Geschrieben am 1. Oktober 2021 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2021

Markus Pohlmeyer über eine Cixin Liu-Graphic Novel

Das Meer der (Alb)Träume

„Meer der Träume“: diese Geschichte des chinesischen Science Fiction-Autors Cixin Liu war mir noch unbekannt. Und ließ mich nach der ersten Lektüre irritiert zurück. Nun gilt es, dieser Irritation nachzuspüren. Die dramatischen Bilder fangen gut eine Atmosphäre von Faszination, Entsetzen, Monumentalität, Katastrophe und Hoffnung ein. Wunderbar das 4-seitige Panorama, das nur als schön zu beschreiben wäre, wäre es nicht so fürchterlich in den Konsequenzen. 

Yan Dong stellt abstrakte Eisskulpturen her, was plötzlich die Aufmerksamkeit eines gigantischen Alien-Niedertemperaturkünstlers hervorruft, der ein äußerst radikales ästhetisches Programm vertritt: „Kunst ist das Einzige, was dieser und jeder anderen Welt Wert verleiht.“[1] „Und für mich, ein Wesen der dunklen Materie, sind die Elemente dieses Planeten leicht zu formen, sofern sie kalt sind.“[2] Also beginnt dieser fremdartige Künstler, der in Dong vorerst einen Kollegen sieht, alle Ozeane, alles Wasser der Erde als riesige Eiswürfel in einen Orbit zu transportieren. (Militärische Gegenaktionen scheitern spektakulär und fulminant.) Dort werden sie aufgereiht zu einer funkelnden Kette rhombenartiger Gebilde. Zu sehen ab S. 50 – der graphische Höhepunkt dieses Bandes. (Aber wehe, wenn der Blick sich auf den Vordergrund richten würde, der viele tragische Geschichten zu erzählen hätte.) 

Dong, zuerst schlichtweg überwältigt (später wütend): „Wir sollten es Meer der Träume nennen.“[3] Jenes Kunstwerk aber erweist sich als dramatisch ambivalent, denn es kündigt ein mehrfaches Ende unseres Planeten an, weil der Mega-Künstler es nicht zerstören will: die Blöcke würden nämlich in 20 Jahren in einen Kometenschauer übergehen. Ein Alien, das übrigens immer nur über Kunst reden möchte (und damit auch keinen echten Dialog mit Dong zulässt, weil vorher das einzige Thema festgelegt wurde): „Du kannst nicht aufhören, im Trivialen zu stochern! Das größte Kunstwerk aller Zeiten liegt direkt vor dir, und du weigerst dich, bedeutsame Gedanken zu äußern.“[4] Das fremde Wesen hat kein Gespür für die Überlebensangst der Menschheit; seine Bühne ist der Kosmos: „Ich habe Sterne vernichtet für meine Kunst!“[5] In der Folge Dürre, Wasserknappheit und verzweifelte Menschen, denen es aber gelingen wird, mit einer Raumflotte das kosmische Kunstwerk zu schmelzen. (Die Raumkapseln sehen ein wenig nach 2001 aus.) Dong: „Wenn wir immer zusammenarbeiten würden, wäre nichts unmöglich.“[6]

Seiner Heimat entflohen, die im Nichts liege,[7] sucht der Niedertemperaturkünstler in einem sinnleeren Universum manisch nach einem Sinn, durch die Produktion von Kunst. Doch sein transhumaner Ansatz entzieht sich menschlichem Verstehen und ruiniert geradezu unsere Welt, indem sie zu Baumaterial degradiert wird. „Nur Kälte ist ewig. Die Schönheit der Kälte ist die einzige Schönheit, die Bestand hat.“[8] Was wäre aber Kunst ohne Rezipienten und Dialog? Dongs Einwände gelten nicht: „Eine arme Kreatur, die von leeren Ozeanen, Tod, ökologischem Kollaps und anderen Trivialitäten spricht, statt von Kunst. Das ist kein Künstler.“[9] Diese gewaltbesetzte Einseitigkeit macht jedoch das Alien zu einem Fanatiker oder Ideologen. Und nach meinem Dafürhalten keineswegs zu einem Künstler. Wechselseitige Nichtverstehbarkeit; ein Kunstwerk, das nicht versöhnt oder Brücken schlägt, sondern trennt; auf der einen Seite: die vor dem Nichts fliehen, auf der anderen: die um ihre Existenz bangen. Was macht nur das Universum aus uns allen?

Am Ende – es regnet, es schneit wieder – findet Dong einen Eisblock. Spontan macht er sich ans Werk, mit seinen primitiven menschlichen Werkzeugen, während sein junger Sohn lachend die Arme in die Höhe reckt. Wird er seinen Sohn porträtieren? Um ein Künstler zu sein, muss Dong nicht die Erde vernichten. „Meine Kunst ist meine Freizeit … Ohne Überleben, ohne Leben gibt es keine Kunst.“[10] Und ganz banal: die Eisblöcke werden einst wieder geschmolzen sein, nichts ist ewig. Aber dieser kostbare Augenblick mit dem fröhlichen Sohn in einer Winterlandschaft … 

Und ist nicht Wasser selbst das Wunder? Flüssig, gefroren und gasförmig. Was wäre unser Planet ohne dieses? Das „Meer der Träume“: eine lesenswerte, eine sehenswerte, eine bedenkenswerte Geschichte – selbst ein kleines Kunstwerk.


[1] Alle direkten und indirekten Zitate aus: Cixin Liu: Meer der Träume, Textadaption: R. Santullo, Zeichnungen v. Jok u.a., SPLITTER, Bielefeld 2021, 8. Schrifttyp von mir geändert.

[2] Meer der Träume (s. Anm. 1), S. 27.

[3] Meer der Träume (s. Anm. 1), 57.

[4] Meer der Träume (s. Anm. 1), 59.

[5] Meer der Träume (s. Anm. 1), 43.

[6] Meer der Träume (s. Anm. 1), 81.

[7] Siehe Meer der Träume (s. Anm. 1), 26.

[8] Meer der Träume (s. Anm. 1), 28.

[9] Meer der Träume (s. Anm. 1), 46.

[10] Meer der Träume (s. Anm. 1), 44.

Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine weit über hundert Texte bei uns hier.
Zum Beispiel über zwei weitere Graphic Novels nach Cixin Liu bei uns.

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