn und Strafe der Seelen im Jenseits als Höhepunkte ethischer Paränese gestaltet, vorzugsweise am Ende eines Dialogs (Gorgias, Phaidon, Politeia), aber auch in der Mitte (Phaidros). Sie sind wohl nicht nur als Verbildlichung einer Lehre vom Wesen der Seele zu verstehen, sondern als echte religiöse Rede; so haben sie auch religionsgeschichtlich gewirkt. Platon stellt aber einen einmaligen Schwebezustand her zwischen dem Vertrauen auf eine religiöse Überlieferung (Orphik, Pythagoreismus) und wissenschaftlicher Vorsicht, zwischen eindringlicher, religiös gestimmter Predigt und der phantasievollen Einbeziehung neuester kosmologischer Theorien, fast nach der Art von Science-fiction- und Fantasy-Literatur.“[2]

Platon und Science Fiction? Wie wäre so etwas als Gattung zu benennen? Platonische Science Fiction? Dies würde sofort mehr als nur einige Missverständnis provozieren, und zwar in alle Richtungen: ich nähme beispielsweise anachronistisch an, Platon hätte Science Fiction geschrieben. Darauf würde ich erwidern: Schauen wir uns die Definition von Science Fiction an (Welche der vielen eigentlich?) – und vielleicht, vielleicht findet sich ja ein Argument, diese zu enthistorisieren? Also nicht nur: Genre des Industriezeitalters, des Kalten Krieges, mit technisch-medialen Entwicklungen etc. Möglicherweis wäre aber, immer noch ausgehend von Platon, die Bezeichnung kosmologisch-religiöse Mythendichtung der Science Fiction treffender, aber auch dafür länger? Mit folgenden Kriterien: solche Erzählungen müssen narrativ, religiös und kosmologisch sein. Narrativ verstehe ich, sehr vereinfacht, als den Prozess, das Ergebnis und die (Re)Inszenierung eines Geschichtenerzählens. Religiös beinhaltet im weitesten Sinne Themen und Stoffe von Mythen, Religionen und Metaphysiken (seien es tradierte Denkgebäude oder neu fingierte). Und dies leitet über zu kosmologisch: sowohl Religionen als auch Mythen können in ihrer inhärenten Erzähllogik einen oder den Kosmos erklären. Hinzukommen – komplementär wie auch konträr – die Diskursformen der Naturwissenschaft, die selbst eine bzw. viele Geschichten durchlaufen hat. So war es z.B. ein langer Weg von Demokrit zur Quantenphysik.

II Ein Fallbeispiel: Cixin Liu

Der chinesische Science Fiction-Autor Cixin Liu beschreibt, worin seiner Meinung nach die genuine Leistung von Science Fiction liege, und zwar anhand einer theologisch zu bezeichnenden Perspektivenverschiebung, so dass die Produktionsästhetik dieses Genres grundsätzlich als mythopoetisch verstanden werden könnte: 

 “We might say that mainstream literature describes a world created by God, while science fiction takes on the role of God, creating worlds and then describing them.”[3] Cixin Liu illustriert dies am Beispiel einer short story: “[…] I will call it ‘Singularity Fireworks’ – which describes a group of super-consciousnesses for whom Big Bang-esque explosions are nothing more than an amusing evening of fireworks.”[4]

… und wieder ist ein Universum entstanden; aber fast schon auf dem Weg zum nächsten Feuerwerk halten die Entitäten plötzlich inne. Entität Eins entdeckt eine interessante Entwicklung: „‘Look in the dust, the cooling matter is forming many tiny, low-entropy aggregations that seem interesting.‘ ,Huh,’ Entity Two raised the telescope. ‘They can reproduce themselves and microscopic consciousnesses are emerging’ It paused, ‘Wait, wait, some of them have even managed to infer that they have come from an exploding firework, how fascinating …”[5]

Diese short story ist nichts anderes als eine Allegorie – eine fortgeführte Metaphernreihe. Und bevor ich die Allegorie zurückübersetze, die selbst schon eine englische Übersetzung eines chinesischen Originals zu sein scheint, möchte ich auf eine epistemologische Grenze hinweisen: „Die neuen Lebenswirklichkeiten (IT, Biochemie, Genetik etc.) bzw. deren unüberprüfbare Extrapolation über Jahrtausende oder Jahrhunderte bleiben immer noch an das heute sprachlich Vermittelbare gebunden. […] Ihr fiktiver Realismus ist gleichfalls ein Binnenrealismus, nach Maßgabe der ‚inneren‘ Plausibilität.“[6] Anders gewendet: wir können nur von den Göttern reden, die wir selbst erschaffen haben.

In der Überschrift der exemplarischen Geschichte „Singularity Fireworks“ wird ein physikalischer Terminus mit einem Ding aus unserer Menschenwelt verknüpft. Entität Eins und Zwei sind nichts anderes als Leerstellen, Platzhalter für Irgendwie-Wesenheiten, die aber, anthropomorph genug, über Neugierde und ein Teleskop verfügen. Etwas Vertrautes müssen wir Leserinnen und Leser ja wiedererkennen. Die beiden Entitäten lassen sich außerdem nur über ihren Dialog charakterisieren. Sonst erfahre ich nichts: wie auch? Wo wären hier oder dort, jetzt oder gestern, Raum und Zeit? Die Entitäten sind in einer anderen Dimension verortet und spielen Feuerwerk, d.h. übersetzt: sie schaffen Universen. Und das letzte Ergebnis dieser Spielerei erfüllt die physikalischen Bedingungen unseres Kosmos. Es scheint Leben entstanden zu sein, das sich selbst reproduzieren kann; und sogar Bewusstsein emergiert, um über seinen Ursprung zu reflektieren, nämlich über den Big Bang, den Urknall – wieder eine Metapher. Und das alles erregt die Aufmerksamkeit der Schöpfer-Entitäten. Mehr nicht. Ende der Geschichte.

Hier wird jeglicher anthropomorpher Narzissmus gründlich destruiert. Dieses, unser Universum: nichts anderes nämlich als ein Moment in der Folge eines fortlaufenden, zufälligen Spiels höherer Mächte, die uns einen Augenblick Beachtung schenken, bevor sie, durchaus amüsiert, weiter machen. „Die Ewigkeit: Ein Kind ist sie, kindlich spielend, Spielsteine setzend: eines Kindes die Königsherrschaft.“[7]

Und die Erzählzeit, d.h. wie lange ich brauchen würde, diesen Text vorzulesen, wäre nicht einmal im Ansatz vergleichbar mit der erzählten Zeit, welche für die beiden Entitäten so lange dauert wie die Erzählzeit, aber für unseren Kosmos und das Leben in ihm Milliarden von Jahren umfasst. Diese Zeitensprünge kennen wir: Am Anfang, als Gott Himmel und Erde erschaffen habe (nach Genesis 1) Was ist dieser biblische Text? Nichts anderes als ein platonischer Science Fiction-Mythos! Narrativ, religiös und kosmologisch auf der Höhe seiner Zeit.[8]

Der Cixin Liu-Text ist aber mehr als metaphorisch-allegorisch; durch die Verwendung physikalischer Termini nämlich rutscht er in Richtung eines naturwissenschaftlichen Realismus. Und das klingt ein wenig nach dem, was bei Platon zu beobachten wäre: „Eine hinter der äußerlichen Bildhaftigkeit liegende innere Richtigkeit stimmt mit der faktischen Wahrheit des logos überein. So ist eben der mythos nicht Verleugnung, sondern nur Verkleidung der Wahrheit. […] Zum Philosophen tritt der Poet hinzu […].“[9]

III Naturwissenschaft und Literatur?

Das Ganze hier versteht sich selbstverständlich als ein Denk- und Diskussionsangebot: „Ernsthafte Wissenschaft beginnt – so meine These – dort, wo wir […] versuchen, klar zu sagen, was zu sagen ist, um anderen die Möglichkeit zu geben, eben dies kritisch zu kommentieren und zu verarbeiten. Kritik ist in diesem Sinne Voraussetzung wissenschaftlicher Arbeit und kann aus diesem Grunde nicht allererst begründet oder durch eine Definition eingeholt werden.“[10] Und Cixin Liu übt sehr deutlich Kritik: „In mainstream literature, however, little has changed: its world remains pre-Newtonian, perhaps even pre-Copernican or pre-Ptolemaic. As stated earlier, in the mental world of literature, the Earth is still the center of the universe.”[11] Darauf würde ich kritisch erwidern: Das mag zwar in den meisten Fällen so sein, aber Vorsicht mit Pauschalitäten. (Cixin Liu nennt selbst Gegenbeispiele: Italo Calvino, Jorge Luis Borges oder Franz Kafka) Und vielleicht ging ja schon vor Kopernikus und vor Newton die platonische Science Fiction genau jenen Weg, den Cixin Liu als Aufgabe dieses phantastischen Genres beschreibt.

Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg.
Seine Texte bei CulturMag hier.


[1] C. Schäfer: Mythos/Mythenkritik in: C. Horn u.a.: Platon-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart – Weimar 2009, 309-313, hier 310.

[2] H. Görgemanns (Hg.): Die griechische Literatur in Text und Darstellung, Bd. 3: Klassische Periode II, Stuttgart 1987, 222 f.

[3] Cixin Liu: Beyond Narcissism: What Science Fiction Can Offer Literature, in: Science fiction studies, übers. v. H. Nahm – G. Ascher, Bd. 40 (2013), 22-32, hier 24 f. Siehe auch Ken Liu (Hg.): Broken Stars, Contemporary Chinese Science Fiction in Translation, New York 2019.

[4] Cixin Liu: Beyond Narcissism (s. Anm. 3), 25.

[5] Cixin Liu: Beyond Narcissism (s. Anm. 3), 25.

[6] T. Wörtche Das Mörderische neben dem Leben. Ein Wegbegleiter durch die Welt der Kriminalliteratur, Regensburg 2008, 166.

[7] Übersetzung MP. Griech. Text nach Heraklit, in: Die Vorsokratiker, gr./dt., hg. v. J. Mansfeld – O. Primavesi, Stuttgart 2012, 288.

[8] Auch einige Kurzgeschichten in T. Chiang: Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (übers. v. molosovsky, hg. v. H. Riffel u. K. Schlögl, Berlin 2011) funktionieren nach diesem Prinzip. „Der Turmbau zu Babel“ beispielsweise erweitert den knappen Prätext (Gen 11) und verlangt zum Verständnis des Endes vom impliziten Leser (wie auch von den realen Leserinnen und Lesern) Kenntnisse moderner kosmologischer Konzepte eines gekrümmten Universums, die aus der Perspektive ihres quasi-biblisch-religiös-kulturellen Rahmens von der Hauptfigur gar nicht so formuliert werden könnten. Dabei kommt diese Geschichte ohne jegliche technische Novitäten aus, wie z.B. Raumschiffe oder ähnlich Science Fiction-Mäßiges.

[9] B. Kytzler: Nachwort: Platon und die Bilder, in: Ders. (Hg.): Platon: Das Höhlengleichnis. Sämtliche Mythen und Gleichnisse, 4. Aufl., Berlin 2017, 209-223, hier 214 f.

[10] F. Januschek: Kritikbegriffe in der kritischen Diskursanalyse, in: A. Langer – M. Nonhoff – M. Reisigl (Hrsg.): Diskursanalyse und Kritik. Wiesbaden 2019, 121-148, hier 122 f.

[11] Cixin Liu: Beyond Narcissism (s. Anm. 3), 30.

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